Gründliche Ethik
Die Moral und die Frage nach dem Warum - ein neues Buch von Otfried Höffe
Die Moral und die Frage nach dem Warum - ein neues Buch von Otfried Höffe
Uwe Justus Wenzel ·
Der Mensch ist vergesslich. Darum muss er immer wieder einmal gesagt
bekommen, was seine Bestimmung ist - salopper formuliert: was in ihm
steckt. In ihm stecken, wie die vielen kursierenden
Homo-dies-und-Homo-das-Formeln verraten, viele verschiedene Menschen:
ein schmeckender und einsichtsvoller Mensch (der «Homo sapiens»), ein
tuender und machender, ein tötender, ein denkender, ein sprechender, ein
spielender und so fort. Manche sehen im Menschen auch das Tier oder
mancherlei Tiere; jedenfalls lassen die Prägungen nach dem Muster des
«Animal rationale», des vernunftbegabten Tieres (freilich auch:
Lebewesens), dies vermuten.
Otfried Höffe, der am heutigen 12.
September siebzig wird, hat den vielfach begabten, aber vergesslichen
Menschen mehr als einmal daran erinnert, dass in ihm ein «Animal morale»
stecke. Und da das Moraltier (oder Moralwesen) im Menschen
gewissermassen schlummert, ist der Mensch nicht schon an sich moralisch,
sondern, wie der Philosoph es nennt, nur erst ein «Animal morabile»,
ein zur Moral fähiges Lebewesen. In einem neuen Büchlein, das in die
Ethik einführen will, schreibt Höffe, der Mensch sei zur Moral nicht nur
fähig, sondern auch «berufen».
Den Ruf des moralischen Sollens
hört Höffe nicht nur und nicht erst aus dem Munde der kultur- und
geistesgeschichtlich sozusagen voll ausgebildeten Vernunft erschallen,
er registriert vielmehr einen «basaleren Imperativ», der dem Menschen
bereits als Naturwesen, näherhin als «biologischem Multitalent»,
moralisch Beine mache. Der Autor, der die Erläuterungen zu dieser
Überlegung knapp hält, scheint das «basalere» Sollen aus dem hervorgehen
zu sehen, was die philosophische Anthropologie als «Weltoffenheit» des
Menschen charakterisiert: Das Naturwesen Mensch ist seiner eigenen Natur
und seinen Lebensumständen nicht völlig ausgeliefert; der Mensch ist,
mit Nietzsche gesprochen, das «nicht festgestellte Tier». Aus dieser
Offenheit, die im Lichte der Instinktsicherheit der anderen, der
«festgestellten» Tiere auch als Mangel begriffen werden kann, erwächst
die Nötigung, Verbindlichkeiten der Lebensführung allererst zu schaffen.
Solches Müssen ist noch kein Sollen, aber doch wohl dessen Vorform.
Weltoffenheit, so Höffe explizit,
bedeute ausserdem: Energie- und Antriebsüberschuss, der der Intelligenz
zugutekomme, der aber auch Allmachtsphantasien befördere. Darum lasse
sich der Mensch als «einen Affen definieren, der gelegentlich wie Gott
sein will». - Bei so viel Ambivalenz, die die anthropologische
Grundausstattung des «Animal morabile» mit sich bringt, nimmt es nicht
wunder, dass Höffe - nachdem er schulmässig Methoden und Modelle der
Ethik aufgefächert und sortiert hat - auch der Frage «Warum moralisch
sein?» ein kleines Kapitel widmet. Eine «gründliche Ethik» dürfe ihr,
die recht eigentlich die doppelte Frage nach dem Warum des Sollens wie
auch die nach dem Warum des Wollens meine, nicht ausweichen.
Soweit die Frage die Rechtsmoral
betreffe, ergebe sich die Antwort von selbst: «Man soll es, weil man es
einander schuldet. Die Menschen haben ein Recht darauf, weder betrogen
noch bestohlen oder getötet zu werden.» Sobald es aber um die
«verdienstlichen Pflichten», um die im engeren Sinne moralische
Verbindlichkeit geht - um das also, was Menschen nicht von anderen,
sondern nur von sich selbst fordern können -, ist die Frage
augenscheinlich nicht so einfach zu beantworten. Höffe bringt ein
«Interesse an moralischer Selbstachtung» ins Spiel. Allerdings bleibt
undeutlich, ob dies Interesse selbst schon ein moralisches, mithin
selbst- und interesseloses Interesse sein kann. Hier macht sich
bemerkbar, dass, wie Höffe zu Beginn schreibt, Moral in
anthropologischer Perspektive «eine merkwürdige Mischung» sei - eine
Mixtur aus «Sollen, Bedürfnis und Sein».
An einer Stelle heisst es, die
Frage «Warum moralisch sein?» zu stellen, sei selbst so etwas wie eine
moralische Pflicht. Von hier aus wäre der Schritt zu einem Gedanken
Nietzsches nicht weit, wonach die Frage nach dem Warum als die
zeitgemässe, die «jetzige Form der Moralität selbst» angesehen werden
solle. - In solchen Passagen von Höffes neuem Buch zeigt sich, dass sein
Autor bei aller erworbenen und in rund zwanzig Werken zu Themen der
Ethik dokumentierten Routine das Grübeln nicht ganz vergessen hat - das
Grübeln, das das nicht geschäftsmässige Kerngeschäft der Philosophie
ist. Vielleicht gibt Otfried Höffe dieser sublimen Art intellektueller
Rechtschaffenheit (um noch einmal mit Nietzsche zu reden) in einem
anderen Buch dereinst mehr Raum.
Otfried Höffe: Ethik. Eine Einführung. C. H. Beck, München 2013. 128 S., Fr. 13.50.
Nota.
Der phänomenale Ausgangspunkt einer jeden nach Gründen suchenden Ethik ist die faktische Gegebenheit der positiven Moralen rund um den Erdball und auf allen Kulturstufen. Sie wirft die Frage auf nach einer Verwurzelung des ubiquitären Moralismus in der Conditio humana selbst. Diese wiederum zerfällt in die Frage, was der Mensch historisch (geworden) ist, und die Frage, was er heute daraus machen will, d. h. soll.
Historisch ist nicht davon zu abstrahieren, dass die Menschen, d. h. ihre Vorfahren den Sprung aus der Urwaldnische in die offene Welt der Savannen nicht hätten überstehen können ohne eine Festiguung und Formalisierung ihrer gemeinschaftlichen Lebensweise. Aus der Blutsverwandtschaft und dem Totemismus entstand das positive Recht; es kompensiert in vieler Hinsicht die mit seiner Weltoffenheit korrelieren 'Istinktentbundenheit'.
In anderer Hinsicht korreliert mit der Weltoffenheit des Menschen seine Freiheit. Merkwürdig, dass das Wort in dieser Rezension nicht vorkommt. Bei Otfried Höffe nicht? Denn dass U. J. Wenzel es andernfalls übergangen hätte, kann ich kaum glauben. Dem Tier ist durch die Anpasssungleistungen seiner Gattungsgeschichte der Platz, der ihm in seiner Umweltnische zukommt, angewiesen. Das Invividuum lebt, wie seine Gattung lebt. Die Menschen jedoch haben kollektiv eine eigene Geschichte, weil auch die Individuen ihre eigenen Geschichten haben. Mit andern Worten: Seit der Neueröffnung der Welt aus der selbstgemachten, sekundären Nische des Ackerbaus durch die große Industrie und die bürgerliche Verkehrsgesellschaft muss ein jedes Individuum sein eigenes Leben führen. Was es zu tun hat, ist ihm nicht eingeboren. Es muss danach fragen - und wen, wenn nicht sich selbst?
"Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen."
Novalis, Allgemeines Brouillon, N°670
J.E.
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