aus Die Presse, Wien, 18. 9. 2013
Je kleiner einer ist, desto klarer sieht er die (bewegte) Welt
Nicht jedes Auge nimmt Veränderungen der Umgebung gleich wahr: Bei kleinen Tieren wird die Zeit zerdehnt.
Eine Fliege mit der Hand zu
fangen, ist nicht einfach, meist weicht diese im letzten Moment aus.
Das liegt nicht nur an unserer Ungeschicklichkeit, sondern auch daran,
dass kleine Fliegenaugen die Welt anders sehen als große Menschenaugen;
sie tun es in vielerlei Hinsicht, auch in einer, die bisher kaum
beachtet wurde: Sie lösen beobachtete Bewegungen anders auf, sie
zerdehnen sie bzw. die Zeit, in der sie ablaufen.
Dass dem so ist, dass das Auge von den Lebensumständen moduliert
wird, hatte Hansjochem Autrum 1958 postuliert. Für ihn war auch klar,
dass beim Sehen die Körpergröße und die Stoffwechselrate mitspielen.
Letzteres bestätigte sich etwa bei Schmeißfliegen und Schwertfischen –
beide heizen das Gewebe um das Auge herum, um die zeitlich Auflösung zu
steigern – und bei manchen Fliegenmännchen, die im Auge einen
„Liebesfleck“ haben, sie erkennen damit Weibchen im Flug. Darum geht es
zum einen, zum anderen geht es um Räuber und Beute, auch lockendes
Futter und drohende Gefahr muss man früh sehen. Und zwar umso früher, je
kleiner man ist. Ein Elefant kann sich einen gemütlichen Blick leisten,
eine Maus kann es nicht.
Warum die Fliege uns entkommt
Ob das stimmt, wurde nun erstmals von Kevin Healy (Dublin) getestet.
Dieser zog als Maß die „Critical Flicker Fusion Frequency“ (CFF) herbei,
das ist die kleinste Frequenz, bei der ein Auge ein flackerndes Licht
als konstantes Licht wahrnimmt. Bei Erdhörnchen liegt sie bei 100 Hertz,
bei Sumpfohreulen bei 70 – das bringt den Erdhörnchen, die von
Sumpfohreulen gejagt werden, eine Chance. Und es bestätigt den
generellen Trend: je kleiner ein Tier (und je höher seine
Stoffwechselrate), desto zerdehnter der Film der Zeit in seinem Auge
(Animal Behavior, 15.9.). Das gilt auch für Menschen (CFF: 60) und
Fliegen (bis zu 400), deshalb fängt man sie so schwer mit der Hand.
Aber
man kann es lernen, vor allem als junger Mensch: Die CFF ist variabel,
bei Älteren sinkt sie, bei Ausnahmeathleten, etwa Autorennfahrern, geht
sie an die physiologische Grenze – noch rascher können diese nicht im
Kreis herumrasen, sie würden die Feinheiten der Straße nicht mehr sehen.
Und dann braucht es nicht nur rasche Augen, sondern auch ein Gehirn,
das die Datenflut verarbeiten kann. Aber das gelingt sogar Fliegen.
„Große Denker mögen sie nicht sein“, schließt Ko-Autor Graeme Ruxton
(St. Andrews), „aber gute Entscheidungen können sie sehr rasch treffen.“
jl
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