Das Internet als Medium der Bewusstseinserweiterung und als Medium der Bewusstseinstrübung.
Von Uwe Justus Wenzel
Das Internet weckt immer wieder Hoffnungen auf epochale menschheitsgeschichtliche Entwicklungsschritte. Die Hoffnungen werden freilich durch Sorgen gedämpft. – Am Ende bleiben Fragen.
Selbst gestandene Computerfreaks und geborene Internauten bekommen es allmählich mit der Angst zu tun: Wächst da nicht etwas über alle Köpfe? Wächst es nicht sogar durch die Köpfe und auch durch die Körper hindurch, auf denen die Köpfe sitzen? Oder anders gefragt: Zappeln wir, die wir auf benutzerfreundlichen Oberflächen zu surfen glauben, nicht längst wie Fische im Netz – im Netz der Netze?
Jaron Lanier, der einfallsreiche amerikanische Informatiker, Musiker und bildende Künstler, der Ende der achtziger Jahre den Begriff «virtuelle Realität» in Umlauf gebracht hat, ist ein – prominenter – Protagonist der digitalen Revolution. Gleichwohl hat er es für nötig befunden, in einem vor einigen Monaten publizierten Manifest seinen Zeitgenossen mahnend ins Gewissen zu rufen: «You are not a gadget.» Die Menschen sollen sich nicht zu Anhängseln einer weltumspannenden elektronischen Maschinerie herabwürdigen, sie sollen sich nicht ihrer Freiheit und Individualität begeben, wenn sie einloggen. Das ist womöglich leichter gesagt als getan oder unterlassen. Denn schliesslich nennt Lanier, was er als Bedrohung empfindet, wenig hoffnungsvoll «kybernetischen Totalitarismus» oder auch «digitalen Maoismus».
Ein profaner Prophet
Bereits Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat Marshall McLuhan (1911-1980), der profane Prophet und in vielem unübertroffene Diagnostiker des «Computerzeitalters», in den Blick genommen, was nicht nur Lanier heute zunehmend bedrängt. Er hat das Phänomen in nicht weniger drastischen Worten, aber doch weniger emotionsgeladen und analytisch scharfsichtiger beschrieben. Wir Menschen, so McLuhan, sind in unserem Verhältnis zu den neuen Medientechnologien unvermeidlich so etwas wie deren «Servomechanismus». Soll, frei übersetzt, heissen: Um uns ihrer zu bedienen, müssen wir ihnen dienen. Das freilich gilt im Rahmen der Analyse des kanadischen Kommunikationstheoretikers für alle Technologien: Eine jede, von der Axt bis zur Eisenbahn, vom Rad bis zum Fernsehen, prägt die Situation derer, die sie anwenden oder nutzen, in beträchtlichem Ausmass.
Ebendies ist auch der Sinn des zu Tode zitierten Diktums «the medium is the message»: Jedes Medium oder jede Technologie – McLuhan gebraucht die Ausdrücke wie annähernd deckungsgleiche Begriffe – bringe als «Botschaft» einen neuen Massstab, eine neue Geschwindigkeit und neue Muster in die «human affairs». Technologien bzw. Medien sind für McLuhan «extensions of man», sie erweitern den menschlichen Körper, verlängern dessen Glieder und Organe in die Welt hinein. Obgleich – oder auch: weil – das so ist, können wir über sie nicht – nicht absolut – frei verfügen. Derlei zu glauben, wäre eine Illusion. Wäre es umgekehrt nicht aber ebenso sehr eine Verkennung der Situation, wenn sich der Homo technicus von heute für unfrei – total unfrei – hielte?
Im Falle der neuen Technologien scheint die Sache vertrackt zu sein. In einem nämlich unterscheiden sie sich in McLuhans Perspektive von denjenigen vorangegangener Zeiten. Ältere seien «partial und fragmentarisch», die Technologien der elektronischen Medien hingegen – McLuhan hat neben Telefon und Television, neben Film und Funk durchaus schon die Computer vor Augen – seien «total und inklusiv». Das sind sie nicht nur, weil sie ältere Technologien überlagern und durchdringen, sondern auch und besonders deswegen, weil sich in ihnen das menschliche Nervensystem extrakorporal und transpersonal ausdehne und einem neuen, bis dato ungekannten «common sense» den Weg ebne. Wäre es nicht bloss der nächste logische Schritt, fragt sich McLuhan 1964 in Understanding Media, auch unser Bewusstsein in die «Computerwelt» zu transferieren und aus der Menschheitsfamilie ein einziges Bewusstsein, «a single consciousness», werden zu lassen?
Mit dieser – nur vage anvisierten – Form einer «Totalisierung» scheint für McLuhan, anders als für Lanier, ein Freiheitsmoment einherzugehen. Zumindest deutet er an, dass solch ein globales Bewusstsein «weder betäubt noch zerstreut» zu werden vermöchte von der Unterhaltungsindustrie und deren «narzisstischen Illusionen». Narziss, griechisch: Narkissos, der narkotisierte Jüngling, der sich in sein Spiegelbild verliebt, verkörpert für McLuhan das Verhältnis der Menschheit zu ihren medialen Selbsterweiterungen. Auch und gerade wenn das Zentralnervensystem ausgedehnt und damit «exponiert» wird, scheinen Betäubungen unvermeidlich, ja nötig zu sein – als Schutz vor Überreizung. Wie könnte da aber überhaupt ein klares, illusionsloses Selbstbewusstsein erlangt werden?
Ein geistlicher Geist
Der, von dem Marshall McLuhan sich offenbar hat inspirieren lassen, durfte immerhin auf göttlichen Beistand vertrauen. Der Jesuit, Philosoph und Naturwissenschafter Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) sah die gesamte kosmische Evolution, nicht nur die der Erde, im menschlichen Zentralorgan, im Gehirn, kulminieren: Die Einzelhirne schlössen sich, indem sie an denselben Problemen arbeiteten, zusammen und bildeten die «’graue Substanz’ der Menschheit». In einer «kollektiven Cerebralisation» konvergierten die Menschen zur Menschheit, deren intellektuelle Evolution sie dereinst – wer weiss – über die materielle Sphäre hinausheben werde. Dabei spiele, so Teilhard, «die erstaunliche Leistung der Elektronenautomaten» keine geringe Rolle. Computer werden dergestalt wie Gehirne zu Medien des – einen – Geistes, der im Verlaufe des Weltprozesses zu sich und zu Gott kommt: im «Punkt Omega».
Der angeblich zunehmenden geistigen Konzentration korrespondiert auf technologisch-materieller Seite einstweilen jedoch eine Dezentrierung, die Ausbreitung und netzartige Verknüpfung der «Elektronenautomaten». Teilhard selbst sprach von einer «denkenden Hülle», der «Noosphäre», von der der Globus umgeben werde. In ihr wähnte er ein «harmonisches Bewusstseinskollektiv» wachsen, eine Art «Überbewusstsein».
Innervation oder Enervation?
Die in Gestalt des Internets inzwischen real existierende Erdumhüllung rechtfertigt die Annahme eines kollektiven Bewusstseins allerdings schwerlich. Nicht nur ist bisher lediglich eine Minderheit von Gehirnen ans «weltweite» Netz angeschlossen. Auch steht in Zweifel, ob, was den Globus da umspannt, mit Recht als «denkende Hülle» bezeichnet werden dürfe und nicht vielmehr – zumindest auch – ein elektronischer Schmutzfilm genannt zu werden verdiene. Auch die «digitalen» Gesellungsformen, die sich ausbreiten, dienen nicht durchwegs der Besinnung. Aus dem Cyberspace dringt jedem, der sich hineinbegibt, das Geschnatter und Geplapper der Chatrooms und das Gezwitscher narzisstischer Mikroblogs entgegen. Dieses Begleitgeräusch der telekommunikativen Evolution bestätigt eine andere Prognose McLuhans. Das «elektrische Zeitalter», wie er es nannte, bringe die Rückkehr zur oralen Kommunikation mit sich, den Einzug ins global village. Und Chats sind tatsächlich, wie ihr Name verrät, verschriftlichte Formen mündlichen Austauschs. Mit der Oralität aber steht, folgt man McLuhan weiter, Terror ins Haus. «Terror», schreibt er in The Gutenberg Galaxy (1962), «is the normal state of any oral society, for in it everything affects everything all the time.»
