aus Süddeutsche.de, 25. 9. 2013
Im Spiegelkabinett
"Wie wurde ich zu der Person, die ich bin?"
Von Christian Weber
In der
Leopoldina-Jahresversammlung wagten sich Wissenschaftler an eine der
ganz großen Fragen. Ein Ergebnis: Wir ändern uns ständig, ob gewollt
oder nicht.
Christian Weber
Was ist der Mensch? Leider kein Stofftier. Sonst wäre die Antwort
ja einfach, wie der Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des
Mannheimer Zentralinstituts (ZI) für seelische Gesundheit demonstriert.
In einem Feldversuch hat er identische Teddybären an zwei Kinder
ausgegeben. Als der Wissenschaftler die Tiere nach einem Jahr wieder
begutachtete, hatten sich die beiden Bären extrem unterschiedlich
entwickelt. Gekämmt und gepflegt wirkte der eine, zerzaust und
mitgenommen der andere. "Offenbar haben hier Umweltfaktoren gewirkt",
kommentiert Meyer-Lindenberglakonisch.
Ein guter Gag, aber noch keine befriedigende Antwort auf die
überaus große Frage, die sich die Leopoldina, die Nationale Akademie der
Wissenschaften, zu ihrer Jahresversammlung am vergangenen Wochenende in
Halle vorgenommen hatte: "Wie wurde ich zu der Person, die ich bin?"
"Erinnerungen sind nur solange sicher, wie wir uns nicht an sie erinnern"
Klar war nur eines von Anfang an: dass die klassische
Nature-or-Nurture-Kontroverse endgültig zu den Akten gelegt ist. Die
Idee von der DNA als Software des Lebens ist nurmehr eine schlechte
Metapher. Gene legen nicht stur fest, ob man in seinem Leben an
Depression erkranken oder zum überdurchschnittlich häufigen Verüben von
Banküberfällen neigen wird. Genauso wenig aber ist der neugeborene
Mensch ein unbeschriebenes Blatt Papier, bereit für alle Texte der Welt.
Heute weiß man, dass Geist und Gehirn, Genom und Gesellschaft in
komplexer Weise wechselwirken und dabei immer neue Fragen aufwerfen.
"Es sind tiefe Fragen", warnte der Biopsychologe Onur Güntürkün
von der Universität Bochum in seinem Eröffnungsvortrag vor schnellen
Antworten und vermeintlich verlässlichen Intuitionen. Noch nicht mal der
Erfahrung des eigenen Körpers könne man sich gewiss sein. Er berichtete
von den bizarren neurowissenschaftlichen Experimenten der
vergangenen Jahre.
So gelang es ihm, einer Studentin eine künstliche Hand regelrecht
anzuhexen. Es genügte, einen ihrer Arme hinter einer Blende zu
verbergen und an dessen Stelle ein Gummimodell auf den Tisch zu legen.
Dann werden realer Arm und Modell synchron mit einem Pinsel
gestreichelt. Das Gehirn kombiniert die anfangs widersprüchlichen
Signale und erzeugt so ein Körpergefühl im Gummiarm. "Unser Körperschema
lässt sich so in 30 Sekunden ändern", sagte Güntürkün. "Wenn wir ein
Leben lang mit einem Schraubenzieher herumlaufen, würden wir den auch in
unser Körperbild integrieren."
Ähnlich wenig Verlass sei auf das autobiografische Gedächtnis,
das doch zum Kern menschlicher Identität gehört, sagte Güntürkün und
verwies auf die Experimente der US-Psychologin Elizabeth Loftus. Ihr
gelang es, Probanden frei erfundene biografische Anekdoten einzureden,
etwa, sie hätten sich als Kind in einem Supermarkt verirrt. Eine
Erinnerung ist eben nicht in Stein gemeißelt, sondern gleicht einem
Word-Dokument, dass sich jederzeit aufrufen und verändert im Computer
abspeichern lässt. "Es ist eine deprimierende Erkenntnis", sagte
Güntürkün. "Erinnerungen sind nur solange sicher, wie wir uns nicht an
sie erinnern." Denn auch man selber neige dazu, die eigenen
Gedächtnisinhalte aufzuhübschen.
