Sonntag, 29. September 2013

Diderot, dreihundert Jahre.

aus NZZ, 28. 9. 2013


Ein «einzig Individuum» 
Vor dreihundert Jahren wurde der Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot geboren

Aufklärer und Causeur, Erzähler und Philosoph sowie federführender Herausgeber der monumentalen «Encyclopédie», die das Wissen ihrer Zeit zu präsentieren beanspruchte: Denis Diderot war alles dies und noch einiges mehr. - Ein Blick auf Werk und Leben.

von Ulrich Kronauer

Am 9. März 1831 schreibt Goethe an seinen Freund Carl Friedrich Zelter, der in einem Brief vom 5. März das negative Urteil seiner Zeitgenossen über Diderots Roman «Jacques le Fataliste» erwähnt hatte: «Diderot ist Diderot, ein einzig Individuum; wer an ihm oder seinen Sachen mäckelt, ist ein Philister, und deren sind Legionen. Wissen doch die Menschen weder von Gott noch von der Natur noch von ihresgleichen dankbar zu empfangen, was unschätzbar ist.»

Zum Zeitpunkt dieser leidenschaftlichen Parteinahme Goethes ist der französische Philosoph, Erzähler und Herausgeber der «Encyclopédie» Denis Diderot bereits annähernd 47 Jahre tot. Aber offensichtlich erregt der Autor von «Les bijoux indiscrets», «La religieuse», «Jacques le fataliste» und «Le neveu de Rameau» zumal in Deutschland noch im 19. Jahrhundert die Gemüter. «Diderots Fataliste», wie Zelter schreibt, wird als unmoralisch empfunden, ebenso die von Goethe in einer Übersetzung 1805 bekannt gemachte Erzählung «Rameaus Neffe». Anstoss erregte zunächst einmal der unverblümte Realismus, mit dem Diderot das Liebesleben seiner Figuren schilderte. Allerdings delektierten sich die Philister, wie Zelter anmerkt, trotz aller Empörung durchaus an mancher der Diderotschen Frivolitäten.

Ein Leben, viele Projekte

Die Gründe dafür, dass Diderots Werke immer wieder provozierten, lagen aber tiefer. Der Realismus bei der Beschreibung der menschlichen Sexualität war Teil einer Weltsicht, die sich von religiösen, gesellschaftlichen, ideologischen Vorurteilen freigemacht hatte. Wie gefährlich es war, eine solche Sicht öffentlich zu dokumentieren, musste auch Diderot erfahren. Dass viele seiner Schriften nur in der für einen ausgewählten Kreis europäischer Aristokraten bestimmten handschriftlichen «Correspondance littéraire, philosophique et critique» erschienen oder erst aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, geht auf die traumatische Erfahrung zurück, die der Autor mit der Zensur gemacht hatte.

Geboren wurde Denis Diderot am 5. Oktober 1713 als zweites Kind des angesehenen Messerschmieds Didier Diderot und seiner Frau Angélique Vigneron in Langres in der Champagne. Er besuchte das Jesuiten-Kolleg in Langres, ging dann nach Paris und studierte an der Sorbonne. Anschliessend war er zunächst Anwaltsgehilfe, arbeitete als Hauslehrer, schrieb Predigten für angehende Geistliche. Ab 1740 veröffentlichte er Artikel in Zeitschriften und war auch als Übersetzer tätig. Seine Reise nach Langres im Dezember 1742 wurde zum Desaster. Er wollte die väterliche Erlaubnis zur Heirat mit der Weissnäherin Anne-Toinette Champion einholen, zerstritt sich aber mit dem Vater, der ihn daraufhin in einem Kloster bei Troyes inhaftieren liess. Nach seiner Flucht heiratete er im November des folgenden Jahres. Es wurde keine glückliche Ehe. Diderot hatte mehrere Affären; seine langjährige Beziehung mit Sophie Volland ist in vielen Liebesbriefen Diderots dokumentiert.

Im Oktober 1747 unterschrieb Diderot zusammen mit Jean le Rond d'Alembert den Vertrag über die Herausgabe des monumentalen Nachschlagewerks «Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers». Dieses Werk, an dem so bedeutende Köpfe wie d'Holbach, Marmontel, Quesnay, Rousseau, Duclos, Turgot und Voltaire mitarbeiteten und das man die «Kriegsmaschine» der Aufklärung genannt hat, erschien als Folio-Ausgabe von 1751 bis 1772 in insgesamt siebzehn Text- und elf Tafelbänden. Als «dictionnaire raisonné» war die «Encyclopédie» der Vernunft verpflichtet, und ihre Mitarbeiter sollten nur der Überzeugung folgen, die der Evidenz entspringt. Komplikationen waren absehbar; das Unternehmen, das Diderot nach dem Ausscheiden d'Alemberts 1758 allein schultern musste, geriet immer wieder ins Visier der Zensoren, die den Druck zeitweilig verboten.

Die erste, überaus schmerzhafte Erfahrung mit der Zensur machte Diderot im Juli 1749. Zwar war sein «Brief über die Blinden» anonym an einem fingierten Druckort erschienen, aber die Vorsichtsmassnahme half nichts: Diderot wurde verhaftet, mit Blick auf den «Brief» und andere Schriften verhört und in die Festung Vincennes gebracht. In der «Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux qui voient» führt der blinde Mathematiker Saunderson auf dem Sterbebett ein Gespräch mit einem Vikar, bei dem sich der Blinde nicht von der Existenz Gottes überzeugen lässt.

Schlimmer noch: Saunderson stellt von Lukrez inspirierte Überlegungen über einen Anfang an, «als die in Gärung befindliche Materie das Weltall hervorbrachte», und spekuliert über die Möglichkeit, dass das «stolze Wesen, das sich Mensch nennt», einem «allgemeinen Reinigungsprozess der Welt» zum Opfer gefallen wäre. Das hinter diesen Gedanken stehende materialistische Weltbild wird in den Schriften Diderots dann immer wieder thematisiert, allerdings so, dass es dem Zensor möglichst verborgen bleibt. In der 1769 entstandenen, aus dem Nachlass herausgegebenen Schrift «D'Alemberts Traum» lässt Diderot den Mathematiker d'Alembert im Schlaf sagen: «Wer kennt die Tiergeschlechter, die uns vorausgegangen sind, und wer die Tiergeschlechter, die den unsrigen folgen werden? Alles verändert sich, alles vergeht, nur das All bleibt. Die Welt beginnt und endet unaufhörlich; sie ist in jedem Zeitpunkt an ihrem Anfang und an ihrem Ende.»

Im November 1749 wurde Diderot in die Freiheit entlassen. Durch die Festungshaft völlig zermürbt, hatte er dem Polizeipräfekten einen Brief geschrieben, in dem er die «geistige Vermessenheit» bereut, aus der heraus er den Brief über die Blinden und die anderen inkriminierten Schriften verfasst habe, und beteuert, in Zukunft nichts mehr ohne die Erlaubnis des Präfekten zu veröffentlichen. Dieser Brief, ein deprimierendes Dokument der Selbsterniedrigung, zeigt überdeutlich, welchen Gefährdungen und psychischen Belastungen ein Freigeist damals ausgesetzt war.

«Glänzende Geschäfte»

In den folgenden Jahren nahm Diderot vor allem die Herausgabe der «Encyclopédie» in Anspruch. Ab 1756 arbeitete er daneben an der von seinem Freund Friedrich Melchior Grimm herausgegebenen «Correspondance littéraire» mit. Dort erschienen nicht nur etliche seiner Erzählwerke in Fortsetzungen, sondern auch seine zum Teil sehr umfangreichen Berichte über die Ausstellungen im Louvre, die sogenannten «Salons», die man als Ursprung der Kunstkritik bezeichnet hat. In Deutschland wurde Diderot als Autor der bürgerlichen Dramen «Le fils naturel» (1757) und «Le père de famille» (1758) sehr geschätzt. In der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings wurden diese Stücke, die nicht im höfischen, sondern im häuslichen Milieu spielten und in denen Diderots Tugendbegeisterung zum Ausdruck kommt, weit häufiger gespielt als in Frankreich.

Im November 1764 entdeckte Diderot, dass sein französischer Verleger Le Breton in die jüngst erschienenen Bände der «Encyclopédie» massiv mit Kürzungen und Textänderungen eingegriffen hatte. Zutiefst verbittert sagte Diderot dem Verleger «finanziellen Verlust und Schande» voraus. Hier irrte er. Wie wir aus der Studie «The Business of Enlightenment» von Robert Darnton wissen, liessen sich mit der «Encyclopédie» «glänzende Geschäfte» machen. Diderot wurde seiner finanziellen Sorgen ausgerechnet durch eine Kaiserin enthoben. Katharina II. von Russland kaufte 1765 seine Bibliothek und machte ihn gleichzeitig zu ihrem eigenen Bibliothekar auf Lebenszeit. 1773 reiste er auf kaiserliche Einladung nach St. Petersburg und führte mehrmals wöchentlich angeregte Gespräche mit Katharina. Nach seiner Rückkehr 1774 gab er indes seine Enttäuschung über den aufgeklärten Absolutismus Katharinas zu erkennen. Die Kaiserin wiederum, der nach Diderots Tod ein Text in die Hände kam, in dem der Philosoph für die Abschaffung der Leibeigenschaft plädierte, warf «das Geplapper» ins Feuer.

Seit 1766 war Diderot als anonymer Autor an einem vielbändigen Werk beteiligt, das zu einem der grössten Bucherfolge in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde, der «Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes» von Guillaume Raynal. Zumal zu der dritten Ausgabe des Werks von 1780 hatte Diderot einen grossen Teil beigesteuert. Und es war Diderot, der voller Pathos und Emphase die Auswüchse des Kolonialismus anprangerte, der die Sklaven zum bewaffneten Widerstand aufrief, die Loslösung der Kolonien vom Mutterland guthiess und Europa nach der Revolution Nordamerikas radikale Veränderungen vorhersagte. Die «Geschichte beider Indien» fand begeisterte Leser, rief aber, wie nicht anders zu erwarten, die Zensur auf den Plan und zwang Raynal nach Erscheinen der dritten Ausgabe zur Flucht ins Ausland.

Materialist mit Herz

Im Februar 1784 erlitt Denis Diderot einen Schlaganfall; am 31. Juli 1784 starb er im Kreis der Familie. - Es fällt nicht leicht, das Werk des grossen Aufklärers auf einen Nenner zu bringen. Zu den Besonderheiten des Diderotschen Erzählens und Philosophierens gehört das Dialogische, die Aufteilung des Erzählens, Argumentierens und Räsonierens auf mehrere Personen, den Leser inbegriffen. Es geht in Diderots Texten nicht in erster Linie darum, eine These zu demonstrieren, zum Schluss zu kommen, ein Ergebnis zu erzielen, zu überzeugen. Viel wichtiger sind die Anregungen, die durch die verschiedenen Perspektiven gegeben werden, die die Vorurteile des Lesers erschüttern, ihn zum Nachdenken bringen sollen. Und nicht zu vergessen ist das Vergnügen, das der Autor mit seinen Geschichten, seinen überraschenden Pointen und seinen zum Teil auch derben Spässen bereitet.

Zwar nimmt Diderot von der hohen Warte seiner materialistischen Philosophie aus die Spezies Mensch als ein dem Werden und Vergehen unterworfenes Zufallsprodukt der Natur wahr, er bringt dem Individuum aber gleichwohl grösstes Interesse entgegen. Seine Anteilnahme am Los der Sklaven und Leibeigenen, der Leidenden und Irrenden ist offensichtlich - und nicht allein aus der übergrossen Sentimentalität, die er sich selbst zusprach, zu erklären. Er meinte es ernst, wenn er wie Rousseau, sein Bruder im Geiste und späterer Feind, im Mitleid die Grundlage für einen humanen Umgang der Menschen miteinander erkannte - in einer Fähigkeit, die, wie beide glaubten, dem Menschen angeboren ist, die jeglicher Reflexion vorausgeht und aus der alle sozialen Tugenden entspringen.

In seiner Meistererzählung «Rameaus Neffe» zeichnet er das Bild eines Schmarotzers ohne alle Moral, eines Speichelleckers, der sein Auskommen an den Tischen der Reichen sucht, der aber auch in der Ehrlichkeit, mit der er seine Rolle in einer dekadenten und korrupten Gesellschaft beschreibt, dieser Gesellschaft den Spiegel vorhält. Seine Pfründe bei einem reichen Gönner verliert der Neffe des berühmten Komponisten, weil er einmal aus der Rolle fällt, das Spiel der Erniedrigung nicht mitmacht. Er legt seine rechte Hand auf die Brust und sagt (in der Übersetzung Goethes): «Hier fühle ich etwas, das sich regt, das mir sagt: Rameau, das tust du nicht. Es muss doch eine gewisse Würde mit der menschlichen Natur innig verknüpft sein, die niemand ersticken kann.» Ausgerechnet der in Diderots Dialog-Erzählung die Rolle des amoralischen Subjekts spielende Neffe beruft sich auf die «dignité attachée à la nature de l'homme». Spielt er damit dem als «Moi» bezeichneten Gesprächspartner nur etwas vor, verhält er sich ironisch zur anspruchsvollen Menschenwürde? Spielt Diderot mit dem Leser - oder meinen es Diderot und der Neffe ernst? Hat auch der verworfene Schmarotzer eine Würde, verdient er Achtung, vielleicht Mitleid?

In der «Geschichte beider Indien» setzt sich Diderot mit Argumenten der englischen Kolonialherren und Unterdrücker auseinander und betont, dass die Freiheit ein höchstes Gut darstelle, das unter keiner Bedingung geopfert werden dürfe. Macht es die monströse Figur des Neffen nicht menschlich, zu einem «Individuum», wie Goethe sagen würde, dass auch sie diese Freiheit nicht vollständig aufgeben will und kann? Zwar ruft der Neffe bei seinem Gegenüber Gelächter hervor, wenn er erklärt: «Ich will mich wohl wegwerfen, aber ohne Zwang. Ich will von meiner Würde heruntersteigen . . .» Aber wer da lacht, ist nur der «Moi» genannte Gesprächspartner des Neffen, nicht der Autor Denis Diderot.


Dr. Ulrich Kronauer ist als Honorarprofessor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie tätig; er war lange Jahre Mitarbeiter bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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