Es handelt sich um den Terror der ansteckenden Nervosität – die nur das Komplement der Selbstbetäubung ist. Im globalen Dorf einer allseitigen Verdrahtung der Nervenstränge breiten sich Erregungsenergien ungehemmt aus und können jeden jederzeit affizieren - enervieren. Teilhard hatte eine «Innervation» der Gesellschaft kommen sehen. Dieser Innervation entspricht, was McLuhan als «Externalisierung» des menschlichen Sinnes- und Nervensystems beschrieben hat: In der elektronischen Aussenhülle des Globus begegnet der Mensch der Menschheit als seiner eigenen Haut.
Vereinigt und vergeistigt sich die Menschheit in dem technisch übermittelten Nervenreiz - immerhin einer Vorform des Denkens? Oder geht sie sich bloss auf die Nerven? Zerstreut sie sich – oder sammelt sie sich? Betäubt sie sich – oder erwacht sie?
______________________________________________________________________
Nota.
U. J. Wenzels wie immer kluge Überlegungen erlaube ich mir zu ergänzen durch einen Gesichtspunkt, den ich selber entwickelt zu haben mich rühmen darf – die Unterscheidung zwischen ‘unserer’ Welt und ‘meiner’ Welt .
Das Internet und alle materielle wie menschliche Hard- und Software, die daran hängen, entstammt nicht nur ‘unserer’ Welt – es wir dort auch bleiben. Es greift zwar tiefer als jedes andere Medium zuvor – sofern wir die Sprache selbst einmal ausnehmen – in ‘meine’ Welt hinein: weil es zwar der digitalen Technik entstammt, in der ‘unsere’ Welt womöglich ihren endgültigen Daseinsmodus gefunden hat; aber seine mächtigste Wirkung auf analogem Weg erzielt – in der Macht der virtuellen Bilder! (Man möchte sagen, digitale Revolution und Iconic Turn sind Wechselbegriffe.) Die gehen tiefer und fester in ‘meine’ Welt ein, als es Begriffe und logisches Denken je vermocht haben. Aber Leben erhalten sie erst dort. Ihre Macht über mich ist die Macht meiner Einbildungskraft über sie. Und ob sie meine Einbildungskraft herausfordern und ihre Virtuosität ausbilden, oder ob sie sie überschwemmen und ersäufen, das… kommt ganz drauf an.
Die Einführung des ersten Digits ins Gemütsleben der Menschen, des gesprochenen Wortes, hat die ihre bildhafte Einbildungskraft nicht verödet, nein, ganz gewiss nicht. Auch nicht der Untergang Ende des mythologischen Zeitalters in der Verwissenschaftlichung der Welt (wie man das nannte). Sonst hätten sie die digitale Technologie ja nicht erfinden können.
Der Quell des tatsächlichen und produktiven Denkens ist das Sprudeln anschaulicher Bilder. Die Reflexion tritt hinzu und 'macht was draus', aber erfinden kann sie nichts. Die virtuellen Bilder können meine Einbildungskraft nur zupappen, wenn ihr zuvor im Korsett des diskursiven Regelmaßes die Luft genommen wurde. Wie und womit, und vor allem: von wem Kinder “beschult” werden – das spielt allerdings eine Rolle! Die Bildung sollte sich schon darauf besinnen, dass der Ursprung der Vernunft nicht logisch ('digital'), sondern ästhetisch ('analog') ist. Wenn alles, was irgend digitalisierbar ist, erst seinen gehörigen Platz in den Diskursen gefunden haben wird, dann bekommt die Einbildungskraft wieder freies Spiel.
J.E.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen