Vergleich der Hirnaktivität sowie der strukturellen Verknüpfungen von
Hirnarealen beim Verarbeiten einfacher oder komplexer sprachlicher
Regeln. A: Das frontale Operculum ist beim Verarbeiten beider Regeltypen
beteiligt (obere Abb.). Hingegen wird nur bei komplexen Regeln das
Broca Areal hinzugezogen (untere Abb.). B: Faserverbindungen zwischen
den Hirnregionen einzelner Versuchspersonen. Links: Das frontale
Operculum ist verknüpft mit vorderen Bereichen des Schäfenlappens über
den fasciculus uncinatus. Rechts: Das Broca Areal hält durch den
fasciculus longitudialis superior Verbindung mit oberen Arealen im
Schläfenlappen.
aus scinexx
Gehirn: Grammatik ist Teamarbeit
Neue Erkenntnisse zu den Ursachen der menschlichen Sprachfähigkeit
Warum verstehen wir Menschen komplizierte Sätze und unsere nächsten
Verwandten - die Affen - hingegen nur einzelne Worte? Was genau die
Ursachen für die menschliche Fähigkeit zur Sprache sind, ist bis jetzt
noch nicht endgültig geklärt. Nun haben Leipziger Wissenschaftler
herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn zwei Hirnareale für
verschiedene Verarbeitungsleistungen der Sprache zuständig sind. Sie
stellten fest, dass einfache Sprachstrukturen in einem evolutionär
älteren Hirnareal verarbeitet werden, über das auch Affen verfügen.
Komplizierte Strukturen jedoch aktivieren Prozesse in einem
entwicklungsgeschichtlich jüngeren Hirnareal, das nur der Mensch
besitzt.
Wie
die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und
Neurowissenschaften in der Fachzeitschrift PNAS berichten, liefern diese
Befunde einen wichtigen Baustein zum Verstehen des menschlichen
Sprachvermögens.
Zwei grundlegende Muster von Grammatik
Sprache verstehen und erzeugen zu können, ist ein wesentliches Merkmal,
das uns von nicht-menschlichen Primaten unterscheidet. Speziell das
Anwenden komplexer sprachlicher Regeln wird dafür verantwortlich
gemacht, dass Menschen im Gegensatz zu anderen Spezies lange Sätze
erzeugen und verstehen können.
Wenn man die Regeln der Sprache (Syntax) analysiert, kann man zwei
grundlegende Muster von Grammatik unterscheiden. Eine einfache Regel ist
das richtige Bilden von typischen (wahrscheinlichen) Wortverbin- dungen,
wie z.B. bei Artikel und Substantiv ("ein Lied") oder bei Artikel und
Verb ("ein gefällt"). So ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Substantiv
auf einen Artikel folgt, sehr hoch, dass ein Verb einem Artikel
nachsteht, hingegen sehr gering.
Um aber längere Sätze verstehen zu können, benötigt man ein komplexeres
Strukturmodell, die so genannte "Hierarchie". Dabei werden hierarchische
Abhängigkeiten zwischen Satzverbindungen gebildet, um diese miteinander
zu verknüpfen, wie ein eingeschobener Nebensatz: "Das Lied [das der
Junge sang] gefiel dem Lehrer". Ansatz der Max-Planck-Studie war
demzufolge, die Hirnaktivitäten bei der Verarbeitung dieser beiden
Modelle, also "Verknüpfungswahrscheinlichkeit" und "Hierarchie",
miteinander zu vergleichen.
In einem Verhaltensexperiment hatten Wissenschaftler in den USA zuvor
gezeigt, dass nicht-menschliche Primaten (Tamarin-Äffchen) zwar in der
Lage sind, Regeln mit lokalen Verknüpfungswahrscheinlichkeiten zu
verarbeiten, nicht aber hierarchische Regeln. Das Ergebnis veranlasste
die Leipziger Forscher zu der Hypothese, dass komplexe grammatische
Regeln von Hirnarealen verarbeitet werden, die 'phylogenetisch jünger'
sind. Diese Annahme untersuchten die Forscher in einem funktionellen
Kernspintomografie-(fMRT) -Experiment an Menschen.
Dazu
erzeugten die Wissenschaftler künstliche Grammatiken mit sinnlosen,
aber strukturierten Silben (z.B. de bo gi to). Die Aneinanderreihung
dieser Silben erfolgte entweder gemäß der einfachen Regel
("Verknüpfungs- wahrscheinlichkeit") oder der komplexeren Regel
("Hierarchie"). Die Silben wurden in zwei Kategorien unterteilt. Silben
der Kategorie A endeten mit lautlich hellen Vokalen (de, gi, le ...),
Silben der Kategorie B mit dunklen Vokalen (bo, fo, gu, ...). Die
einfache Regel bildete abwechselnde Folgen von den Kategorien A und B
(z.B. AB AB = de bo gi ku), die komplexe Regel bildete dagegen
Hierarchien durch das Verknüpfen beider Kategorien (z.B. AA BB = de gi
ku bo).
Dieses Prinzip entspricht dem Versuch, Grammatik auf die einfachsten
formalen Regeln zu reduzieren. Der Vorteil von künstlichen Grammatiken
besteht im Experiment - im Gegensatz zu natürlich gesprochener Grammatik
- darin, dass andere Strukturelemente der Sprache (Semantik,
Phonologie, Morphologie) keine zusätzlichen Einflüsse auf den
neurologischen Verarbeitungsprozess nehmen können.
Die Versuchspersonen trainierten beide Grammatiktypen zwei Tage vor der
Kernspinuntersuchung. Eine Gruppe lernte die
"Verknüpfungswahrscheinlichkeit", die andere Gruppe die "Hierarchie".
Während der fMRT-Untersuchung wurden neue Abfolgen von Silben über einen
Bildschirm präsentiert, die syntaktisch "richtig" (korrekte Sequenzen)
oder "fehlerhaft" (inkorrekte Sequenzen) waren. Auf diese Weise wurde
das Anwendungsvermögen der gelernten Regeln gemessen bzw. die
Versuchspersonen sollten jede Sequenz nach der Grammatikalität bewerten
(richtig/falsch).
Beim Verarbeiten beider Regeltypen konnten die Leipziger Forscher bei
ihren Testpersonen Aktivitäten in einem menschheitsgeschichtlich älteren
Hirnareal (frontales Operculum) nachweisen. Wie sie vermutet hatten,
zeigte eine jüngere Hirnstruktur, das Broca Areal, nur dann Aktivitäten,
wenn von den Versuchspersonen hierarchische Regeln verarbeitet wurden.
