aus NZZ, 11. 1. 2014
Ansichten des Unerträglichen
Drei Figuren des Mitleids.
Von Ulrich Raulff
Im 19. Jahrhundert rückte das Mitleid ins Zentrum des moralischen Empfindens. Drei Figuren veranschaulichen dies emblematisch: der verwundete Soldat, das arbeitende Kind und das gequälte Tier.
In die Geschichte der moralischen
Empfindungen hat sich das 19. Jahrhundert mit einem besonderen Kapitel
eingetragen, «Ruhm und Schande» lautet seine Überschrift. Es hat nämlich
das Mitleid erfunden, und zwar nicht als eine schöne Tugend unter
anderen, sondern als die Grundlage allen moralischen Empfindens und
Verhaltens. Gewiss haben Menschen auch früher schon sich ihres
unglücklichen Nachbarn erbarmt oder dem vom Schicksal Geschlagenen die
Hand gereicht. Der barmherzige Samariter, die römische Caritas, Sankt
Martin, der seinen Mantel teilt: Geschichte, Mythologie und Religion
pflegen das Gedächtnis derer, die sich vom Elend ihres Nächsten rühren
liessen. Insofern bringt das 19. Jahrhundert sicherlich nicht das
Mitleid in die Welt, wohl aber gibt es ihm seinen fundamentalen Wert,
und zwei der besten Autoren deutscher Sprache werden ihn bezeugen,
angezogen der eine, abgestossen der andere. «Alle wahre und reine Liebe
ist Mitleid», schreibt Arthur Schopenhauer, «und jede Liebe, die nicht
Mitleid ist, ist Selbstsucht.» Friedrich Nietzsche seinerseits wird
nicht müde werden, das Mitleid als die jüdisch-christliche Erfindung zu
geisseln, durch die die Welt verkleinert und verhässlicht wurde.
Literatur, Philosophie, Kunst
Aber mit welchem Recht kann man
sagen, ein Jahrhundert habe dies oder jenes erfunden? Muss man nicht
fragen, was die Zeitgenossen dazu geführt hat, dem Mitleid plötzlich
einen so fundamentalen Wert zuzuschreiben? Welche neuartigen Erfahrungen
machten sie, die ihr Empfinden so grundlegend revolutionierten?
Irgendwann im Verlauf des Jahrhunderts müssen Figuren aufgetaucht sein,
die zu Kristallisationsfiguren jenes neuartigen, umfassenden Mitleids
werden konnten. So war es in der Tat. Seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts tauchten neue Figuren des Unglücks auf, neue Schmerzens-
und Leidensgestalten, wie sie die Welt bis dahin nicht gesehen hatte.
Personifikationen eines Unglücks, das seine Zeugen als unerträglich
empfanden, eines Elends, das buchstäblich zum Himmel schrie.
Da aber aus dem toten Himmel des
19. Jahrhunderts keine Hilfe kam, mussten sich die irdischen Räderwerke
und Transmissionsriemen in Bewegung setzen, die aus einem akuten
moralischen Empfinden soziale und juridische Schutz- und Regelwerke
machen sollten, die Redaktionen, Kanzeln, Kabinette. Aus der Gruppe der
Figuren, an denen die europäischen Gesellschaften Erfahrungen machten,
die à la longue ihr moralisches System veränderten, treten drei
besonders hervor. Literatur, Philosophie und die Kunst haben dafür
gesorgt, dass sie uns immer noch plastisch vor Augen stehen.
Die grosse tragikomische Szene des
Mitleids, die emblematisch aus dem 19. Jahrhundert herüberleuchtet,
spielt in Turin Anfang Januar 1889. Dort bricht, so will es eine
philologisch schwach, mythologisch aber stark begründete Überlieferung,
ein verstört durch die Gassen irrender deutscher Philosoph am Hals eines
geschlagenen Droschkengauls zusammen, überwältigt von Mitleid mit der
geschundenen Kreatur. Dass es ausgerechnet Friedrich Nietzsche ist, der
Verächter der jüdisch-christlichen Kultur des Mitleids, der Prophet
einer neuen, stolzen Härte, dem diese Schwäche unterläuft, spricht für
die dramatische Qualität der Szene und die Gewalt des moralischen
Empfindens. Kein Herz so hart, dass es nicht den Jammer der brüderlichen
Kreatur empfände. Gottfried Benn hat den Sturz Nietzsches bedichtet,
bis heute bietet er Stoff für Erzählungen und Drehbücher (zuletzt Béla
Tarr, «Das Turiner Pferd», 2011).
Aber Turin ist eine Kulissenstadt,
ein Theater. Nietzsches Zusammenbruch folgt einem Libretto, das
Jahrzehnte vorher geschrieben wurde: Was hier Anfang Januar 1889 über
die Bühne geht, ist bereits ein altes Stück. Die wahre Arbeit am Mitleid
hat in der ersten Hälfte des Jahrhunderts stattgefunden. Das
geschlagene Pferd, die gemarterte Kreatur ist nur eine seiner Figuren.
Die anderen sind das arbeitende Kind und der verwundete Soldat.
Gemeinsam wandern sie durch die Albträume eines harten Jahrhunderts, die
Erniedrigten und Geschundenen, das Trio des säkularen Unglücks: der auf
den Schlachtfeldern des Krieges Verblutende, das in den Fabriken des
Kapitals geopferte Kind, das vor kalten Menschenaugen gequälte Tier.
Drei Verkörperungen menschlicher Niedertracht, an denen sich ablesen
lässt, zu welchem Grad an Niedrigkeit der Furor der Nationen, die
Raubzüge des Kapitalismus und die Rohheit des Herzens die Zeitgenossen
geführt haben.
Der Verwundete
Nie zuvor ist das Leiden auf dem
Schlachtfeld so schonungslos und so mitfühlend beschrieben worden wie
von Henry Dunant in seinen Erinnerungen an Solferino. Schmucklos und
ohne literarische Wirkungsabsicht geschrieben, wühlten die Erinnerungen
an die Schlacht zwischen Österreichern und Franzosen im Jahr 1859, die
der junge Schweizer als Nichtkombattant miterlebt hatte, die Leser tief
auf und wurden zu einem der folgenreichsten Texte ihres Jahrhunderts.
Drei Jahre nach der Schlacht erschienen, wurden sie zum Auslöser für die
Gründung des Roten Kreuzes und werden bis zum heutigen Tag als Muster
einer schriftstellerischen Intervention in humanistischer Absicht
zitiert.
Doch ähnlich wie Nietzsches
Zusammenbruch ist auch dieser Text ein spätes Fanal. Seit den
napoleonischen Kriegen, seit dem Debakel in Russland 1812 mehren sich
die Schriften, aus denen ein ähnlicher Geist spricht, Beschreibungen,
die versuchen, das Unsägliche zu sagen. Dort, wo sie verstummen, setzt -
wie in Umkehrung von Lessings «Laokoon» - die stumme Rede der Malerei
ein und verleiht dem Entsetzen Ausdruck: J. M. W. Turners 1818
erstmals ausgestelltes Gemälde «The field of Waterloo» zeigt die
grausige Realität der Schlacht in der Nacht danach: Massen von Toten,
Sterbenden und Verwundeten, verzweifelte Frauen und im Dunkel das Heer
der Hunde und Ratten. Dieselbe Realität bezeugt Dunant ein
Halbjahrhundert später immer noch. Aber sein Text stösst nicht mehr wie
Turners Bild auf geschlossene Augen und taube Ohren. Die Sensibilitäten
haben sich gewandelt.
Das arbeitende Kind
Als der Vierundzwanzigjährige im
Sommer 1845 sein vielleicht berühmtestes Buch veröffentlicht, sind die
Phänomene, die er beschreibt, erheblich älter als er selbst. Aber
Friedrich Engels ist mit dem Elend der Arbeiter und speziell ihrer
Kinder gross geworden; er kommt aus einer Dynastie von
Textilindustriellen, die neben ihren Fabrikhäusern auch Schulhäuser
errichtete. Wenn es einen roten Faden gibt, der «Die Lage der
arbeitenden Klasse in England» durchzieht, so ist es der Raub an Geist
und Leben, den die kapitalistische Gesellschaft an ihren Jüngsten und
Schwächsten begeht. Wer die Kinder ihrer elementaren Schulausbildung
beraubt, bringt sie um ihre Zukunft. In Engels' Augen wiegt diese Sünde
schwerer als die körperliche Verkümmerung des arbeitenden Kindes, seine
brutale Ausbeutung und die hohe Sterblichkeit, die deren Folge ist. Das
Halbjahrhundert seit 1780 sieht den Pegel der sozialen Gewalt gegen
Kinder beständig steigen; erst um 1830 rührt sich vereinzelt erster
Widerstand.
Géricault, Totes Pferd
Géricault, Totes Pferd
In apokalyptischem Ton hatte
Friedrich Engels festgestellt, das einzige Bildungsmittel, das die
Bourgeoisie gegen die Arbeiter und ihre Kinder anwende, sei die
Peitsche: «Es ist also auch nicht zu verwundern, wenn die so wie Thiere
behandelten Arbeiter wirklich zu Thieren werden . . .» In seiner
Studie über «The Making of the English Working Class» notierte E. P.
Thompson 1963, dass «die Ausbeutung von kleinen Kindern, in diesem
Ausmass und mit dieser Intensität, eines der beschämendsten Ereignisse
unserer Geschichte ist».
Das gequälte Tier
Die dritte moralische Plage, die
seit 1780 die Schwelle der Wahrnehmung überschreitet und die
europäischen Gesellschaften zu beschäftigen beginnt, ist das Phänomen
der Tierquälerei. Hier regt sich erster Widerstand in England schon um
die Jahrhundertwende. Die Wurzeln der deutschen Tierschutzbewegung
liegen im schwäbischen Pietismus. Es sind zwei württembergische
Prediger, Christian Adam Dann und Albert Knapp, die seit den zwanziger
Jahren um Barmherzigkeit und Gerechtigkeit für die Tiere kämpfen. Er
könne, schreibt Dann, «die Kälte und Gleichgültigkeit gegen die Thiere,
unsere Mitgeschöpfe, (. . .) nicht gleichgültig ansehen». Auf die
Mitgeschöpflichkeit der Tiere gründet sich die Argumentation der
Pietisten.
Im Jahr 1837 wird in Stuttgart die
erste deutsche Vereinigung zum Schutz der Tiere gegründet. Doch der
Kampf gegen die sinnlose und oftmals in aller Öffentlichkeit
praktizierte Grausamkeit gegen Tiere ist noch lange nicht gewonnen. Das
Bild des gequälten Tiers und namentlich des von rohen Kutschern brutal
geprügelten Pferdes, des «allergequältesten Thieres», wie es bei Dann
heisst, durchzieht die Literatur des gesamten Jahrhunderts. Der Szene,
die Nietzsches Zusammenbruch in Turin auslöst, sind zahllose solcher
Akte vorangegangen.
Historisch neu ist keine dieser
Figuren. Die europäischen Gesellschaften brauchten nicht die Schwelle
zum 19. Jahrhundert zu überschreiten, um sich mit dem Anblick
sterbender Soldaten, verwahrloster Kinder und misshandelter Tiere
konfrontiert zu sehen: Bilder wie diese begleiten ihre Geschichte seit
Jahrhunderten. Aber Schlachten zwischen Armeen, die nach Zehn-, wenn
nicht Hunderttausenden zählen und innerhalb weniger Stunden Legionen von
Leichen und unversorgten Halbtoten hinterlassen, Kinder, die sich unter
laufenden Maschinen und in engen Schächten buchstäblich zu Tode
arbeiten, Pferde, die auf offener Strasse lahmgeprügelt werden - sie
sind die Totems einer neuen Zeit.
Ein gemeinsames Merkmal verbindet
die, die unter die Räder der beschleunigten Geschichte geraten sind, den
verletzten Soldaten, das ausgezehrte und gebückte Kind, das gestürzte
und geschlagene Tier. Diese Wesen können sich aus eigener Kraft nicht
mehr erheben. Sie sind Erniedrigte, die sich nur kriechend noch
fortbewegen.
Rousseau war es gewesen, der den
Horizont des Mitleids so weit ausgedehnt hatte, dass er auch die Tiere
noch umschloss. Schopenhauer ging über ihn hinaus und machte das
Mitgefühl mit der leidenden Kreatur zum Ausweis humanen Mitleids. Aber
eine Sache ist es, den Tieren sein Mitleid zu schenken, eine andere,
zuzusehen, wie die Erniedrigung durch seinesgleichen den Menschen auf
eine Stufe mit dem Tier stellt. Man hatte Rousseau vorgeworfen, er wolle
den Menschen wieder zu einem Wesen machen, das à quatre pattes, auf
allen vieren, ging. Wen die Gewalt des Krieges oder der
frühkapitalistischen Produktion zu Boden geschleudert hat und wen keine
Hand wieder aufrichtet, der wird tatsächlich zum Vierbeiner: Er ist zum
Kriechen gezwungen.
Dies ansehen zu müssen, ist
unerträglich; vor diesem Anblick empört sich der Sinn des Zuschauers. Es
ist, als ob der Anblick der Ohnmacht ansteckend sei und den Betrachter
lähme. In «Chickamauga», einer seiner «Geschichten aus dem Bürgerkrieg»,
schildert Ambrose Bierce ein Kind, das in einem dunklen Wald sich
plötzlich von einem Heer von Kriechenden umgeben sieht, Verletzten und
Sterbenden einer grossen Schlacht. Durch die Augen des Kindes sickert
das Grauen in den Leser der Geschichte ein. Es ist unerträglich, einen
Menschen zu sehen, dem, zu Boden geworfen, nichts bleibt als die
Existenzweise eines Tiers. Es waren solche Ansichten des Unerträglichen,
an denen die Empörung erst von Einzelnen, dann von grösseren Gruppen
und Vereinen des 19. Jahrhunderts wuchs, bis endlich die Stunde der
Publizisten, Reformer und Legisten schlug.
Im Mitleid, so hatte Rousseau
formuliert, äussere sich der Widerwille, seinesgleichen leiden zu sehen.
Tatsächlich ist das Mitleid kein einfaches Gefühl, es ist eine komplexe
Empfindung. Im Mitleid stecken nicht nur die bekannten Elemente der
Herablassung und der Schwäche, die seine prominenten Kritiker
wahrnahmen; es enthält auch ein Moment der Empörung und des
Widerstandes. Das Mitleid, das sich am Anblick des Unerträglichen
entzündet, enthält ein Ferment der Revolte. Für diese andere Seite des
Mitleids hatte die Französische Revolution den Begriff der fraternité, der Brüderlichkeit, gefunden. Nietzsche, der grosse Verächter des Mitleids, hat diese politische Seite übersehen.
Der Historiker Ulrich Raulff ist Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach. 2009 ist sein Buch «Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben» (bei C. H. Beck) erschienen.
Nota.
Das bürgerliche Subjekt zeichnet sich vor anderen historischen Typen aus durch seine Fähigkeit zum Perspektivenwechsel: Ich als der Andere des Andern.
Die Fähigkeit zum Mitleiden ist offenbar ganz etwas anderes.
Ob aber die Fähigkeit zur Empathie mit einem völlig Fremden ganz etwas anderes ist?
JE
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