Mittwoch, 1. Januar 2014

Vesalius und die Geschichte der Anatomie.

aus NZZ, 31. 12. 2013

Einblicke ins Innerste
Zum 500. Geburtstag von Andreas Vesalius liegt sein wegweisender Anatomieatlas in englischer Sprache vor.


von Martin Amrein 

Der in Brüssel geborene Mediziner Andreas Vesalius führte im 16. Jahrhundert die Anatomie in die Moderne. Zwei amerikanische Professoren haben nun sein Hauptwerk übersetzt.

Gerade einmal 28 Jahre alt war der flämische Anatom Andreas Vesalius, als er sich mit der Veröffentlichung eines Lehrbuchs unsterblich machte. «De humani corporis fabrica» («Über den Bau des menschlichen Körpers, kurz: Fabrica») erschien 1543 in Basel und gilt heute als eines der bedeutendsten Bücher der frühen Neuzeit. Nicht nur, weil Vesalius damit die moderne Anatomie begründete, sondern auch, weil der Anatomieatlas, der mehr als 270 Holzschnitte enthält, ein Glanzstück der Buchkunst seiner Zeit darstellt. Im anbrechenden Jahr 2014 wäre Vesalius 500 Jahre alt geworden. Das Jubiläum hat der Basler Verlag Karger zum Anlass genommen, eine englische Ausgabe der «Fabrica» vorzulegen (siehe Kasten). Mehr als zwei Jahrzehnte dauerten die Übersetzungsarbeiten, vorgenommen durch den Altphilologen Daniel Garrison und den Mediziner Malcolm Hast, beides emeritierte Professoren der Northwestern University in Chicago.

 
Ungewöhnliche Proportionen

Garrison führt das Interesse Vesalius' am menschlichen Körper auf dessen eigene anatomische Besonderheit zurück: Der an Silvester 1514 in Brüssel geborene Vesalius war wohl kleinwüchsig. Zwar gibt es dafür keine schriftlichen Belege. Auf dem einzigen von Vesalius autorisierten Porträt, das auch in der «Fabrica» enthalten ist, sind seine ungewöhnlichen Proportionen aber deutlich zu erkennen.
Als Sohn eines kaiserlichen Leibapothekers Karls V. genoss Vesalius seine Ausbildung an besten Adressen. Nach einem altsprachlichen Studium in Löwen studierte er ab 1533 an der Universität Paris Medizin. Dort gehörte der angesehene Anatom Jacobus Sylvius zu seinen Lehrern. Das Sezieren menschlicher Körper vor Studenten war noch neu und fand nur selten statt. Das Wissen stammte vornehmlich aus Büchern. Während der Hochblüte des Renaissance-Humanismus galt der griechische Arzt Galen, im Jahr 129 in Pergamon geboren, als unantastbare Autorität. Stellten Vesalius' Professoren bei einer Leiche eine Abweichung von Galens Lehre fest, hielten sie das untersuchte Organ für eine Missbildung. Bei einem Metzger habe man mehr über Anatomie lernen können als im Vorlesungssaal, äusserte sich Vesalius später zu seiner Studienzeit in Paris.

Professur in Padua

Zurück in Löwen, wo Vesalius 1537 sein Studium beendete, wollte er selber Hand anlegen. Dazu stahl er ausserhalb der Stadt heimlich die Überreste eines Hingerichteten, präparierte sie und erstellte daraus ein Skelett. Dank seinen Kontakten zu einflussreichen Personen war es ihm später auch erlaubt, private Sektionen an Leichen vorzunehmen.

Bald darauf trat der begabte Mediziner eine Professur für Chirurgie an der Universität Padua an, wo er den Anatomieunterricht reformierte. Er dozierte nicht wie zuvor üblich von der Lehrkanzel herab, während Assistenten dem Publikum eine Leiche präsentierten. Vielmehr sezierte er selber und erläuterte gleichzeitig seine Befunde. Überliefert ist, dass er die entnommenen Organe auch unter den Studenten herumreichen liess. Seine Haltung, nur dem zu trauen, was direkt beobachtbar ist, sollten auch sie übernehmen.

Anatomiesaal in Padua

Während seiner Zeit in Norditalien führte Vesalius zahlreiche - auch der Öffentlichkeit zugängliche - Sektionen durch. Die Leichen dafür überliess ihm das Gericht, das gleich auch dafür sorgte, dass Hinrichtungen in der Regel im Winter vollstreckt wurden. Die kalte Jahreszeit verzögerte den Verwesungsprozess der geöffneten Körper, an denen Vesalius manchmal bis zu drei Wochen hantierte.
Vesalius fielen immer mehr Widersprüche zwischen den eigenen Befunden und den Ansichten Galens auf. Bald einmal wurde ihm bewusst, dass Galen gar keine Menschen, sondern hauptsächlich Hunde oder Affen seziert hatte und seit der Antike in weiten Bereichen Tieranatomie gelehrt wurde.


200 Irrtümer richtiggestellt

Um diesen Missstand zu beheben, begann Vesalius mit den Arbeiten an einem Anatomieatlas, der so akkurat werden sollte wie keiner zuvor: die «Fabrica». Im Sommer 1542 schickte er das fertige Manuskript und die in Venedig geschnittenen Holzstöcke zum Basler Verleger Johannes Oporinus, dessen Arbeit er schon bei früheren Aufträgen schätzen gelernt hatte. Wer die kunstvollen Holzschnitte gestaltet hat, ist bis heute ein Rätsel. Vermutlich waren es verschiedene Tizian-Schüler, darunter Jan Stephan van Kalkar. Als das Buch ein Jahr später erschien, waren darin nach Vesalius' eigenen Angaben mehr als 200 Irrtümer Galens richtiggestellt, darunter die Vorstellung eines zweiteiligen Unterkiefers und die Ansicht, dass Blut durch Poren in der Herzscheidewand fliesst.

In der Folge wurde Vesalius gefeiert, aber auch übel beschimpft. Traditionelle Anhänger Galens waren vom Werk entsetzt. Der einstige Lehrer Sylvius wandte sich gar schriftlich an Karl V., um sich über Vesalius zu beschweren: «Ich flehe Seine kaiserliche Majestät an, ihn schwer zu bestrafen, wie er es verdient, dieses Monster, dieses schlimme Beispiel von Ignoranz, Undankbarkeit, Anmassung und Respektlosigkeit.» Das Gegenteil geschah. Nach dem Erfolg der «Fabrica» stellte Karl V. den jungen Mediziner als Leibarzt ein.

Damit brach Vesalius seine Universitätslaufbahn ab. Weshalb er dies tat, ist umstritten. Vielleicht wollte er die familiäre Tradition fortsetzen oder hegte den Wunsch, als Arzt praktisch tätig zu sein. Ebenso unklar sind die Umstände, unter denen Vesalius 20 Jahre später ums Leben kam. Noch immer in kaiserlichen Diensten, unternahm er eine Reise ins Heilige Land, bei deren Rückkehr er 1564 auf der Insel Zakynthos im Ionischen Meer starb. Laut einer Legende musste Vesalius die Pilgerreise zur Sühne antreten. Er soll eine Frau seziert haben, deren Herz noch immer schlug.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen