aus Süddeutsche.de, 20. November 2013 15:10
Digitales Morgen: Debatte zur Digitalisierung
Wie die Digitalisierung die Wissenschaft verändert
Die Digitalisierung krempelt den Umgang mit neuen
wissenschaftlichen Erkenntnissen völlig um. Das reicht vom eLearning bis
zu der Art und Weise, wie Neues entdeckt und veröffentlicht wird. An
Diskussionen, die früher unter Fachleuten stattfanden, nehmen nun große
Teile der Gesellschaft teil. Ein Beitrag in der Artikelreihe "Digitales
Morgen" von Süddeutsche.de und Vocer.
Von Leif Kramp
Wie war Wissenschaft bloß ohne Digitalisierung
vorstellbar? Nicht nur, dass eLearning und eLectures helfen, die
unablässig steigenden Studierendenzahlen zu bewältigen und überfüllte
Hörsäle zu vermeiden. Die Erkenntnisse von etlichen Forschergenerationen
sind heute mit wenigen Klicks im Volltext durchsuchbar. Die Erstellung
wissenschaftlicher Publikationen könnte dank digitaler Textverarbeitung
und Online-Recherche komfortabler nicht sein.
Mithilfe digitaler Speicher- und Analyseinstrumente können
komplexe Datenbestände geordnet und verstanden werden. Und letztlich
haben es erst digitale Kommunikationstechnologien ermöglicht, den
Anspruch global vernetzten Forschens umzusetzen. Die digitale Wende hat
die Voraussetzungen wissenschaftlicher Produktion und Kommunikation von
Grund auf umgekrempelt - mit gravierenden Folgen.
Die Digitalisierung verändert unser Leben - wie, zeigt die neue,
Das Wissenschaftsjahr 2014 wird das Thema "Digitale Gesellschaft"
aufgreifen, eine Widmung zur rechten Zeit: Längst sind wesentliche
Felder von Gesellschaft und Kultur mit einer tiefgreifenden
Digitalisierung konfrontiert. Entsprechend beschäftigen sich bei weitem
nicht nur die Technikwissenschaften mit dem digitalen Wandel.
Auch die Kommunikations- und Medienwissenschaft, die
Wirtschaftswissenschaften, die Pädagogik und die Psychologie, die
Politikwissenschaft, die Soziologie oder auch die Religionswissenschaft
stehen unter dem nachhaltigen Eindruck, dass die Digitalisierung ihre
Forschungsgegenstände, aber auch ihre eigenen Konventionen, mit denen
Forschung betrieben wird, verändert.
Das digitale Paradigma generiert aber nicht etwa binäre, sondern
denkbar vielgestaltige Perspektiven auf traditionsreiche und neue
Forschungsfelder und stimuliert besonders mit Blick auf grundlegende
Fragen wie der kommunikativen Konstruktion von Gesellschaft und Kultur
im digitalen Wandel interdisziplinäre Forschungsanstrengungen. Die
systematische Untersuchung der Digitalisierung, seiner Kräfte,
Mechanismen und Folgen, klettert auf der Forschungsagenda unablässig
nach oben.
20 Jahre nach dem Beginn des Siegeszugs des WWW liegt ein
Großteil seiner Anfänge bereits im Dunkeln. Die Wissenschaft muss nun
mühsam das rekonstruieren, was bis vor nicht allzu langer Zeit noch
Alltag war - eine medienarchäologische Aufgabe. Doch das
wissenschaftliche Selbstverständnis orientiert sich in manchen
Disziplinen immer noch an der McLuhan'schen "Gutenberg-Galaxis":
fixiert auf Schrift und Papier. Das Digitale wird hier noch als
risikobehaftete Entmaterialisierung durch fehleranfällige Schaltkreise
verstanden und mit Skepsis bedacht.
Nur langsam weicht der Zweifel und entwickelt sich eine neue
Forschungskultur unter dem digitalen Imperativ, auch in den
Geisteswissenschaften, deren fortschrittsgetriebenen Vertreter sich zur
Abgrenzung jedoch gleich eine eigene Subdisziplin schufen: die "Digital
Humanities", wo zum Beispiel mit innovativer Kartografietechnik
nachvollzogen wird, wie sich Homer den berühmten wie umfangreichen
Schiffskatalog für sein Mammutwerk "Ilias" durch eine mentale Reiseroute
hat merken können. Der kulturelle Fundus wird digitalisiert in seiner
Vielschichtigkeit quantitativ erschließbar und visualisierbar und
liefert dadurch ungewohnte Impulse für die Forschung.
Digitale Öffnung
Die digitale Wende ist aber nicht allein eine empirische, sondern
betrifft auch das Publikationswesen und damit die Anker des
wissenschaftlichen Diskurses: Entscheidend ist hierbei weniger, dass das
Gros der Fachbücher und Fachzeitschriften heute auch elektronisch
verbreitet wird. Vielmehr verändert sich Wissenschaft als Funktions- und
Organisationssystem mit der Aufgabe, Forschungserkenntnisse nicht nur
im binnenwissenschaftlichen Diskurs zu kommunizieren, sondern auch frei
(Stichwort: Open Access & Knowledge), allgemeinverständlich und auf
neuen Wegen zu vermitteln.
Universitäre Forschung ist zunehmend auf Drittmittelförderung
angewiesen, wodurch auch die Anforderungen an die öffentliche
Visibilität von Forschung, ergo Wissenschaftskommunikation wachsen. Vor
knapp 30 Jahren hat der Wissenschaftstheoretiker Helmut F. Spinner zur
Frage der gesellschaftlichen Verantwortung des Forschers noch dem
Journalisten die Aufgabe des Dolmetschers zugesprochen, wohingegen der
Wissenschaftler in Fachkreisen kommuniziere.
Die Gelehrten werden öffentlich
Heute sind es nicht selten die Gelehrten selbst, die Gefallen
daran finden, über ihre Forschungsarbeit zu bloggen, zu twittern und in
sozialen Netzwerken zu posten, zu kommentieren und zu 'liken'.
Was dies für die Wahrnehmung von Wissenschaft bedeutet und ob die
Verlagerung wissenschaftlicher Debatten in die sozialen Medien auch
Rückwirkungen auf die Gesellschaft
und das Wissenschaftssystem hat, bleibt abzuwarten. Die zu beobachtende
Eigendynamik in Wissenschaftskreisen aber geht weit über eine reine
Selbstdarstellung hinaus, sie rückt die Diskussion über
Forschungsangelegenheiten in Richtung Zentrum der Gesellschaften: In der
vordigitalen Zeit zementierte Diskursräume werden durch digitale
Kommunikationstechnologien in fachlicher als auch in geographischer
Dimension überwunden.
Eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei immer aufwendigeren
Forschungsvorhaben ist heute mehr Pflicht als Kür und die
Begleitkommunikation für eine Reihe von Forschern eine essentielle
Gelegenheit, die Welt an den persönlichen Forschungsbemühungen teilhaben
zu lassen.
Einige verstehen sich gar als "Hard Bloggin' Scientist"
(www.hardbloggingscientists.de), die - dem gemeinsamen Manifest der
Initiative entnommen - die digitale Sphäre zum kritischen Austausch von
Gedanken, Ideen und Ansätzen nutzen und es sich programmatisch zum Ziel
gesetzt haben, dies in aller Regelmäßigkeit zu tun.
So wandelt sich die Vorstellung des unnahbaren, in sich gekehrten
Intellektuellen zum Bild eines kommunikativen Denkers, der seine
Forschung nicht realitätsfern betreibt, sondern für den
Erkenntnisfortschritt im Dienste und im Dialog mit der Allgemeinheit.
Licht und Schatten
Der Dialog wird auch extern eingefordert: Die Plagiatsskandale
der jüngeren Vergangenheit haben zwar gezeigt, dass das
Copy-and-Paste-Verfahren keine Erfindung des digitalen Zeitalters ist.
Sie liefern aber einen Beleg dafür, mit welch vermeintlicher
Leichtigkeit wissenschaftliche Arbeiten außerwissenschaftlich
falsifizierbar geworden sind, siehe Internetportale wie Vronigplag oder
Politplag. Das wissenschaftliche Qualitätsmanagement steht unter
erhöhtem Rechtfertigungsdruck.
Ob die Wissenschaft zur Überwachung ihrer Integrität solche vermeintlichen Watchdogs braucht, ist letztlich eine Frage, die der Digitalisierung
entsprungen ist: Erst sie lieferte Instrumente und Plattformen, damit
potenziell Jedermann kollaborativ und öffentlichkeitswirksam
Wissenschaftskritik üben kann. In der Lehre wird Plagiatssoftware dabei
schon seit Jahren eingesetzt, um studentische Haus- und
Abschlussarbeiten zu kontrollieren; denn hier zeigten sich schon früh
die Schattenseiten: Seminararbeiten gleichen bisweilen Patchwork-Texten,
zusammengestellt aus einem bunten Potpourri elektronisch verfügbarer
Publikationen. Schwererwiegend noch ist die Verbreitung digitaler
Scheuklappen, die dem Irrglauben entwachsen, alles Wesentliche sei
online verfügbar und der Gang in die Bibliothek müßig - keine einfache
Folge von Bequemlichkeit, sondern womöglich auch die Nebenwirkung einer
sich erst konstituierenden digitalen Wissenskultur.So stehen im digitalen Morgen die Standards wissenschaftlicher
Forschung mehr denn je auf dem Prüfstand, auch weil sie durch die
Digitalisierung mehr denn je gefährdet und neu verhandelt werden. Das
Digitale ist für die Wissenschaft Segen und Fluch zugleich: Im Netz
werden nicht nur politische und akademische Schicksale um die Frage
eines vermeintlich unrechtmäßigen Doktortitels entschieden. Digitale
Informationstechnik präformiert auch immer stärker die Forschungs- und
Kommunikationslogiken des Wissenschaftssystems. Solange dies eine
kritische Selbstvergewisserung anstößt und mit der Digitalisierung keine
Binarität im Denken und Handeln Einzug hält, kann die Wissenschaft von
den angestoßenen Transformationen nur profitieren.
Dr. Leif Kramp ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler
sowie Historiker und arbeitet als Forschungskoordinator am ZeMKI,
Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung der
Universität Bremen. Kramp ist zudem Mitglied des Herausgebergremiums von
VOCER.
(Post)Digitales Morgen - ein Debattenabend zur digitalen Gesellschaft
Süddeutsche.de und VOCER zu Gast an der Universität Hamburg am 5. Dezember 2013, 18.30 bis 20.30 Uhr
Vor ein paar Jahren stand an Rechenkraft in großen grauen Kisten
auf unseren Schreibtischen, was wir heute problemlos in unserer
Hosentasche mit uns herumtragen. In den vergangenen zwei Monaten haben
Süddeutsche.de und VOCER sich mit den Folgen dieses technologischen
Umbruchs für unsere Gesellschaft auseinander gesetzt. Die Autorinnen und
Autoren, begleitet von Animationsfilmen des VOCER Innovation Medialab,
beleuchteten dabei verschiedenste Bereiche vom Eigentum und Geld über
Wissenschaften bis hin zu Partnerschaften.
Zum Abschluss der gemeinsamen Reihe "Digitales Morgen"
wollen wir erneut in Hamburg debattieren: über die postdigitale
Gesellschaft, die Rahmenbedingungen einer wirklich digitalen Zukunft und
die Frage, wann der digitale Graben verschwindet.
Teilnehmer:
- Heike Scholz (Mobile-Zeitgeist.de; Expertin für mobile Technologien und Trends) zugesagt
- tbd (Jemand, der etwas sagen kann zur digitalen Gesellschaft und Netzpolitik)
- tbd (Jemand, der eher aus der Skeptikerecke kommt)
- Stefan Plöchinger (Moderation, Süddeutsche.de) zugesagt
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