So zeigt sich bereits in der Gedächtnisforschung, dass die
Leopoldina-Frage zu statisch ist. Sie unterstellt, dass eine Person
irgendwann fertig wäre. Ein Mensch aber entwickelt sich sein Leben lang
weiter, denn sein Gehirn ist plastisch.
Genauso wenig gibt es den Punkt null, an dem die Prägung eines
Menschen beginnt. Schließlich spiegeln sich bereits im Genom Millionen
Jahre Evolution, woran etwa der Paläogenetiker Svante Pääbo vom
Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie erinnerte. Er wies
darauf hin, dass nach neueren Analysen ein paar Prozent Neandertal-Gene
auch noch im modernen Menschen stecken.
Scheidungsbereitschaft in den Genen
Eher skeptisch verwahrte sich der Psychologe Eric Turkheimer von
der University of Virginia gegen die Annahme, dass das ererbte Genom
auch über komplexe Dinge wie Scheidungsbereitschaft oder politische
Ansichten bestimme. Humangenetiker hatten derartiges zeitweise
behauptet, doch die Datenlage gebe das einfach nicht her,
versicherte Turkheimer.
Mit eindrucksvollem Studienmaterial konnten hingegen mehrere
Forscher belegen, wie bereits im Mutterleib Weichen fürs Leben gestellt
werden. Andreas Plagemann von der Klinik für Geburtsmedizin der Berliner
Charité berichtete, wie sich Übergewicht, Bewegungsmangel und
Stoffwechselerkrankungen während der Schwangerschaft auf die Feten
auswirkt. Sie erreichen ein höheres Geburtsgewicht, das wiederum im
späteren Leben das Risiko für Übergewicht drastisch erhöht. Das ist mehr
als nur ein hypothetisches Risiko in einem Land wie Deutschland, in dem
nach Angaben Plagemanns mittlerweile die halbe Bevölkerung
übergewichtig ist. Besonders beunruhigend ist außerdem: Im Mäuseversuch
finden sich Hinweise, wonach etwa Schwangerschafts-Diabetes nicht nur
auf das Kind, sondern weiter an die Enkel vererbt wird.
Dies ist ein erneuter Beleg für die revolutionäre Erkenntnis, die
sich in der Biologie durchgesetzt hat: Offenbar gibt es entgegen den
Annahmen der klassischen Genetik Mechanismen, wie sich erworbene
Eigenschaften vererben können. Die sogenannte Epigenetik beschreibt, wie
Umweltfaktoren die Aktivität von Genen beeinflussen, auch über
Generationen hinweg.
Forschung in Krisengebieten
Diese Prozesse können auch durch die Erfahrung von extremem
Stress und Gewalt in Gang gesetzt werden, wie der Neuropsychologe Thomas
Elbert von der Universität Konstanz darlegte. Er erforscht mit seinem
Team im Labor und in den Krisengebieten der Welt, wie sich extreme
Gewalt in Gehirn, Geist und Genom niederschlägt. Elbert und andere
Forscher konnten nachweisen, dass Partnergewalt eine schwangere Frau
derart unter Stress setzt, dass über biochemische Prozesse auch das
ungeborene Kind dauerhaft geschädigt werden kann. Es wird eher zum
Borderliner werden, ängstlicher und hyperaktiver sein, anfällig für
Drogen; vermutlich ändert sich auch das Aktivitätsmuster seiner Gene.
Natürlich belasten traumatische Erfahrungen gerade auch Kinder
und Jugendliche. Elbert hat dies unter anderem bei Kindersoldaten in
Ruanda untersucht, die häufig die Ermordung ihrer Geschwister und Eltern
erlebt haben, oder diese selber töten mussten. Sie entwickeln ein, so
Elbert, "heißes Gedächtnis", bei dem sich ein assoziatives
Schreckens-Netzwerk ohne Zeit und Ort ins Gehirn einbrennt. Gespeichert
sind Bilder, Gerüche und Szenen, verbunden mit schrecklichen Emotionen,
die selbst durch kleine Anlässe immer wieder ausgelöst werden. Das ist
der Grund, wieso in manchen Ländern relevante Teile der Bevölkerung
psychotisch gestört in den Hütten sitzen und deren Schicksal den
Wiederaufbau der Gesellschaft behindert - eine dunkle Wechselwirkung
zwischen Geist und Gesellschaft.
Wieso erkranken Menschen, die in der Stadt geboren wurden, häufiger an Schizophrenie?
Doch sogar Elbert hat eine gute Botschaft zu verkünden, die mit
der vom Biopsychologen Güntürkün bedauerten Formbarkeit der Erinnerungen
zu tun hat. Wenn man im Rahmen einer speziellen Therapie die
traumatischen Erinnerungen wieder aufruft und durcharbeitet, lassen sich
diese recht erfolgreich wieder an die konkrete Situation rückbinden und
ins "kalte Gedächtnis" abspeichern. Das erlaubt vielen Traumatisierten,
wieder ein einigermaßen normales Leben zu führen. "Psychotherapie ist
so mächtig", sagte Elbert, "dass der Geist auch die Hardware ändert."
Psychisch krank werden Menschen aber natürlich nicht nur in
Extremsituationen. Darauf wies ZI-Direktor Andreas Meyer-Lindenberg hin,
der nicht nur an Stofftieren geforscht hat. Er betonte die Bedeutung
normaler sozialer Umweltfaktoren. So konnte er mit seinem Team in
bahnbrechenden Experimenten belegen, wie etwa die vergleichsweise banale
Angst um den sozialen Status bestimmte Gehirnregionen und Schaltkreise
unter Stress setzt, die mit dem Ausbruch von Depressionen in Verbindung
gebracht werden.
Überraschend, so Meyer-Lindenberg, sind auch zwei weitere,
mittlerweile gut belegte Phänomene: Menschen, die in der Stadt geboren
wurden, haben ein Leben lang ein um 300 Prozent erhöhtes Risiko, an
Schizophrenie zu erkranken - selbst dann, wenn sie später auf das Land
ziehen. Auch bei Migranten weltweit ist die Schizophrenierate um 200
Prozent erhöht. Liegt dies auch am Stress? An der Diskriminierung? Aber
wieso zeigen auch integrierte Migranten der zweiten Generation diese
Anfälligkeit? Im Rahmen der neuen Disziplin der Neurogeografie wollen
die ZI-Wissenschaftler nun der Frage nachgehen, welche Aspekte der Stadt
krank machen.
Dann wäre zumindest eine weitere Wechselwirkung im Rahmen der
Ausgangsfrage geklärt: Ja, die Gesellschaft kann aus Gründen, die man
finden wird, den Geist krank machen. Womit aber die größte Frage
überhaupt noch offen bleibt: Was genau ist denn überhaupt der Geist?
Wer ist Träger des Bewusstseins?
Wovon reden wir überhaupt, wenn wir ständig vom Geist reden?
Sollten wir nicht etwas bescheidener anfangen und erst mal überlegen,
wer denn diese Träger des Bewusstseins
sind? Dafür plädierte der Psychologe Wolfgang Prinz, Ex-Direktor am
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig:
"Was sind überhaupt Subjekte? Wie unterscheiden sich Subjekte von
Nicht-Subjekten? Und können Subjekte aus Wesen hervorgehen, die keine
Subjekte sind?"
Prinz skizzierte eine elegante Theorie, die davon ausgeht, dass
Subjektivität ebenso eine Naturtatsache wie eine soziale Tatsache sei.
Soll heißen: Schon das neugeborene Baby nimmt sich aus biologischen
Gründen irgendwie wahr, aber erst in der sozialen Interaktion mit den
anderen und deren Imitation erfährt es sich als soziales Subjekt und
konstituiert sein Ich: Das Selbst erscheint erst im Spiegel der anderen.
Solche Spiegelmechanismen seien mehr als eine Metapher, wie etwa die
Entdeckung der Spiegelneuronen belege oder die Tatsache, dass Menschen
am Konferenztisch die Körperhaltungen der anderen unwillkürlich
nachahmen. Solche Spiegelmechanismen konstituierten Gesellschaft, in der
letztlich auch Spiegelpolitik betrieben werde und sich jedes Subjekt
fragte: Darf ich mitspiegeln?
Alles klar?