Weitere Forschung nötig
In einem zweiten Schritt wurde die Methode der diffusionsgewichteten
Bildgebung (DTI) verwendet, um strukturelle Verknüpfungen
(Konnektivität) der beiden Hirnregionen zu untersuchen. Als Ergebnis
konnten auch hier beide Hirnareale voneinander abgegrenzt werden. Das
frontale Operculum war über spezielle Faserverbindungen (fasciculus
uncinatus) mit den vorderen Bereichen des Schläfenlappens verknüpft.
Hingegen wies das Broca-Areal Verknüpfungen auf, welche über den
fasciculus longitudialis superior zu oberen Bereichen des
Schläfenlappens führten.
Durch zwei unterschiedliche Verfahren (fMRT- und DTI-Messung) konnten
die Max-Planck-Forscher beide Hirnareale in Struktur wie Funktion
voneinander abgrenzen. Werden also einfache Regeln vom Gehirn
verarbeitet, wie dies beim Affen offenbar auch erfolgt, so wird das
stammesgeschichtlich ältere Areal im Gehirn aktiviert. Hingegen wird
beim Anwenden komplexerer Regeln, die ein Affe nicht beherrscht, das
Broca Areal herangezogen.
Dieser Befund ist zum einen höchst aufschlussreich für die Lokalisierung
jener Funktionsbereiche im menschlichen Gehirn, die
Sprachverarbeitungsprozesse steuern. Zum anderen führt er exemplarisch
vor, auf welche Weise komplexe Fragestellungen - wie etwa die Entstehung
des menschlichen Sprachvermögens - disziplin- und fachübergreifend in
der modernen Forschung aufgegriffen und untersucht werden. Für die
Grundlagenforscher in Leipzig heißt das, als nächstes zu fragen, was die
unterschiedlichen Verknüpfungen zum Schläfenlappen für die
Sprachverarbeitung im Detail bedeuten.
(idw - MPG, 10.02.2006 - DLO)
Fortsetzung folgt morgen.
Montag, 30. September 2013
‘Das Bewusstsein ist grammatisch verfasst.’
Wann immer vom Menschen als von einem seiner-selbst-Bewussten die Rede ist, wird der Mensch als ein Handeln- der* stillschweigend vorausgesetzt. Der Satz ‘das menschliche Bewusstsein ist seiner Natur nach grammatikalisch strukturiert’ ist ein Quidproquo; alias gequirlter Mist. Nur weil der Mensch vorab die Fähigkeit entwickelt hat, sich auf Etwas zu richten, konnte es ihm einfallen, dafür eine Mitteilungsform für solche zu suchen, die ihm dabei helfen oder ihn dabei behindern können. Eine Mitteilungsform also, in der nicht eine ‘Information’ gleich wichtig und gleich wertig neben der andern steht, sondern das eine über das andere gesetzt wird. In den Hierarchien der Grammatik wird die Gerichtetheit der Handlungen ausgesagt: wer wen was.
Januar 23, 2010
*) "Die Sprache - will ich sagen - ist eine Verfeinerung, 'im Anfang war die Tat'." Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Ffm. 1994, S. 70
Der andere Weg der Sprachkritik.
Alle Philosophie ist "Sprachkritik", schrieb Wittgenstein schon im Tractatus [4.0031], doch ob man daraus, dass er selber kaum etwas anderes getan hat, schließen darf, wie es die zeitgenössische 'analytische' Schule tut, er habe sie für nichts als Sprachkritik gehalten, ist durchaus strittig. Unstrittig ist, dass er sie nicht im Sinne Mauthners verstanden wissen wollte [ebd.]. Damit sind die beiden großen Richtungen aufgezeigt, in die sprachkritisches Philosophieren gehen kann. Die eine macht, grob gesagt, den exakten Gebrauch der Wörter zum Maßstab für die Tauglichkeit des Denkens, und die andere macht das, was gedacht, was vorgestellt, was wirklich gemeint ist, zum Maßstab für die Tauglichkeit der Sprache. Zugrunde liegt die jeweils entgegengesetzte Antwort auf die Frage: Sind die Wörter die Bedingung des Vorstellens, oder ist das Vorstellen die Bedingung des Sprechens?
Mauthners Antwort ist klar: Grundlage des Denkens sind nicht die Wörter, sondern die Bilder - und die werden von den Wörtern nur unvollkommen wiedergegeben. Das Missverständnis entsteht nicht (erst) dadurch, dass die Wörter regelwidrig verwendet werden, sondern (bereits) dadurch, dass die Sprache zu dürftig ist, um den Reichtum des Gedachten auszudrücken.
Konsequenterweise hat er sich daher nicht auf das Argumentieren beschränkt, sondern ist zum Dichter geworden: Die Metapher erweitert die sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten, und was ihr an Genauigkeit fehlt, wiegt sie an Farbenpracht doppelt und dreifach auf.
Was übrigens Ludwig Wittgenstein gar nicht bestritten hätte: Ich glaube, meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfe man eigentlich nur dichten. in: Vermischte Bemerkungen, Ffm. 1994, S. 58.
Die eigentliche Bedeutung der Sprache, das, was sie dem Vorstellen gegenüber zu einem Mehr macht und nicht zu einem Weniger, ist, dass sie uns das (willkürliche) Erinnern erlaubt: Ohne Sprache keine Gedächtnis; und, darf man hinzufügen, ohne Gedächtnis keine Reflexion. Die Wörter erlauben uns das Verneinen, das Unterscheiden und folglich das Bestimmen, die ohne Vergleichen mit bereits Vorgestellten, also ohne Gedächtnis, nicht möglich wären. (Freilich braucht man zum Vergleich nicht nur die Unterscheidung, sondern auch die Zusammenführung; Gedächtnis ohne Humor ist pedantisch und unfruchtbar.)
aus Neue Zürcher Zeitung, 2. 12. 2010
upj. · Den Herolden der analytischen Philosophie gilt der späte Ludwig Wittgenstein – insonderheit seit den 1953 publizierten «Philosophischen Untersuchungen» – als einsame Lichtfigur der philosophischen Sprachkritik, als ob niemand vor ihm je erkannt hätte, dass die meisten Fragen der Philosophie auch Fragen nach der Bedeutung der Wörter und ihrer Verwendung sind. Da sich die moderne analytische Philosophie aber dezidiert ahistorisch gebärdet, ist ihr bisweilen entgangen, dass die ganze Philosophiegeschichte mit «sprachanalytischen» Positionen durchsetzt ist. Auch Wittgenstein hat auf den Schultern von anderen gestanden; man denke nur an das Werk Ernst Machs oder etwa an den ebenso genialen wie marginalisierten Fritz Mauthner. Mauthner, 1849 in Böhmen geboren und 1923 in Meersburg am Bodensee verstorben, hat ein großes, von Kennern geschätztes Werk hinterlassen, zu dem u. a. seine dreibändigen «Beiträge zu einer Kritik der Sprache» gehören. Darin wird die Sprachkritik als radikalste Vernunft- und Erkenntniskritik umrissen, der grundlegend metaphorische Charakter des Sprechens herausgearbeitet – und es werden, originell genug, gewisse sonderbare Blüten der Logik auf die «Tautologik» zurückgeführt. Wittgenstein hat das Werk Mauthners sehr wohl gekannt, wenn auch immer abgewertet.
Mauthner gehört zu jenen «Überbegabten», die in verschiedenen Sparten brillieren; Drama, Novelle, Schauspiel, Satire; hinzu kommen Beiträge zur Kulturgeschichte sowie eine vierbändige Geschichte des Atheismus im Abendland. Nach seinem Tod hat die damals sehr offene «Neue Zürcher Zeitung» diesem durchaus unbequemen und radikalen Geist am 8. Juli 1923 immerhin einen ganzseitigen Nachruf gewidmet. Um Mauthner, diesen so aufrechten und anregenden unter den radikalen Denkern, ist es erfreulicherweise nie ganz still geworden.
aus wikipedia
...
Zitat: „Zum Hasse, zum höhnischen Lachen bringt uns die Sprache durch die ihr innewohnende Frechheit. Sie hat uns frech verraten; jetzt kennen wir sie. Und in den lichten Augenblicken dieser furchtbaren Einsicht toben wir gegen die Sprache wie gegen den nächsten Menschen, der uns um unseren Glauben, um unsere Liebe, um unsere Hoffnung betrogen hat.“ (Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Das Schweigen)
Mauthner erhielt bei seinem Lehrer Ernst Mach in Prag die speziellen Grundlagen für seine späteren Arbeiten. Ernst Mach war als Physiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker ein vielseitiger Wissenschaftler, der auch Sinnesphysiologie und Psychologie in seine Überlegungen einbezog und bereits vor Albert Einstein das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum forderte. Mach gilt auch als einer der Wegbereiter der psychologischen Gestalttheorie.
Sein Schüler Fritz Mauthner war ebenso breitgefächert interessiert und setzte sich in wissenschaftstheoretischen Betrachtungen mit den aktuellen Ergebnissen der Psychologie auseinander. Von Mach übernahm Mauthner die Vereinigung der Raumdimensionen und der Zeitdimension im vierdimensionalen Kontinuum. Während Einstein diese Sichtweise auf den ganzen Kosmos anwendete, verknüpfte Mauthner diese moderne Ansicht mit psychophysiologischen Betrachtungen, die im Gedächtnis eine raumzeitliche Ordnung vermuten.
Zitat: „Wir werden die Zeit als die vierte Dimension des Wirklichen kennenlernen. In Anknüpfung daran wird es uns umso schneller einleuchten, daß unser Gedächtnissinn einzelne vergangene Vorstellungen, die sogenannten Erinnerungen, genau ebenso in der Zeit lokalisiert, wie unser Gesichtssinn seine Vorstellungen in den drei Dimensionen des Raumes lokalisiert. Und genau so wie der Schnittpunkt des Koordinatensystems für unsere Augen durch unser Gehirn geht, so ist der Nullpunkt für die Erstreckung der Zeit immer unsere Gegenwart; der Nullpunkt bleibt bei uns, während wir in der Zeit weiterleben, wie das Koordinatensystem des Raumes sich mit uns bewegt. Die begriffliche Schwierigkeit läge nur darin, daß das Gedächtnis uns die Zeit erst erzeugt, in welche es die Daten der übrigen Sinne projiziert.“
Mauthner schlug hier einen gedanklichen Weg ein, der den zeitlichen Aspekt der „Korrelationstheorie der Hirnforschung“, unseren „Arbeitstakt im Bewußtsein“, bereits in das Blickfeld rückte.
Zitat: „Und so halte ich es für eine brauchbare Hypothese, daß allerdings immer nur eine Vorstellung an dem Nadelöhr unseres Bewußtseins vorüberzieht, weil ja in diesem Sinne immer nur das Gegenwärtigste, d. h. das im geistigen Magen eben sich Assimilierende, das eben augenblicklich dem Gehirn Arbeit machende — daß das allein die Aufmerksamkeit fesselt (natürlich, weil ja auch die Gegenwart als Zeit nur die Nadelspitze zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, die Wirklichkeitswelt also in jedem Augenblick nicht breiter sein kann, als die Fadendünne dieses Augenblickes, als ein Nadelöhr), daß aber zugleich das Gedächtnis, d. h. die unbewußte Registratur des Gehirns, wohl über unseren ganzen Wissensschatz verfügt, alles mit der Augenblicksvorstellung zunächst Verwandte schon in Bereitschaft hält, also daß das Gehirn in seinem Gedächtnis den weiten Horizont besitzt, der die Welt der Erfahrung oder die Vergangenheit und die Welt der Möglichkeiten oder die Zukunft umfaßt.“ (Bewusstsein/Zeit und Assoziation)
Dem Gedächtnis kommt in Mauthners Sprachphilosophie eine zentrale Bedeutung zu. Zitate:
„Meine Überzeugung ist, daß die Rätsel der Sprache mit dem Schlüsselworte Gedächtnis zu lösen seien, oder vielmehr daß die Rätsel, welche das Wesen und die Entstehung der Sprache uns aufgibt, zurückzuschieben seien auf das Wesen des menschlichen Gedächtnisses.“
„Bei dem normalen Menschen ist Sach- und Wortgedächtnis aufs engste miteinander verbunden. Ja diese Verbindung ist eine bloße Tautologie, wenn ich mit der Behauptung recht habe, daß die Sprache oder der Wortschatz eines Menschen eben nichts anderes sei als sein individuelles Gedächtnis für seine Erfahrung. Die Sprache ist nichts als Gedächtnis, weil sie gar nichts anderes sein kann.“ (Gedächtnis und Sprache)
Gedächtnis, Bewusstsein und Sprache sind für Mauthner verschiedene Wörter für den ganzheitlichen Zusammenhang des Weltwissens aus einzelnen Erinnerungsbildern.
