aus NZZ, 23. 11. 2013
Vom Nachsterben
Der Tod des Anderen und der romantische Tod oder wie der Dichter Novalis seiner früh verstorbenen Verlobten folgte
Zwei Jahre nach ihrer Verlobung stirbt im März
1797 Novalis' Verlobte Sophie von Kühn an der Schwindsucht. Er
beschliesst, ihr im Tod nachzufolgen, erwägt auch einen Suizid, stirbt
aber vier Jahre später ebenfalls an Schwindsucht.
von Ludger Lütkehaus
Die abendländische Philosophie von
Platon und Epikur über Montaigne und Schopenhauer bis zu Heidegger hat
sich als «Einübung in den Tod», als «Sterbenlernen» verstanden. Ihr Ziel
war die Überwindung der Todesfurcht, Gelassenheit ihr eindrucksvolles
Versprechen. Aber sie blieb zumeist auf den «Eigentod», den
individuellen, ganz persönlichen Tod des Ichs, beschränkt. In einem
Ausmass, das von den Philosophen - nicht den Poeten, die immer schon
todesrealistischer waren - erst in der Auseinandersetzung mit der
Todesphilosophie Martin Heideggers mit dem nötigen Nachdruck bemerkt
worden ist, hat der «Eigentod» die Todesphilosophie bestimmt. Und noch
im Begriff des «Fremdtodes», der dem «Eigentod» gegenübergestellt wurde,
blieb der Tod der Anderen von Grund auf fremd. Dagegen hat vor allem
die Todesphilosophie von Emmanuel Levinas gelehrt: «Der Tod des Anderen
ist der erste Tod.» Das gilt in jedem Sinn, ontologisch, chronologisch,
existenziell. Die Erfahrung des Todes, die für den Sterbenden alle
weitere Erfahrung unmöglich macht, ist primär die des Todes des Anderen.
Liebes- und Sterbensgeschichte
Der Eine stirbt den Tod des
Anderen freilich nicht mit - er überlebt ihn auch. Leben ist sterblich,
aber mehr noch ist es Überleben. Und dieses Überleben ist im Widerspruch
zu den üblichen Einschätzungen kein Vorzug. Weit schlimmer, als selber
zu sterben, ist es, den Sarg des geliebten Menschen im offenen Grab
verschwinden oder neuerdings mit dem Fahrstuhl der Krematorien in den
Keller der Endentsorgung abfahren zu sehen. Auf sich selber kann das Ich
zur Not gut verzichten - Friedrich Nietzsche hat das unübertrefflich
formuliert: «Ich» - ich als Toter - «Ich würde mich nicht vermissen.»
«Dich», den Toten, vermisse ich wie nichts sonst. Das gilt am meisten
für die Liebenden: Der Tod ist die Trennung der Liebenden. Ihre heillose
Frage, wer das Privileg hat, als Erster zu gehen, wird immer
zuungunsten der Überlebenden beantwortet.
Das zeigt paradigmatisch jene
Liebes-, Lebens- und Sterbensgeschichte, die den Vorrang illustriert,
den der Tod des Anderen vor dem Eigentod hat, die zugleich aber als die
romantischste, versöhnlichste aller romantischen Liebesgeschichten gilt:
diejenige, die Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, mit seiner
zehn Jahre jüngeren Braut Sophie von Kühn verbunden hat. Es ist eine
Geschichte vom Lieben und vom Sterben und vor allem vom «Nachsterben»,
die zur Wiedervereinigung des durch den Tod getrennten Paares führen
soll, aber am Ende andere Wege geht. Die ungelöste, vielleicht unlösbare
Bindung an die Geliebte entbindet einen Toten- und Todeskultus des
Überlebenden, der die Eine nicht wirklich sterben und den zum
«Nachsterben» entschlossenen Überlebenden nicht wirklich leben lassen
kann. Im November 1794 hatte der 22-jährige Novalis die seinerzeit erst
zwölfjährige Sophie von Kühn kennengelernt und sich nach einer nur
viertelstündigen ersten Begegnung gleich «sterblich» in sie verliebt.
Zärtlich nannte er sie sein «Söphchen», die Liebe zu ihr mit schönem
Doppelsinn seine «Philo-Sophie», die Liebe zu Sophie, gleichbedeutend
mit der Liebe zur Weisheit.