Wie gut, dass die Veranstalter auch noch Michael Pauen eingeladen
hatten, der an der Berliner Humboldt-Universität die Philosophie des
Geistes lehrt und zu epistemischer Demut riet. Schon richtig, sagte er,
es gebe Riesenfortschritte im Labor, doch die würden immer nur neue
Probleme aufwerfen. Selbst bei den neuen Megaprojekten der Hirnforschung
wie etwa dem milliardenteuren Human Brain Project in Lausanne sei ein
Durchbruch nicht absehbar. Dort habe man gerade mal eine
Funktionseinheit des Rattengehirns im Computer simuliert, das
menschliche Gehirn besitze aber eine Million solcher Einheiten mit
jeweils der sechsfachen Zahl an Neuronen.
Es sei noch nicht einmal klar, was genau man erforschen wolle,
sagt Pauen. Immer noch seien alle Theorien des Bewusstseins primär
metaphorisch, ohne dass sich diese annäherten, empirisch seien sie nicht
zu fassen. Wir wüssten also gar nicht so genau, was wir meinen, wenn
wir von unserem Ich reden und fragen, wie wir zu diesem gekommen seien.
Das Fazit: "Wir wissen noch nicht, was wir nicht wissen."
Nota.
Das Wort Bewusstsein ist eine gedankliche Bananenschale. Nicht an sich; es ist dazu erst geworden. In der Umgangssprache bezeichnet es den Moment, in dem ich bei Bewusstsein bin. Bewusstes Sein, in jedermanns Alltagserfahrung kein immerwährender Zustand, sondern nur ein paar Momente im Tagesverlauf, unterbrochen von vielen langen Phasen, in denen ich mehr oder minder 'außer mir' bin.
Doch wenn ich's recht bedenke, bin ich gerade dann, wenn ich mir meiner bewusst werde, außer mir, denn dazu muss ich einen Standpunkt einnehmen, als wäre ich ein anderer, der 'mir' neugierig zuschaut: re-flektieren. 'Bei mir selbst' wäre ich dann eher, wenn ich mich achtlos gehen ließe, 'spontan', 'echt', 'authentisch'.
In der empirischen Psychologie mag es zweckmäßig sein, den Ausdruck im Sinne eines definierten Begriffs zu verwenden (sofern man die Definition im gegebenen Fall ausdrücklich mitliefert). Die empirische Psychologie hat es mit den wirklich unter uns lebenden Menschen zu tun, und eines von deren hervorstechenden Merkmalen ist in den modernen westlichen Gesellschaften ihr Auftreten als Person - gedacht als Träger eines freien Willens, der sie für sich selbst verantwortlich und zu Subjekten der Volkssouveränität macht: Auch das eine empirisch gesetzte, gesellschaftlich wirksame Fiktion, die im Deteil immer wieder in Spannung gerät zu dem tatsächlichen Walten intrinsischer und extrinsischer Motive, die dem 'Bewusstsein' notorisch verborgen bleiben und es auf Abwege leiten. In diesem kritischen, problematischen Sinn hat der Begriff oder besser: das Wort ein Platz auch in den Wissenschaften.
Problematisch wurde es durch den mystifizierenden Gebrauch, der bei Hegel und seiner Schule damit getrieben wurde. In deren System erscheint das Bewusstsein als eine Stufe in der Selbstentfaltung des Geistes, die, einmal errreicht, nicht wieder unterschritten werden darf. Bei Kant und den andern kritischen Philosophen, die sich mit den Wissensvermögen des Menschen beschäftigt hatten, war 'das Bewusstsein' nur gelegentlich und unthematisch vorgekommen, denn sie waren phänomenologisch orientiert und nicht metaphysisch systembauend. Phänomenal ist der Mensch und sind seine Vermögen eins, und nur von außen, in Hinblick auf die jeweiligen Leistungen, sind Unterscheidungen objektivierbar; so dass von 'dem Bewusstsein' wie einer Substanz zu reden im Sinne einer kritischen Philosophie irreführend und falsch ist. Denn eben das Ich, das transzendentale oder absolute, dem das Bewusstsein als seine auszeichnende Eigenschaft zugerechnet werden soll, ist selber nur der gedachte Träger dieser gedachten Vermögen und ist der empirischen Person so fern wie ein praller Fußball der Zahl Pi.
J.E.
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