„Das Gedächtnis ist eine Tatsache des Bewußtseins und das Bewußtsein ist für uns nur als Gedächtnis eine Tatsache. Man könnte mit diesen Worten noch weiter jonglieren und würde doch nicht einmal in dem skeptischen Sinne der Sprachkritik zu einer festen Definition der beiden Begriffe gelangen. Wir ahnen jedoch, daß eine durch Selbstbeobachtung ermittelte Tatsache des Bewußtseins nicht das Abstraktum Gedächtnis ist, sondern nur die Reihe einzelner Erinnerungsbilder; wir ahnen, daß das Wort Bewußtsein eigentlich nichts anderes bedeutet als den Zusammenhang der Erinnerungsbilder (Bewußtes Gedächtnis)
Angeregt durch die Gestalttheorie stellte Mauthner den Begriff der „Ähnlichkeit“ in das Zentrum seiner erkenntnis- und sprachtheoretischen Betrachtungen.
Zitate:„Die Ähnlichkeit dürfte noch einmal die wichtigste Rolle in der Psychologie spielen. Vielleicht hat man die Ähnlichkeit bisher instinktiv darum vernachlässigt, weil man sonst zu früh hätte einsehen müssen, wie tief unser logisches oder sprachliches Wissen unter unseren wissenschaftlichen Ansprüchen stehe, wie weit entfernt unsere Begriffsbildung von mathematischer Genauigkeit sei; denn unsere Sprachbegriffe beruhen auf Ähnlichkeit, die mathematischen Formeln auf Gleichheit.“
„Absolute Gleichheit ist eine Abstraktion des mathematischen Denkens. In der Wirklichkeitswelt gibt es nur Ähnlichkeit. Gleichheit ist starke Ähnlichkeit, ist ein relativer Begriff.“
„Auf Ähnlichkeit, nicht auf Gleichheit ist alles Klassifizieren oder die Sprache aufgebaut, auf Ähnlichkeit, nicht auf Gleichheit all unser Urteilen oder die Anwendung der Sprache. Alle Logik aber, auch die Algebra der Logik, geht von dem mathematischen Begriff der Gleichheit aus und ist darum eine gefährliche Wissenschaft. Um nicht zu weit abzuschweifen, sei nur kurz erwähnt, daß auch der Begriff oder das Gefühl der Kontinuität aus dem Gefühle der Ähnlichkeit allein entsteht.“''
...
Nota.
Mauthner übertreibt, wenn er sagt, die Sprache sei Gedächtnis. Sie ist das objektivierte, öffentliche Gedächtnis der Gattung. Für das Gedächtnis der Individuen ist sie ein Schlüssel, eine Landkarte, ein dictionnaire raisonné. Sie verzeichnet die tags, unter denen man das im Speicher Erinnerte vergegenwärtigen kann.
J.E.
Sonntag, 29. September 2013
Diderot, dreihundert Jahre.
aus NZZ, 28. 9. 2013
Dr. Ulrich Kronauer ist als Honorarprofessor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie tätig; er war lange Jahre Mitarbeiter bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Ein «einzig Individuum»
Vor dreihundert Jahren wurde der Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot geboren
Vor dreihundert Jahren wurde der Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot geboren
Aufklärer und Causeur, Erzähler und Philosoph
sowie federführender Herausgeber der monumentalen «Encyclopédie», die
das Wissen ihrer Zeit zu präsentieren beanspruchte: Denis Diderot war
alles dies und noch einiges mehr. - Ein Blick auf Werk und Leben.
von Ulrich Kronauer
Am 9. März 1831 schreibt Goethe
an seinen Freund Carl Friedrich Zelter, der in einem Brief vom 5. März
das negative Urteil seiner Zeitgenossen über Diderots Roman «Jacques le
Fataliste» erwähnt hatte: «Diderot ist Diderot, ein einzig Individuum;
wer an ihm oder seinen Sachen mäckelt, ist ein Philister, und deren sind
Legionen. Wissen doch die Menschen weder von Gott noch von der Natur
noch von ihresgleichen dankbar zu empfangen, was unschätzbar ist.»
Zum Zeitpunkt dieser
leidenschaftlichen Parteinahme Goethes ist der französische Philosoph,
Erzähler und Herausgeber der «Encyclopédie» Denis Diderot bereits
annähernd 47 Jahre tot. Aber offensichtlich erregt der Autor von «Les
bijoux indiscrets», «La religieuse», «Jacques le fataliste» und «Le
neveu de Rameau» zumal in Deutschland noch im 19. Jahrhundert die
Gemüter. «Diderots Fataliste», wie Zelter schreibt, wird als unmoralisch
empfunden, ebenso die von Goethe in einer Übersetzung 1805 bekannt
gemachte Erzählung «Rameaus Neffe». Anstoss erregte zunächst einmal der
unverblümte Realismus, mit dem Diderot das Liebesleben seiner Figuren
schilderte. Allerdings delektierten sich die Philister, wie Zelter
anmerkt, trotz aller Empörung durchaus an mancher der Diderotschen
Frivolitäten.
Ein Leben, viele Projekte
Die Gründe dafür, dass Diderots
Werke immer wieder provozierten, lagen aber tiefer. Der Realismus bei
der Beschreibung der menschlichen Sexualität war Teil einer Weltsicht,
die sich von religiösen, gesellschaftlichen, ideologischen Vorurteilen
freigemacht hatte. Wie gefährlich es war, eine solche Sicht öffentlich
zu dokumentieren, musste auch Diderot erfahren. Dass viele seiner
Schriften nur in der für einen ausgewählten Kreis europäischer
Aristokraten bestimmten handschriftlichen «Correspondance littéraire,
philosophique et critique» erschienen oder erst aus dem Nachlass
veröffentlicht wurden, geht auf die traumatische Erfahrung zurück, die
der Autor mit der Zensur gemacht hatte.
Geboren wurde Denis Diderot am 5.
Oktober 1713 als zweites Kind des angesehenen Messerschmieds Didier
Diderot und seiner Frau Angélique Vigneron in Langres in der Champagne.
Er besuchte das Jesuiten-Kolleg in Langres, ging dann nach Paris und
studierte an der Sorbonne. Anschliessend war er zunächst Anwaltsgehilfe,
arbeitete als Hauslehrer, schrieb Predigten für angehende Geistliche.
Ab 1740 veröffentlichte er Artikel in Zeitschriften und war auch als
Übersetzer tätig. Seine Reise nach Langres im Dezember 1742 wurde zum
Desaster. Er wollte die väterliche Erlaubnis zur Heirat mit der
Weissnäherin Anne-Toinette Champion einholen, zerstritt sich aber mit
dem Vater, der ihn daraufhin in einem Kloster bei Troyes inhaftieren
liess. Nach seiner Flucht heiratete er im November des folgenden Jahres.
Es wurde keine glückliche Ehe. Diderot hatte mehrere Affären; seine
langjährige Beziehung mit Sophie Volland ist in vielen Liebesbriefen
Diderots dokumentiert.
Im Oktober 1747 unterschrieb
Diderot zusammen mit Jean le Rond d'Alembert den Vertrag über die
Herausgabe des monumentalen Nachschlagewerks «Encyclopédie ou
dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers». Dieses
Werk, an dem so bedeutende Köpfe wie d'Holbach, Marmontel, Quesnay,
Rousseau, Duclos, Turgot und Voltaire mitarbeiteten und das man die
«Kriegsmaschine» der Aufklärung genannt hat, erschien als Folio-Ausgabe
von 1751 bis 1772 in insgesamt siebzehn Text- und elf Tafelbänden. Als
«dictionnaire raisonné» war die «Encyclopédie» der Vernunft
verpflichtet, und ihre Mitarbeiter sollten nur der Überzeugung folgen,
die der Evidenz entspringt. Komplikationen waren absehbar; das
Unternehmen, das Diderot nach dem Ausscheiden d'Alemberts 1758 allein
schultern musste, geriet immer wieder ins Visier der Zensoren, die den
Druck zeitweilig verboten.
Die erste, überaus schmerzhafte
Erfahrung mit der Zensur machte Diderot im Juli 1749. Zwar war sein
«Brief über die Blinden» anonym an einem fingierten Druckort erschienen,
aber die Vorsichtsmassnahme half nichts: Diderot wurde verhaftet, mit
Blick auf den «Brief» und andere Schriften verhört und in die Festung
Vincennes gebracht. In der «Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux
qui voient» führt der blinde Mathematiker Saunderson auf dem Sterbebett
ein Gespräch mit einem Vikar, bei dem sich der Blinde nicht von der
Existenz Gottes überzeugen lässt.
Schlimmer noch: Saunderson stellt
von Lukrez inspirierte Überlegungen über einen Anfang an, «als die in
Gärung befindliche Materie das Weltall hervorbrachte», und spekuliert
über die Möglichkeit, dass das «stolze Wesen, das sich Mensch nennt»,
einem «allgemeinen Reinigungsprozess der Welt» zum Opfer gefallen wäre.
Das hinter diesen Gedanken stehende materialistische Weltbild wird in
den Schriften Diderots dann immer wieder thematisiert, allerdings so,
dass es dem Zensor möglichst verborgen bleibt. In der 1769 entstandenen,
aus dem Nachlass herausgegebenen Schrift «D'Alemberts Traum» lässt
Diderot den Mathematiker d'Alembert im Schlaf sagen: «Wer kennt die
Tiergeschlechter, die uns vorausgegangen sind, und wer die
Tiergeschlechter, die den unsrigen folgen werden? Alles verändert sich,
alles vergeht, nur das All bleibt. Die Welt beginnt und endet
unaufhörlich; sie ist in jedem Zeitpunkt an ihrem Anfang und an ihrem
Ende.»
Im November 1749 wurde Diderot in
die Freiheit entlassen. Durch die Festungshaft völlig zermürbt, hatte er
dem Polizeipräfekten einen Brief geschrieben, in dem er die «geistige
Vermessenheit» bereut, aus der heraus er den Brief über die Blinden und
die anderen inkriminierten Schriften verfasst habe, und beteuert, in
Zukunft nichts mehr ohne die Erlaubnis des Präfekten zu veröffentlichen.
Dieser Brief, ein deprimierendes Dokument der Selbsterniedrigung, zeigt
überdeutlich, welchen Gefährdungen und psychischen Belastungen ein
Freigeist damals ausgesetzt war.
«Glänzende Geschäfte»
In den folgenden Jahren nahm
Diderot vor allem die Herausgabe der «Encyclopédie» in Anspruch. Ab 1756
arbeitete er daneben an der von seinem Freund Friedrich Melchior Grimm
herausgegebenen «Correspondance littéraire» mit. Dort erschienen nicht
nur etliche seiner Erzählwerke in Fortsetzungen, sondern auch seine zum
Teil sehr umfangreichen Berichte über die Ausstellungen im Louvre, die
sogenannten «Salons», die man als Ursprung der Kunstkritik bezeichnet
hat. In Deutschland wurde Diderot als Autor der bürgerlichen Dramen «Le
fils naturel» (1757) und «Le père de famille» (1758) sehr geschätzt. In
der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings wurden diese Stücke, die nicht
im höfischen, sondern im häuslichen Milieu spielten und in denen
Diderots Tugendbegeisterung zum Ausdruck kommt, weit häufiger gespielt
als in Frankreich.
Im November 1764 entdeckte
Diderot, dass sein französischer Verleger Le Breton in die jüngst
erschienenen Bände der «Encyclopédie» massiv mit Kürzungen und
Textänderungen eingegriffen hatte. Zutiefst verbittert sagte Diderot dem
Verleger «finanziellen Verlust und Schande» voraus. Hier irrte er. Wie
wir aus der Studie «The Business of Enlightenment» von Robert Darnton
wissen, liessen sich mit der «Encyclopédie» «glänzende Geschäfte»
machen. Diderot wurde seiner finanziellen Sorgen ausgerechnet durch eine
Kaiserin enthoben. Katharina II. von Russland kaufte 1765 seine
Bibliothek und machte ihn gleichzeitig zu ihrem eigenen Bibliothekar
auf Lebenszeit. 1773 reiste er auf kaiserliche Einladung nach St.
Petersburg und führte mehrmals wöchentlich angeregte Gespräche mit
Katharina. Nach seiner Rückkehr 1774 gab er indes seine Enttäuschung
über den aufgeklärten Absolutismus Katharinas zu erkennen. Die Kaiserin
wiederum, der nach Diderots Tod ein Text in die Hände kam, in dem der
Philosoph für die Abschaffung der Leibeigenschaft plädierte, warf «das
Geplapper» ins Feuer.
Seit 1766 war Diderot als anonymer
Autor an einem vielbändigen Werk beteiligt, das zu einem der grössten
Bucherfolge in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
wurde, der «Histoire philosophique et politique des établissements et du
commerce des Européens dans les deux Indes» von Guillaume Raynal. Zumal
zu der dritten Ausgabe des Werks von 1780 hatte Diderot einen grossen
Teil beigesteuert. Und es war Diderot, der voller Pathos und Emphase die
Auswüchse des Kolonialismus anprangerte, der die Sklaven zum
bewaffneten Widerstand aufrief, die Loslösung der Kolonien vom
Mutterland guthiess und Europa nach der Revolution Nordamerikas radikale
Veränderungen vorhersagte. Die «Geschichte beider Indien» fand
begeisterte Leser, rief aber, wie nicht anders zu erwarten, die Zensur
auf den Plan und zwang Raynal nach Erscheinen der dritten Ausgabe zur
Flucht ins Ausland.
Materialist mit Herz
Im Februar 1784 erlitt Denis
Diderot einen Schlaganfall; am 31. Juli 1784 starb er im Kreis der
Familie. - Es fällt nicht leicht, das Werk des grossen Aufklärers auf
einen Nenner zu bringen. Zu den Besonderheiten des Diderotschen
Erzählens und Philosophierens gehört das Dialogische, die Aufteilung des
Erzählens, Argumentierens und Räsonierens auf mehrere Personen, den
Leser inbegriffen. Es geht in Diderots Texten nicht in erster Linie
darum, eine These zu demonstrieren, zum Schluss zu kommen, ein Ergebnis
zu erzielen, zu überzeugen. Viel wichtiger sind die Anregungen, die
durch die verschiedenen Perspektiven gegeben werden, die die Vorurteile
des Lesers erschüttern, ihn zum Nachdenken bringen sollen. Und nicht zu
vergessen ist das Vergnügen, das der Autor mit seinen Geschichten,
seinen überraschenden Pointen und seinen zum Teil auch derben Spässen
bereitet.
Zwar nimmt Diderot von der hohen
Warte seiner materialistischen Philosophie aus die Spezies Mensch als
ein dem Werden und Vergehen unterworfenes Zufallsprodukt der Natur wahr,
er bringt dem Individuum aber gleichwohl grösstes Interesse entgegen.
Seine Anteilnahme am Los der Sklaven und Leibeigenen, der Leidenden und
Irrenden ist offensichtlich - und nicht allein aus der übergrossen
Sentimentalität, die er sich selbst zusprach, zu erklären. Er meinte es
ernst, wenn er wie Rousseau, sein Bruder im Geiste und späterer Feind,
im Mitleid die Grundlage für einen humanen Umgang der Menschen
miteinander erkannte - in einer Fähigkeit, die, wie beide glaubten, dem
Menschen angeboren ist, die jeglicher Reflexion vorausgeht und aus der
alle sozialen Tugenden entspringen.
In seiner Meistererzählung
«Rameaus Neffe» zeichnet er das Bild eines Schmarotzers ohne alle Moral,
eines Speichelleckers, der sein Auskommen an den Tischen der Reichen
sucht, der aber auch in der Ehrlichkeit, mit der er seine Rolle in einer
dekadenten und korrupten Gesellschaft beschreibt, dieser Gesellschaft
den Spiegel vorhält. Seine Pfründe bei einem reichen Gönner verliert der
Neffe des berühmten Komponisten, weil er einmal aus der Rolle fällt,
das Spiel der Erniedrigung nicht mitmacht. Er legt seine rechte Hand auf
die Brust und sagt (in der Übersetzung Goethes): «Hier fühle ich etwas,
das sich regt, das mir sagt: Rameau, das tust du nicht. Es muss doch
eine gewisse Würde mit der menschlichen Natur innig verknüpft sein, die
niemand ersticken kann.» Ausgerechnet der in Diderots Dialog-Erzählung
die Rolle des amoralischen Subjekts spielende Neffe beruft sich auf die
«dignité attachée à la nature de l'homme». Spielt er damit dem als «Moi»
bezeichneten Gesprächspartner nur etwas vor, verhält er sich ironisch
zur anspruchsvollen Menschenwürde? Spielt Diderot mit dem Leser - oder
meinen es Diderot und der Neffe ernst? Hat auch der verworfene
Schmarotzer eine Würde, verdient er Achtung, vielleicht Mitleid?
In der «Geschichte beider Indien»
setzt sich Diderot mit Argumenten der englischen Kolonialherren und
Unterdrücker auseinander und betont, dass die Freiheit ein höchstes Gut
darstelle, das unter keiner Bedingung geopfert werden dürfe. Macht es
die monströse Figur des Neffen nicht menschlich, zu einem «Individuum»,
wie Goethe sagen würde, dass auch sie diese Freiheit nicht vollständig
aufgeben will und kann? Zwar ruft der Neffe bei seinem Gegenüber
Gelächter hervor, wenn er erklärt: «Ich will mich wohl wegwerfen, aber
ohne Zwang. Ich will von meiner Würde heruntersteigen . . .» Aber wer
da lacht, ist nur der «Moi» genannte Gesprächspartner des Neffen, nicht
der Autor Denis Diderot.
Dr. Ulrich Kronauer ist als Honorarprofessor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie tätig; er war lange Jahre Mitarbeiter bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Samstag, 28. September 2013
Ach ja, das Ich...
aus Der Standard, Wien, 28. September 2013,
Das Ich liegt in Scherben
Furiose Berg-und-Tal-Fahrt durch die Geistesgeschichte auf dem Philosophicum Lech
von Michael Freund
Lech - Wollen wir uns über das Ich im Klaren werden, stehen wir eigentlich vor einer unlösbaren Aufgabe. Schon die begleitenden Grundbegriffe sind verwirrend: "Individuum", etwas ganz anderes als Individualität; "Person", ursprünglich nur eine Maske, eine Rolle; "Selbst", psychologisch oder doch philosophisch zu definieren; "Bewusstsein", ein Wort, für das es im Englischen zwei sehr verschiedene Übersetzungen gibt, wie überhaupt viele einschlägige Termini sich kaum übersetzen bzw. rückübersetzen lassen: me, myself and I ...
Und trotzdem, sagt Philosophieprofessor und Autor ("Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?") Richard David Precht, sprechen wir dauernd und offenbar mühelos in der Ich-Form. Aufgabe des Philosophen ist es aber, Begriffe auf ihre historische Bedingtheit und Brauchbarkeit hin zu untersuchen.* Beim 17. Philosophicum Lech nähert sich Precht dem Symposiumsthema "Ich. Der Einzelne in seinen Netzen" in Form einer furiosen Berg-und-Tal-Fahrt durch die Geistesgeschichte.
Ich und Neurowissenschaft
Der zweite große Gipfel nach den Griechen war die Hausse vom Ich in Zeiten der Aufklärung, die Emanzipation des Bürgertums begleitend. Damals genoss die introspektive Methode - sich selber Gedanken über (Ich-)Erfahrungen zu machen - höheres Ansehen als der an den Naturwissenschaften orientierte Empirismus. Heute hingegen stehen wir vor einem "Scherbenhaufen der Ich-Philosophie", nicht zuletzt angesichts der Erfolge der Neurowissenschaften.
Diese machen das Ich an Hirnregionen fest, quasi als Nebenprodukt der Evolution. Sind wir damit am Ende der Ich-Geschichte? Keineswegs. Es gehört zu den Erkenntnissen in Lech, dass über die vermeintlichen Grenzen oder endgültigen Antworten hinaus weitergedacht und diskutiert wird. Konrad Paul Liessmann, Leiter des Symposiums, und Peter Strasser (Uni Graz) spannen den Bogen vom Vereinzelten zum "Massenmenschen", von der Selbstsorge zum Narzissmus, von der Antiquiertheit des Privaten bis zur Orientierung an sozialen Netzen. - Von weiteren Vorträgen wird noch zu berichten sein.
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Philosophicum Lech
*) Soll das allers sein? Ich glaube, so meint es Precht. Nun ist es zwar richtig, dass die Philosophie nicht da ist, um uns die Welt zu erklären. Aber um uns unser Wissen von der Welt zu erklären. Damit ist schon viel gewonnen. Es lehrt uns nämlich, aus welchen Themen sich die Philosophie herauszuhalten hat und aus welchen die Naturforschung.
J.E.
aus DiePresse.com, Wien, 27.09.2013 | 16:50 | Foto: Zintzen
Philosophie: Sicherlich gibt es mich – oder?
Wieso
ist uns heute Authentizität so wichtig? Und was ist das Ich überhaupt?
Das fragt das Philosophicum Lech heuer. Zu Beginn glänzte vor allem
Richard David Precht.*) Soll das allers sein? Ich glaube, so meint es Precht. Nun ist es zwar richtig, dass die Philosophie nicht da ist, um uns die Welt zu erklären. Aber um uns unser Wissen von der Welt zu erklären. Damit ist schon viel gewonnen. Es lehrt uns nämlich, aus welchen Themen sich die Philosophie herauszuhalten hat und aus welchen die Naturforschung.
J.E.
aus DiePresse.com, Wien, 27.09.2013 | 16:50 | Foto: Zintzen
Philosophie: Sicherlich gibt es mich – oder?
Von Thomas Kramar
Sicherlich gibt es mich: Ich bin ich.“ Sie mussten fallen, die Worte aus Mira Lobes zauberhaftem Kinderbuch „Das kleine Ich-bin-ich“, und sie fielen – schon am ersten „richtigen“ Tag des Philosophicums Lech zum Thema „Ich“, beim Vortrag des Grazer Philosophen Peter Strasser. Das kleine Ich-bin-ich ist im Moment seiner Ich-Findung sofort mit sich selbst und seinem Ich im Reinen, es ist, was und wie es ist, und das ist gut so: ein paradiesischer Zustand. „Im postparadiesischen Leben jedoch“, so Strasser, „bedarf es einer beschwerlichen, bisweilen lebenslangen Anstrengung, um der zu werden, der man ist.“ Oder der man sein sollte.
Wer sollte man denn sein? Kein nur auf sich selbst fixierter „idiotes“, meinte Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle. Lieber ein „polites“, der sich um die Gemeinschaft kümmert (und auch vor dem Wahlkampf nicht zurückschreckt). Aber auch kein Hallodri (von „Allotria“), der sich nur für das andere und die anderen interessiert. Man brauche doch etwas „Oikeiosis“ (ein Lieblingsbegriff der Stoa, von Cicero als „sensus sui“ übersetzt), Interesse für sich selbst, um den Logos entfalten zu können und sich erfolgreich um die Polis zu kümmern.
So brachte Töchterle in seinem geistreichen Kurzvortrag zur Eröffnung schon ein Hauptmotiv des heurigen Philosophicums: Das Ich kann nur mit den Anderen oder gegen die Anderen gefunden werden. Auch das kleine Ich-bin-ich kommt ja erst auf die Idee, seine Identität zu suchen, als es die anderen Tiere getroffen hat, die schon eine haben.
Adam, (beinahe) so wie Gott
Und wo begann diese Kette? „Der Erste, der Ich sagt, ist Gott – und er macht gleich ein Abbild seiner selbst“, sagte Konrad Paul Liessmann beim traditionellen Präphilosophicum-Märchenabend gemeinsam mit Michael Köhlmeier. Die beiden legten zunächst ein sehr tiefes Märchen aus: die Schöpfungsgeschichte, in deren älterer Variante Gott ja die Welt nicht schafft, sondern „nur“ ordnet, das Tohuwabohu aufräumt. Dann machte er Adam als sein Ebenbild, aber – so eine apokryphe Geschichte – auf Betreiben des Erzengels Michael ein bisschen hässlicher: Ein Unterschied muss ja sein. Und warum machte er überhaupt einen Menschen? Weil ihm langweilig war, so die Antwort des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard. Damit dem Adam nicht fad war, bat er dann um die Erschaffung der Eva. Doch dann wollten die beiden wirklich sein wie Gott – und mussten aus dem Paradies. „Wie musste Gott sich gefühlt haben, als er sein Ebenbild Adam aus dem Paradies verstieß?“, fragte Liessmann. „Hat er sich dabei nicht auch von sich selbst entfremdet?“ Samael jedenfalls, der gleich in die Hölle verstoßen wurde, weil er sich weigerte, vor Adam zu knien, habe aufbegehrt. „Nur wer aufbegehrt, erfährt, was er ist“, interpretierte Liessmann hübsch existenzialistisch: „Die Ich-Werdung des Menschen beginnt, wo er das erste Mal Nein sagt.“
Aber muss man überhaupt so penetrant sein Ich, seine Identität suchen, wie das heute geradezu verpflichtend ist? Muss man unbedingt Mündigkeit, Autarkie, Authentizität anstreben? Quält uns die Angst vor Abhängigkeit, vor Pflegebedürftigkeit, gar Demenz im Alter nicht sinnlos? Es geht auch anders, meinte Gernot Böhme aus Darmstadt: In der japanischen Kultur gelte es als Tugend, auch abhängig sein zu können, ja die Abhängigkeit von anderen zu genießen.