Die Liebe wurde erwidert. Nach nur
vier Monaten verlobte sich das Paar - zunächst heimlich, aber dann auch
familienöffentlich. Allerdings liebte Sophie etwas distanzierter.
Novalis notiert noch 1796 in seinem Tagebuch: «Sie will sich nicht durch
meine Liebe genieren lassen. Meine Liebe drückt sie oft. Sie ist kalt
durchgehends.» Bei aller Liebe ist Novalis von ihrer Idealisierung
zunächst weit entfernt. Die Andere wird als Andere wahrgenommen. «Sie
will nichts seyn. Sie ist etwas.»
Eben deswegen «glaubt sie an kein
künftiges Leben, aber an die Seelenwanderung». Dann allerdings, nur ein
halbes Jahr nach der Verlobung, bricht Sophies tödliche Krankheit aus:
Leberentzündung und Lungentuberkulose. Dreimal wird Sophie ohne Narkose
operiert. Auf dem Hintergrund einer todesgeneigten, sterbensbegierigen
Romantik darf man die Krankheit bei ihrem alten Namen nennen: Es ist die
Schwindsucht, die Sucht zu schwinden. Sophie freilich verbirgt ihre
Wundmale, anders als die stigmatisierten Frauen der mystischen und
romantischen Tradition, die mit ihrem nur zu gerne vergossenen Blut als
Himmelsbräute den Weg der Nachfolge Christi beschreiten. Der Bräutigam,
der sie inzwischen buchstäblich «anbetet», liebt sie «ihrer Krankheit
wegen fast mehr». Leiden und Mitleiden, Krankheit und drohender Tod
zeigen sich als die Mächte der Bindung und zugleich der Stilisierung der
Braut zu einer «der edelsten Gestalten, die je auf Erden gewesen sind
und sein werden».
Dieses Romantisieren des Anderen
unter der Todesdrohung steigert das Gefühl für das ganze Ausmass der
drohenden Katastrophe. Zugleich bereitet es die Rettung durch Erhöhung
des Bildes, durch die Ikonisierung der Braut bei gleichzeitigem
Verblassen der realen Gestalt vor. Doch noch bestimmt den Bräutigam die
Hoffnung. Der «gute Gott» der Liebenden gibt ihm den Glauben an Sophies
Genesung. Aber die Hoffnung wird enttäuscht, ohne dass Novalis deswegen
mit Gott rechtete. Liebe und Klage hängen zusammen, aber nicht Liebe und
Anklage. Mit dem Schwinden der Hoffnung stürzt er jedoch in
Verzweiflung, Lebensekel, Lebensüberdruss. Alles ist für ihn nun «tot,
wüste, taub», der Schlaf als Zwillingsbruder des Todes die einzige
Wohltat. Nach anderthalbjähriger schmerzenreicher Todeskrankheit stirbt
Sophie am 19. März 1797.
Der Bräutigam freilich ist bei
Sophies Tod nicht anwesend: «Es war über meine Kräfte», bekennt er, «die
entsetzlichen Kämpfe der unterliegenden blühenden Jugend, die
fürchterlichen Beängstigungen des himmlischen Geschöpfs ohnmächtig mit
anzusehen.» Etwas weniger Liebe und Mitleiden - und er hätte bei Sophie
bleiben können. Idealisierung und Ikonisierung steigern sich in der
Folge zur Apotheose, einem neuen Gottesdienst der Liebe, als wäre die
nun verklärte Braut seit je so fromm, so stille gewesen, dass sie auf
der irdischen Welt nicht am richtigen Platze war. Die Liebe soll in
einer «himmlischen Gestalt» gründen, deren Bild sich ihrerseits der
Liebe verdankt. Die erste Biografie Hardenbergs schreibt: «Dieses
liebenswürdige Geschöpf ward seine Madonna.»
Desto quälender aber das
Weiterleben. Als Novalis acht Tage nach dem Verlassen Sophies die
entsetzlichen Worte der Todesnachricht erhält, da stürzt die Gewissheit
lebenslanger Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit auf ihn ein, deren
Last nur mit dem eigenen Tod enden kann. Die Trauer ist grenzenlos wie
die Liebe. Der Tod der untrennbar mit seinem Ich amalgamierten Braut ist
der vollständige Selbst- und Weltverlust. «Mit ihr bin ich von allem
getrennt, denn ich selbst habe mich fast nicht mehr.»
Der zweite Tod
Die Frühromantik, die sich wie
keine andere geistesgeschichtliche Epoche auf das Ich, das Selbst
gestellt hat, erlebt ihr Korrektiv in einer rigorosen Erfahrung
unbedingter Koexistenz. Der Tod der Anderen ist so sehr der eigentliche,
der wahre Tod, dass der vermeintlich erste Tod: der des Ich, zum
sekundären wird. Das eigene Leben ist zum Überleben geworden, das der
Überlebende nicht mehr leben kann, ja, gar nicht mehr leben will.
Folgerichtig bestimmen Novalis Todesphantasien, Todessehnsüchte. «Sie
ist gestorben - so sterbe ich auch - die Welt ist öde - leer.»
Die Hoffnung auf jenseitige
Wiedervereinigung könnte auch durch eine Erscheinung, eine
Selbstoffenbarung Sophiens gestärkt werden. Aber da sich diese nicht
oder nur in dichterischer Form ereignet, fasst Novalis einen
«Entschluss», wie er entschlossen sagt, mit dem Tod und Verlust der
Geliebten zur himmlischen Wiedervereinigung führen sollen. Dieser
«Entschluss» wird in den Tagebüchern geradezu obsessiv festgehalten. Er
will der Geliebten «nachsterben». Die Liebe war der Anfang - sie wird
auch das Ende seines Lebens sein. Der nachzusterbende, der zweite Tod
soll indes den ersten Tod überwinden, das Nachsterben soll zur seit je
herbeigesehnten Brautnacht des mystisch getrauten Paares führen, die
«Hymnen an die Nacht» zu Hymnen auf eine süssere Hochzeitsnacht.
Innerhalb eines Jahres, so Novalis' Gelübde, will er der Geliebten auf
dem Weg ins Himmelreich des jenseitigen Lebens folgen.
Wie dieses «Nachsterben» sich
vollziehen soll, bleibt allerdings offen. Es könnte sich ereignen als
Prozess des einverständigen Siechtums, des gebrochenen Lebenswillens,
einer Krankheit zum Tod, wie es dann am Ende tatsächlich der Fall ist.
Mehr noch aber spielt der aktive «Entschluss, freiwilligen Abschied zu
nehmen» und aus dem Leben zu scheiden, eine kaum verhohlene Rolle. In Novalis' Tagebuch melden sich
zwar familiäre Bedenken: «Meine Mutter, Vater und die Methode machen mir
noch zu schaffen . . . Der Entschluss erhielt aber neues Leben -
neue Festigkeit.» Das Tagebuch wird schon suizidal konkret: «Heute früh
ein ernsthaftes Gespräch über den Selbstmord mit Langermann», einem der
behandelnden Ärzte Sophies. «Der Entschluss stand fest. Der Arzt sprach
mit mir heute über die Schwierigkeit der Untersuchung, ob jemand an
Pflanzengiften gestorben sei.» Es droht also auch kein Nachweis des
tödlichen Gifts. Das christliche Verdikt des «Selbstmords» spricht
allerdings gegen das aktive suizidale «Nachsterben». Und der Gedanke an
die Eltern und Geschwister bedrückt die Seele. Aber sie werden ihn schon
vermissen lernen.
Zur Bekräftigung seines
Entschlusses zum «Nachsterben» sucht Novalis immer wieder das Grab der
Geliebten auf, das er mit Blumen schmückt und an dem er zu der nun
vollständig Idealisierten, Sakralisierten unablässig betet. Der Friedhof
wird zum Wohnort, zugleich zur Stätte der Heiligung, zum Pilgerort und
zum mystischen Ort. Und wenn Novalis nicht am Grabe seinen
Totengottesdienst feiert, inszeniert er einen im buchstäblichen, nicht
perversen Sinn «nekrophilen» Totenkult, indem er die Lieblingskleider
der Geliebten auf ihrem Bett so arrangiert, als liege sie selber noch
dort.
Gewöhnung an den Tod
Nun ereignet sich auch Sterbens-,
Nachsterbenswidriges. Selbst gegen die Übermacht der Toten fordert das
weitergehende Leben des Überlebenden sein Recht. Das «Journal» wird zum
Dokument seines Schwankens zwischen der Bekräftigung des «Entschlusses»
zum «Nachsterben» und Selbsterhaltungsimpulsen. Novalis belauert sich
selber voller Argwohn. Peinlich genau registriert er den Pegelstand
seiner Trauer. Er weint nicht mehr. Seine «Versteinerung» geht schnellen
Schrittes. Er erlebt eine Art von posttraumatischer Starre, die das
Leben stillstellt, es gefriert. Dann kehren seine Lebensgeister wieder,
zumal die erotischen, ja, unverhohlen die sexuellen. Das
ausserordentlich freimütige Journal wird zum «journal intime». Immer
wieder erlebt er, der sich schon früh in seinen sinnlichen Regungen und
Phantasien ungeduldig nach «Brautnacht» gesehnt hatte, «etwas weit
getriebene» Momente der «Lüsternheit».
Wenn er sich trotzdem immer mehr
an den Tod Sophies gewöhnt, so stirbt sie gleichsam noch einmal. Der Tod
des Anderen ist nun wieder der sekundäre Tod. Gewöhnung ist das
Lebens-, das Überlebensmittel des Überlebenden. Und wie das Gefühl zeigt
auch der Verstand die Spuren der Zeit. Er «beräsonirt» den schwankenden
«Entschluss». Reflexion ist das Vehikel der Relativierung. Als Novalis
den «Entschluss» doch wieder bekräftigt, ist er zwar sichtlich
erleichtert. Aber das hindert nicht, dass er bereits 1798 ein neues
Verlöbnis mit der reiferen Julie von Charpentier eingeht.
Die Treue hält er der verklärten
Sophie literarisch: mit den «Hymnen an die Nacht» und der «Blauen Blume»
des «Ofterdingen»-Romans, der die Poesie auf die Liebe gründet. Aber
man darf auch die Konsequenz des realen Endes nicht unterschlagen. Denn
als Novalis selber vier Jahre nach Sophies Tod stirbt, ist es wie eine
Erneuerung des Todes-Entschlusses zum Nachsterben, wie eine letzte Feier
des Todeskultes, dass Novalis genau in dem Moment stirbt, da die Liebe
zu Julie zur Feier einer neuen Brautnacht zu führen droht. In diesem
Sinn folgt er der ersten Braut doch nach. Nachfolge auch in der
Todesursache: Es ist die Schwindsucht, an der er sich ansteckt und wie
Sophie stirbt: die Sehnsucht, nach dem Tod der Braut auch selber zu
schwinden. Und diese Sehnsucht wird erfüllt.
Die Liebes-, Lebens- und
Sterbensgeschichte dieses romantischen Paares zeigt so entgegen den
Verkürzungen einer auf den «Eigentod» fixierten abendländischen
Todes-Philosophie in der Tat, wie sehr Sterben und Tod vorab die des
Anderen, der Anderen sind.
Die Verwandlung des Unausdenklichen
Der Tod des Anderen ist der erste
Tod, Leben als Überleben das schwere Geschick, das den Hinterbliebenen
bleibt. Deswegen der romantische Versuch, erst dem direkten Erleben des
Sterbens der Braut, dann durch das Nachsterben der schneidenden
Dissonanz des Sterbens der Einen und des Überlebens des Anderen zu
entgehen. Deswegen der Versuch, mit der Idealisierung, der Ikonisierung
der Toten einen Totenkult zu begründen, der den Schmerz des
unvermeidlichen Abschieds in die Feier eines neuen Gottesdienstes, eines
Göttinnendienstes, überführen soll. Aber die Überlebenden sind und
bleiben Andere als die Toten. Sie entgehen vor allem nicht der
fundamentalsten Form des Sterbens: der allmächtigen Zeit, die zwar keine
Wunden heilen, nur Narben bilden kann, aber in Gewöhnung oder auch in
eine neue Liebe verwandelt, was das Unausdenkliche war.
Nota.
Ja einmal muss es doch gesagt werden: Sophies Tod hat ihm auch den Verstand gebrochen. Seine wahre Berufung war die Philosophie, aber damit war nun Schluss; er hat nur noch gesponnen. Seine Dichtung, und vor allem den Ofterdingen, schätze ich gar nicht, außer vielleicht die Hymnen. Aber ein scharfsichtiger Philosoph ist an ihm verlorengegangen.
JE