Dienstag, 24. September 2013

Gesetzloses Genom.

aus Die Presse, Wien,24. 9. 2013

Ausgerechnet im Kern sind wir ganz wunderliche Chimären

Die Genetik bringt sich mit immer feineren Analysen um ihre Grundlagen: Jeder von uns hat nicht etwa ein ganz eigenes Genom, das ihm biologische Identität verleiht. Wir sind vielmehr Mischwesen: Vor allem zwischen Embryos/Föten und ihren Müttern gibt es regen Zell- bzw. Gentausch.

von Jürgen Langenbach

„Mrs. McK., eine 25-jährige Spenderin, gab ihr erstes Pint Blut im März. Bei der Bestimmung der Blutgruppe zeigte sich eine Mixtur aus A und 0.“ Das Mirakel meldete der National Blood Transfusion Service am 11.7.1953 im British Medical Journal, es war die erste Publikation über einen Menschen, der nicht nur seine eigenen Gene im Leib trug. Die Ärzte nannten ihn deshalb Chimäre – nach den mythischen Mischwesen der Antike –, und sie kamen dem Ursprung auf die Spur: Die Frau hatte einen Zwillingsbruder –, einen zweieiigen –, er starb drei Monate nach der Geburt. Aber lange vorher hatte er der Schwester etwas mitgegeben, die Blutgruppe 0 – bzw. die Gene dafür –, sie selbst hatte A. So etwas kante man zuvor nur bei Rindern, Mrs. McK. ging als exotischer Einzelfall in die Literatur ein.


Inzwischen zeigt sich, dass viele Menschen solche Exoten sind, vielleicht alle: „Chimärismus ist nicht so selten, wie man annahm“, berichtet Linda Randolph (Children's Hospital, Los Angeles) im American Journal of Medical Genetics (161A, S.1817): „Mit hoher Wahrscheinlich ist jede Frau, die schwanger war, eine Chimäre.“ Das ist der bisher letzte Umbruch in der Genetik, die noch kaum verdaut hat, dass die 95 Prozent des Genoms, die keine Proteine produzieren, doch kein Müll sind („junk“), und dass die Gene nicht das letzte Wort haben, sondern ihrerseits gesteuert werden, von Epigenetik (und damit oft von der Umwelt).

Fötus hilft Mutter bei Tumor und Infarkt

Aber lange gab es doch eine Gewissheit – jeder von uns hat sein spezifisches Genom, es gibt ihm biologische Identität –, nun erodiert sie. Man bemerkte es etwa, als man dem Rätsel nachging, dass Schwangerschaft irgendwie vor Krebs schützt. Wie? Dadurch, das der Embryo – bei Menschen ab der elften Woche: „Fötus“ – Stammzellen an die Mutter schickt. Deren Nachfolger finden sich dann im Gewebe der Brust – man sieht es bei männlichen Föten daran, dass Brustzellen der Mütter das männliche Y-Chromosom tragen –, und sie schützen, sofern sie nicht zu viele sind, die Frauen vor Krebs, auch nach der Schwangerschaft, Peter Geck (Tufts) hat es gezeigt (International Journal of Cancer, 133, S.835).

Aber es geht nicht nur um die Brust und Krebs: Erleidet eine Schwangere eine Herzattacke, eilen Stammzellen der Embryos zu Hilfe und bilden an der verletzten Stelle neue Herzmuskelzellen. Selbstlos ist das nicht, der Embryo will überleben, aber er schickt auch Zellen in andere Organe der Mütter, in Lunge etwa und Gehirn, das fiel Diana Bianci (Tufts) am Mäusen auf (Biology of Reproduction 87, S.42.). Die bleiben oft das Leben lang, aber manche – oder zumindest ihre DNA – werden an die nächsten ausgetragenen Kinder weitergegeben, so verzweigt es sich weiter, man hat schon DNA von Großmüttern, Onkeln und Tanten in Neugeborenen gefunden (PloS One, 6: e24101).

Wie die Zellen durch die Plazenta kommen, ist ein Rätsel. Wie sie im Spezialfall des Gehirns dessen Schranke überwinden, ist noch unklarer. Und was tun sie dann? Bisweilen Fürchterliches: Bei einem Leiden wächst eine Gehirnhälfte so stark, dass sie entfernt werden muss. Christopher Walsh (Boston), hat in diesen Zellen andere Genvarianten gefunden als in der gesunden Gehirnhälfte, vermutlich sind es körpereigene mit falschen Chromosomenverteilungen (Neuron 74, S.41). In anderen Fällen und Geweben kann so ein Genmosaik Segen bringen, es verbreitert etwa die Vielfalt von Immunzellen.

Probleme für die Gerichtsmedizin

Und manchmal könnte es einen Spezialzweig der Medizin verwirren, die Gerichtsmedizin (Int J Legal Med, 127, S.49): Innsbrucker Ärzte um Martin Parson haben Genome von Zellen von Menschen sequenziert, die via Knochenmarktransplantation ein neues Blutsystem erhielten (das alte, körpereigene wird zuvor zerstört). Diese Menschen sind erwartungsgemäß Chimären – ihr Blut hat die Gene des Spenders –, aber sie sind Chimären auch in vielen Geweben, die mit Blut nichts zu tun haben. Falls so ein Mensch Opfer einer Gewalttat würde und über DNA identifiziert werden müsste, was tun? Haare nehmen, in die dringen die fremden Gene nicht vor.

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