Donnerstag, 2. Januar 2014

Polynesische Mathematik: Mangareva vor Leibniz.

aus NZZ, 31. 12. 2013                                                                   Mangareva

Komplexe Arithmetik auf einer polynesischen Insel
Kombination von Binär- und Dezimalsystem vor 500 Jahren 

von George Szpiro

Das binäre Zahlensystem gilt als «Erfindung» von Gottfried Wilhelm Leibniz. Zwei Psychologen haben jedoch kürzlich entdeckt, dass die Bewohner einer polynesischen Insel schon zwei Jahrhunderte früher binäre Zahlen verwendeten.

Elektronenrechner manipulieren in ihrem Inneren bloss zwei Ziffern, nämlich 0 und 1. Das sogenannte Binärsystem ist allerdings keine moderne Erfindung. Die beiden Psychologen Andrea Bender und Sieghard Beller von der Universität Bergen in Norwegen haben kürzlich herausgefunden, dass die Bewohner der Insel Mangareva in Französisch-Polynesien schon vor mehreren Jahrhunderten das binäre System benutzten, um ihre Schafe und andere Güter zu zählen.¹ Noch erstaunlicher ist, dass die Inselbewohner das Binärsystem mit dem uns geläufigen Dezimalsystem kombinierten.

Nach Massgabe der Finger

Arithmetik ist seit Urzeiten ein unabkömmliches Hilfsmittel, vor allem um Handel zu treiben. Zur Abzählung und anschaulichen Darstellung kleiner Mengen war es naheliegend, die Finger beider Hände zu benützen. So entstand das Zehner- oder Dezimalsystem, das schon in hieroglyphischen Schriftstücken aus dem dritten Jahrtausend vor der modernen Zeitrechnung auszumachen ist und von den Ägyptern an die Griechen und Römer weitergegeben wurde. In der römischen Schreibweise gab es einige Symbole (I, V, X, L, C, M); je grösser die Zahlen, desto mehr Symbole werden hintereinandergereiht. So entspricht zum Beispiel die römische Zahl MMXIV dem Jahr 2014, und 4888 wird zu MMMMDCCCLXXXVIII. Die Darstellung von Zahlen wird schnell unhandlich, und Addition und Multiplikation werden sehr schwierig.

Leibniz 

Einen enormen Fortschritt bot das erstmals vor fast zweitausend Jahren in Indien entwickelte Stellenwertsystem, bei dem nicht nur der Ziffer an sich, sondern auch der Stelle, an der sie steht, eine numerische Bedeutung zukommt. Je nachdem, ob die Ziffer in der Einer-, Zehner-, Hunderterkolonne oder weiter hinten steht, hat sie eine andere Bedeutung. Vorbedingung für die Einführung des Stellenwertsystems war allerdings die Entdeckung der Zahl 0, die nicht nur das Nichts darstellt, sondern im Stellenwertsystem auch als Platzhalter dient, um die Abwesenheit von Zählern in einer Kolonne anzudeuten. Das Stellenwertsystem ermöglicht einen einfachen Algorithmus für die vier Grundrechenarten, indem Summen, die neun übersteigen, jeweils um eine Stelle nach links verschoben werden.

Die Stellenwert-Methode muss aber nicht unbedingt auf das Dezimalsystem angewendet werden. Das auf der Anzahl Finger beruhende System ist nicht einmal das beste Zählsystem, da ja die Zahl 10 bloss durch 2 und 5 ohne Rest geteilt werden kann. Ein auf der Zahl 12 beruhendes System kann hingegen durch 2, 3, 4 und 6 geteilt werden, ein auf der Zahl 60 beruhendes Zahlensystem zusätzlich auch noch durch 5 und durch mehrere Vielfache all dieser Teiler. Aus praktischen Erwägungen gibt es also Zahlensysteme, die brauchbarer wären als das Dezimalsystem.

Tatsächlich gab es in der Vergangenheit Bestrebungen, das Dezimalsystem durch andere Zahlensysteme zu ersetzen. So wollte der schwedische König Karl XII. im 18. Jahrhundert ein auf der Zahl 64 (4×4×4) basierendes System einführen. Sein früher Tod vereitelte diese Pläne jedoch. Zum Scheitern verurteilt war im Jahr 1793 auch der Versuch der französischen Nationalversammlung, die Darstellung der Zeit auf eine neue Grundlage zu stellen. Mit der Einführung des metrischen Maßsystems sollte die gewohnte Zeiteinteilung von 24 Stunden à 60 Minuten à 60 Sekunden durch das Dezimalsystem ersetzt werden (10 Stunden à 100 Minuten à 100 Sekunden). Dagegen regte sich aber so viel Widerstand, dass die Idee wieder fallengelassen wurde.

