Ein «einzig Individuum»
Vor dreihundert Jahren wurde der Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot geboren
Vor dreihundert Jahren wurde der Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot geboren
Aufklärer und Causeur, Erzähler und Philosoph
sowie federführender Herausgeber der monumentalen «Encyclopédie», die
das Wissen ihrer Zeit zu präsentieren beanspruchte: Denis Diderot war
alles dies und noch einiges mehr. - Ein Blick auf Werk und Leben.
von Ulrich Kronauer
Am 9. März 1831 schreibt Goethe
an seinen Freund Carl Friedrich Zelter, der in einem Brief vom 5. März
das negative Urteil seiner Zeitgenossen über Diderots Roman «Jacques le
Fataliste» erwähnt hatte: «Diderot ist Diderot, ein einzig Individuum;
wer an ihm oder seinen Sachen mäckelt, ist ein Philister, und deren sind
Legionen. Wissen doch die Menschen weder von Gott noch von der Natur
noch von ihresgleichen dankbar zu empfangen, was unschätzbar ist.»
Zum Zeitpunkt dieser
leidenschaftlichen Parteinahme Goethes ist der französische Philosoph,
Erzähler und Herausgeber der «Encyclopédie» Denis Diderot bereits
annähernd 47 Jahre tot. Aber offensichtlich erregt der Autor von «Les
bijoux indiscrets», «La religieuse», «Jacques le fataliste» und «Le
neveu de Rameau» zumal in Deutschland noch im 19. Jahrhundert die
Gemüter. «Diderots Fataliste», wie Zelter schreibt, wird als unmoralisch
empfunden, ebenso die von Goethe in einer Übersetzung 1805 bekannt
gemachte Erzählung «Rameaus Neffe». Anstoss erregte zunächst einmal der
unverblümte Realismus, mit dem Diderot das Liebesleben seiner Figuren
schilderte. Allerdings delektierten sich die Philister, wie Zelter
anmerkt, trotz aller Empörung durchaus an mancher der Diderotschen
Frivolitäten.
Ein Leben, viele Projekte
Die Gründe dafür, dass Diderots
Werke immer wieder provozierten, lagen aber tiefer. Der Realismus bei
der Beschreibung der menschlichen Sexualität war Teil einer Weltsicht,
die sich von religiösen, gesellschaftlichen, ideologischen Vorurteilen
freigemacht hatte. Wie gefährlich es war, eine solche Sicht öffentlich
zu dokumentieren, musste auch Diderot erfahren. Dass viele seiner
Schriften nur in der für einen ausgewählten Kreis europäischer
Aristokraten bestimmten handschriftlichen «Correspondance littéraire,
philosophique et critique» erschienen oder erst aus dem Nachlass
veröffentlicht wurden, geht auf die traumatische Erfahrung zurück, die
der Autor mit der Zensur gemacht hatte.
Geboren wurde Denis Diderot am 5.
Oktober 1713 als zweites Kind des angesehenen Messerschmieds Didier
Diderot und seiner Frau Angélique Vigneron in Langres in der Champagne.
Er besuchte das Jesuiten-Kolleg in Langres, ging dann nach Paris und
studierte an der Sorbonne. Anschliessend war er zunächst Anwaltsgehilfe,
arbeitete als Hauslehrer, schrieb Predigten für angehende Geistliche.
Ab 1740 veröffentlichte er Artikel in Zeitschriften und war auch als
Übersetzer tätig. Seine Reise nach Langres im Dezember 1742 wurde zum
Desaster. Er wollte die väterliche Erlaubnis zur Heirat mit der
Weissnäherin Anne-Toinette Champion einholen, zerstritt sich aber mit
dem Vater, der ihn daraufhin in einem Kloster bei Troyes inhaftieren
liess. Nach seiner Flucht heiratete er im November des folgenden Jahres.
Es wurde keine glückliche Ehe. Diderot hatte mehrere Affären; seine
langjährige Beziehung mit Sophie Volland ist in vielen Liebesbriefen
Diderots dokumentiert.
Im Oktober 1747 unterschrieb
Diderot zusammen mit Jean le Rond d'Alembert den Vertrag über die
Herausgabe des monumentalen Nachschlagewerks «Encyclopédie ou
dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers». Dieses
Werk, an dem so bedeutende Köpfe wie d'Holbach, Marmontel, Quesnay,
Rousseau, Duclos, Turgot und Voltaire mitarbeiteten und das man die
«Kriegsmaschine» der Aufklärung genannt hat, erschien als Folio-Ausgabe
von 1751 bis 1772 in insgesamt siebzehn Text- und elf Tafelbänden. Als
«dictionnaire raisonné» war die «Encyclopédie» der Vernunft
verpflichtet, und ihre Mitarbeiter sollten nur der Überzeugung folgen,
die der Evidenz entspringt. Komplikationen waren absehbar; das
Unternehmen, das Diderot nach dem Ausscheiden d'Alemberts 1758 allein
schultern musste, geriet immer wieder ins Visier der Zensoren, die den
Druck zeitweilig verboten.