Also ist die Hoch- bis Überschätzung des Ich typisch für unsere heutige westliche Kultur? „Erkenne dich selbst!“, sei über der Antike gestanden, über der Moderne steht „Sei du selbst!“ Diesen Aphorismus von Oscar Wilde zitierte Richard David Precht, der in seinem bewundernswerten, völlig frei gesprochenen, so klaren wie originellen Vortrag zeigte, dass er sich die Medienpräsenz, die ihm manche Kollegen neiden, gewiss nicht nur mit seinem Aussehen verdient hat.
Precht sieht den Höhenflug des Ich in der europäischen Philosophie – also vor allem den deutschen Idealismus, mit Fichte, bei dem das Ich sich selbst „setzt“, als Höhepunkt – als Voraussetzung für den Aufstieg des Bürgertums. Für Kant wurzelte alle Erkenntnis im Ich, so waren für ihn auch Aussagen über die Welt ohne jede Empirie (die synthetischen Urteile a priori) möglich. „Damals musste sich die Philosophie noch nicht der Naturwissenschaft anbiedern“, konstatierte Precht mit eleganter Selbstironie.
Precht sieht acht Ichs
Er weiß: Heute ist das anders. Und er meint, dass es nicht Schopenhauer und Nietzsche waren, die mit ihrem „Willen“, der eben zugleich mehr und weniger als das Ich ist, den Idealismus „gekillt“ haben, sondern die per se materialistische Biologie. Genauer: die Darwin-Rezeption eines Ludwig Büchner („Kraft und Stoff“) oder eines Ernst Haeckel. Sie begannen, das Ich zu zerpflücken, im Hirn zu verorten. Hegel konnte noch über die Schädelvermessung des Franz Joseph Gall spotten, „das war eben noch ein schwacher Gegner“, so Precht. Die heutige Hirnforschung sei stärker und werde noch stärker. Eines ihrer stärksten Argumente seien die partiellen Ich-Verluste durch Hirntraumata. So schlägt Precht – sozusagen in Verfeinerung des Freud'schen Es-Ich-Überich-Modells – eine Gliederung des Ich in acht Ichs vor, in aufsteigender Reihenfolge, sozusagen vom Vieh hinauf zu Kant: Körper-Ich, Verortung-Ich, perspektivisches Ich, Ich als Erlebnissubjekt, Autorenschaft-Ich („Ich bin Urheber meiner Taten und Worte“), autobiografisches Ich, selbstreflexives Ich, moralisches Ich.
Ist also das eine, einige Ich nur eine Illusion? Hier kokettiert Precht damit, dass das Ich ebenso wie Religion und Liebe nur ein „Abfallprodukt der Evolution“ sei. Dem Fortpflanzungserfolg sei das Grübeln über das Ich jedenfalls abträglich. „Sonst müssten die Philosophieprofessoren ja besonders viele Kinder haben.“ Man wusste sofort: Dieses Thema würde in der abendlichen Philosophenbar noch ausgiebig besprochen werden. Von Ich-bin-ich zu Ich-bin-ich.
Den Vortrag von Konrad Paul Liessmann lesen Sie im „Spectrum“.
Freitag, 27. September 2013
Zermürbendes Trommelfeuer.
aus scinexx
Online-Zeit nimmt unserem Gehirn den Leerlauf
Facebook und Co drohen das Arbeitsgedächtnis des Gehirns zu überlasten
Ständig sind wir online, immer auf dem Laufenden: Dank der neuen Technologien können wir uns immer und überall auf den neuesten Stand bringen. Aber welche Folgen hat diese ständige Informationsflut für unser Gehirn? Ein schwedischer Forscher warnt: Wir nehmen unserem Denkorgan damit wichtige Leerlauf-Pausen - Zeiten, in denen es das zuvor Aufgenommene verarbeiten kann. Das aber kann zur Überlastung des Arbeitsgedächtnisses führen.
Entgegen gängiger Annahme ist unser Gehirn auch in Phasen des Leerlaufs aktiv, wenn wir untätig sind, herumträumen oder sogar dösen. "Unser Gehirn ist so konstruiert, dass es immer zwischendurch in einen weniger aktiven Zustand verfällt", sagt Erik Fransén vom Königlichen Institut für Technologie in Stockholm. "Das mag uns als Verschwendung erscheinen, ist aber wichtig, denn in dieser Zeit werden Erinnerungen gefestigt und Informationen vom Arbeitsgedächtnis in das Langzeitgedächtnis übertragen."
Engpass Arbeitsgedächtnis
Doch durch unsere moderne Lebensweise gehen diese Phasen des einfach nur Entspannens zunehmend verloren: Selbst an der Bushaltestelle, im Wartezimmer des Arztes oder in der U-Bahn nutzten wir unsere Smartphones und Tablets, um ständig das Neueste aus unserem sozialen Netzwerk oder dem Weltgeschehen abzurufen. All dies gelangt zunächst in unser Arbeitsgedächtnis.
"Dieses hilft uns dabei, die Informationen zu filtern und gezielt das aus der Kommunikation zu entnehmen, das wir brauchen", erklärt Fransén. "Dieser Teil des Gedächtnisses ist es auch, der arbeitet, wenn wir online sind und uns die dort gesehenen Dinge merken." Das Problem dabei: Unser Arbeitsgedächtnis hat nur eine begrenzte Kapazität - ähnlich wie der Arbeitsspeicher eines Computers.
Überlast durch Facebook und Co.
In Computermodellen der Hirnfunktion ermittelte Fransén, dass wir uns darin nur etwa drei bis vier Dinge gleichzeitig merken können. Wenn wir versuchen, mehr aufzunehmen, wird das System überlastet und Daten gehen verloren. Das könne beispielsweise passieren, wenn man während der Arbeit chatte oder auf Facebook sei und dabei große Mengen an Informationen auf einmal die Wahrnehmung überfluten. Denn die über die verschiedenen Sinne einströmenden Reize benötigen alle die gleiche begrenzte Ressource: Platz im Arbeitsgedächtnis.
Diese Überlast trainiere nicht das Gedächtnis, es schwäche sie durch ständiges Störfeuer neuer Daten, so der Forscher. Dadurch werde die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses kleiner und auch die Verarbeitung der Daten funktioniere nicht mehr so reibungslos. Wenn dann auch noch der Leerlauf wegfällt, kann das Arbeitsgedächtnis diese Überlast nicht abarbeiten, als Folge gehen Daten verloren. "Wenn wir durch diese Technologien unsere komplette wache Zeit ausfüllen, nehmen wir dem Gehirn die Zeit für die Verarbeitung - das kann auf Dauer nicht funktionieren", so Fransén.
(The Royal Institute of Technology, 23.09.2013 - NPO)
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