Schöpfung und Nichts

Schon im 13. Jahrhundert hatte der katalanische Kirchenmann Ramon Llull die Bedeutung eines Systems vorausgesehen, das lediglich auf zwei Zahlen, nämlich der 0 und der 1, beruht. Er begründete seine Ideen aber mit theologischen Argumenten; deshalb wurden seine Schriften grösstenteils ignoriert. Einer, der auf Llulls Schriften aufbaute, war der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz. Ende des 17. Jahrhunderts schlug er vor, jede beliebige Zahl nur mit den Ziffern 0 und 1 zu schreiben. Auch Leibniz liess sich von religiösen Überlegungen leiten. Die 0 stellte für ihn das Nichts dar, die 1 die Schöpfung. Seine Überzeugung, dass das Binärsystem eine metaphysische Wahrheit darstelle, fand er bestätigt, als er auf den chinesischen Text «Yi Jing» stiess, ein jahrtausendealtes Buch der Weissagungen, in dem 64 Sprüche im binären System von 0 bis 63 nummeriert sind.


Leibniz empfahl das Binärsystem aber nicht nur aus mystischen Gründen. Das Rechnen, das Abwägen von Gewichten und die Bezahlung mit Münzen würden stark vereinfacht, schrieb er, wenn nur mit den Zahlen 0 und 1 umgegangen werden müsse. In geradezu unheimlich wirkender Voraussicht beschrieb er um das Jahr 1680 herum eine «Machina arithmeticae dyadicae», die mittels des Binärsystems numerische Berechnungen durchführen kann. «Eine Büchse soll so mit Löchern versehen sein, dass diese geöffnet und geschlossen werden können. Sie sei offen an den Stellen, die jeweils 1 entsprechen, und bleibe geschlossen an denen, die 0 entsprechen. Durch die offenen Stellen lasse sie kleine Würfel oder Kugeln in Rinnen fallen, durch die anderen nichts.» Im Weiteren beschrieb Leibniz, wie die Kugeln von den Rinnen in ein Rechenwerk rollen, wo die eigentlichen Rechenoperationen erfolgen. Man ersetze in dieser Beschreibung Löcher durch Transistoren und Kugeln durch den elektrischen Strom, und - voilà - man hat die Skizze eines modernen Elektronenrechners.


Mangareva

Eine gemischte Zahlenbasis

Der Nachteil des binären Systems ist, dass man viele Ziffern benötigt, um grosse Zahlen darzustellen. Wie die Psychologen Bender und Beller herausgefunden haben, umgingen die Bewohner der Insel Mangareva dieses Problem, indem sie das Zweier- und das Zehnersystem kombinierten. Einerseits besassen sie Zahlwörter für 1 bis 9, andererseits multiplizierten sie zur Darstellung grösserer Zahlen die 10 mit Zweierpotenzen: 10, 20, 40, 80. Die Zahl 77 liess sich somit als 40+20+10+7 darstellen, die Zahl 123 als 80+40+3. Für Zahlen zwischen 160 und 799 wurde die 80 mit einer Zahl zwischen 2 und 9 multipliziert, also etwa 256=3×80+10+6.

Die Kombination beider Systeme bot kognitive Vorteile. Wenn man im binären System addiert, subtrahiert, multipliziert oder dividiert, muss man sich weniger Fakten merken als bei einem System, dem eine grössere Basis zugrunde liegt, da es bei zwei Zahlen nur wenige Kombinationsmöglichkeiten gibt (bei der Addition 0+0, 0+1 und 1+1). Das Dezimalsystem hat hingegen den Vorteil, dass es eine kompakte Darstellung grosser Zahlen erlaubt. Durch die Kombination beider Systeme wird die einfachere Rechenweise mit einer kompakten Schreibweise verbunden. Erstaunlich ist, dass ein solch ausgeklügeltes Zahlensystem vor 500 Jahren spontan auf einer winzigen Insel entstehen konnte.

¹ PNAS, Online-Publikation vom 16. Dezember 2013.

Mangareva, Mt. Duff

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