Die erste, überaus schmerzhafte
Erfahrung mit der Zensur machte Diderot im Juli 1749. Zwar war sein
«Brief über die Blinden» anonym an einem fingierten Druckort erschienen,
aber die Vorsichtsmassnahme half nichts: Diderot wurde verhaftet, mit
Blick auf den «Brief» und andere Schriften verhört und in die Festung
Vincennes gebracht. In der «Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux
qui voient» führt der blinde Mathematiker Saunderson auf dem Sterbebett
ein Gespräch mit einem Vikar, bei dem sich der Blinde nicht von der
Existenz Gottes überzeugen lässt.
Schlimmer noch: Saunderson stellt
von Lukrez inspirierte Überlegungen über einen Anfang an, «als die in
Gärung befindliche Materie das Weltall hervorbrachte», und spekuliert
über die Möglichkeit, dass das «stolze Wesen, das sich Mensch nennt»,
einem «allgemeinen Reinigungsprozess der Welt» zum Opfer gefallen wäre.
Das hinter diesen Gedanken stehende materialistische Weltbild wird in
den Schriften Diderots dann immer wieder thematisiert, allerdings so,
dass es dem Zensor möglichst verborgen bleibt. In der 1769 entstandenen,
aus dem Nachlass herausgegebenen Schrift «D'Alemberts Traum» lässt
Diderot den Mathematiker d'Alembert im Schlaf sagen: «Wer kennt die
Tiergeschlechter, die uns vorausgegangen sind, und wer die
Tiergeschlechter, die den unsrigen folgen werden? Alles verändert sich,
alles vergeht, nur das All bleibt. Die Welt beginnt und endet
unaufhörlich; sie ist in jedem Zeitpunkt an ihrem Anfang und an ihrem
Ende.»
Im November 1749 wurde Diderot in
die Freiheit entlassen. Durch die Festungshaft völlig zermürbt, hatte er
dem Polizeipräfekten einen Brief geschrieben, in dem er die «geistige
Vermessenheit» bereut, aus der heraus er den Brief über die Blinden und
die anderen inkriminierten Schriften verfasst habe, und beteuert, in
Zukunft nichts mehr ohne die Erlaubnis des Präfekten zu veröffentlichen.
Dieser Brief, ein deprimierendes Dokument der Selbsterniedrigung, zeigt
überdeutlich, welchen Gefährdungen und psychischen Belastungen ein
Freigeist damals ausgesetzt war.
«Glänzende Geschäfte»
In den folgenden Jahren nahm
Diderot vor allem die Herausgabe der «Encyclopédie» in Anspruch. Ab 1756
arbeitete er daneben an der von seinem Freund Friedrich Melchior Grimm
herausgegebenen «Correspondance littéraire» mit. Dort erschienen nicht
nur etliche seiner Erzählwerke in Fortsetzungen, sondern auch seine zum
Teil sehr umfangreichen Berichte über die Ausstellungen im Louvre, die
sogenannten «Salons», die man als Ursprung der Kunstkritik bezeichnet
hat. In Deutschland wurde Diderot als Autor der bürgerlichen Dramen «Le
fils naturel» (1757) und «Le père de famille» (1758) sehr geschätzt. In
der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings wurden diese Stücke, die nicht
im höfischen, sondern im häuslichen Milieu spielten und in denen
Diderots Tugendbegeisterung zum Ausdruck kommt, weit häufiger gespielt
als in Frankreich.
Im November 1764 entdeckte
Diderot, dass sein französischer Verleger Le Breton in die jüngst
erschienenen Bände der «Encyclopédie» massiv mit Kürzungen und
Textänderungen eingegriffen hatte. Zutiefst verbittert sagte Diderot dem
Verleger «finanziellen Verlust und Schande» voraus. Hier irrte er. Wie
wir aus der Studie «The Business of Enlightenment» von Robert Darnton
wissen, liessen sich mit der «Encyclopédie» «glänzende Geschäfte»
machen. Diderot wurde seiner finanziellen Sorgen ausgerechnet durch eine
Kaiserin enthoben. Katharina II. von Russland kaufte 1765 seine
Bibliothek und machte ihn gleichzeitig zu ihrem eigenen Bibliothekar
auf Lebenszeit. 1773 reiste er auf kaiserliche Einladung nach St.
Petersburg und führte mehrmals wöchentlich angeregte Gespräche mit
Katharina. Nach seiner Rückkehr 1774 gab er indes seine Enttäuschung
über den aufgeklärten Absolutismus Katharinas zu erkennen. Die Kaiserin
wiederum, der nach Diderots Tod ein Text in die Hände kam, in dem der
Philosoph für die Abschaffung der Leibeigenschaft plädierte, warf «das
Geplapper» ins Feuer.
Seit 1766 war Diderot als anonymer
Autor an einem vielbändigen Werk beteiligt, das zu einem der grössten
Bucherfolge in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
wurde, der «Histoire philosophique et politique des établissements et du
commerce des Européens dans les deux Indes» von Guillaume Raynal. Zumal
zu der dritten Ausgabe des Werks von 1780 hatte Diderot einen grossen
Teil beigesteuert. Und es war Diderot, der voller Pathos und Emphase die
Auswüchse des Kolonialismus anprangerte, der die Sklaven zum
bewaffneten Widerstand aufrief, die Loslösung der Kolonien vom
Mutterland guthiess und Europa nach der Revolution Nordamerikas radikale
Veränderungen vorhersagte. Die «Geschichte beider Indien» fand
begeisterte Leser, rief aber, wie nicht anders zu erwarten, die Zensur
auf den Plan und zwang Raynal nach Erscheinen der dritten Ausgabe zur
Flucht ins Ausland.
Materialist mit Herz
Im Februar 1784 erlitt Denis
Diderot einen Schlaganfall; am 31. Juli 1784 starb er im Kreis der
Familie. - Es fällt nicht leicht, das Werk des grossen Aufklärers auf
einen Nenner zu bringen. Zu den Besonderheiten des Diderotschen
Erzählens und Philosophierens gehört das Dialogische, die Aufteilung des
Erzählens, Argumentierens und Räsonierens auf mehrere Personen, den
Leser inbegriffen. Es geht in Diderots Texten nicht in erster Linie
darum, eine These zu demonstrieren, zum Schluss zu kommen, ein Ergebnis
zu erzielen, zu überzeugen. Viel wichtiger sind die Anregungen, die
durch die verschiedenen Perspektiven gegeben werden, die die Vorurteile
des Lesers erschüttern, ihn zum Nachdenken bringen sollen. Und nicht zu
vergessen ist das Vergnügen, das der Autor mit seinen Geschichten,
seinen überraschenden Pointen und seinen zum Teil auch derben Spässen
bereitet.
Zwar nimmt Diderot von der hohen
Warte seiner materialistischen Philosophie aus die Spezies Mensch als
ein dem Werden und Vergehen unterworfenes Zufallsprodukt der Natur wahr,
er bringt dem Individuum aber gleichwohl grösstes Interesse entgegen.
Seine Anteilnahme am Los der Sklaven und Leibeigenen, der Leidenden und
Irrenden ist offensichtlich - und nicht allein aus der übergrossen
Sentimentalität, die er sich selbst zusprach, zu erklären. Er meinte es
ernst, wenn er wie Rousseau, sein Bruder im Geiste und späterer Feind,
im Mitleid die Grundlage für einen humanen Umgang der Menschen
miteinander erkannte - in einer Fähigkeit, die, wie beide glaubten, dem
Menschen angeboren ist, die jeglicher Reflexion vorausgeht und aus der
alle sozialen Tugenden entspringen.
In seiner Meistererzählung
«Rameaus Neffe» zeichnet er das Bild eines Schmarotzers ohne alle Moral,
eines Speichelleckers, der sein Auskommen an den Tischen der Reichen
sucht, der aber auch in der Ehrlichkeit, mit der er seine Rolle in einer
dekadenten und korrupten Gesellschaft beschreibt, dieser Gesellschaft
den Spiegel vorhält. Seine Pfründe bei einem reichen Gönner verliert der
Neffe des berühmten Komponisten, weil er einmal aus der Rolle fällt,
das Spiel der Erniedrigung nicht mitmacht. Er legt seine rechte Hand auf
die Brust und sagt (in der Übersetzung Goethes): «Hier fühle ich etwas,
das sich regt, das mir sagt: Rameau, das tust du nicht. Es muss doch
eine gewisse Würde mit der menschlichen Natur innig verknüpft sein, die
niemand ersticken kann.» Ausgerechnet der in Diderots Dialog-Erzählung
die Rolle des amoralischen Subjekts spielende Neffe beruft sich auf die
«dignité attachée à la nature de l'homme». Spielt er damit dem als «Moi»
bezeichneten Gesprächspartner nur etwas vor, verhält er sich ironisch
zur anspruchsvollen Menschenwürde? Spielt Diderot mit dem Leser - oder
meinen es Diderot und der Neffe ernst? Hat auch der verworfene
Schmarotzer eine Würde, verdient er Achtung, vielleicht Mitleid?
In der «Geschichte beider Indien»
setzt sich Diderot mit Argumenten der englischen Kolonialherren und
Unterdrücker auseinander und betont, dass die Freiheit ein höchstes Gut
darstelle, das unter keiner Bedingung geopfert werden dürfe. Macht es
die monströse Figur des Neffen nicht menschlich, zu einem «Individuum»,
wie Goethe sagen würde, dass auch sie diese Freiheit nicht vollständig
aufgeben will und kann? Zwar ruft der Neffe bei seinem Gegenüber
Gelächter hervor, wenn er erklärt: «Ich will mich wohl wegwerfen, aber
ohne Zwang. Ich will von meiner Würde heruntersteigen . . .» Aber wer
da lacht, ist nur der «Moi» genannte Gesprächspartner des Neffen, nicht
der Autor Denis Diderot.
Dr. Ulrich Kronauer ist als Honorarprofessor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie tätig; er war lange Jahre Mitarbeiter bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
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