Lost in Orientation
Die verlorene Gabe des Verirrens
Eduard Kaeser · «Ich bin hier» - so war ein kleiner Testbericht betitelt, in dem der Journalist Matthew Honan vor ein paar Jahren seine Erfahrungen mit mobilen Geräten und ihren Apps beschrieb. Er schloss mit der Bemerkung: «Ich habe bessere 'location awareness' gefunden, aber meinen Sinn für Orte verloren (. . .). Auch wenn wir unsere Umwelt zunehmend digitalisieren, sollten wir nicht vergessen, auf altmodische Weise umherzuschauen.»
Die Bemerkung ist symptomatisch
für einen schon seit einiger Zeit stattfindenden Umbau am und im
Menschen. Wir rüsten unseren naturwüchsigen Orientierungsapparat mit
Gadgets auf, die «Ortssinn» zeigen. Das Navi als Lotse durchs Leben. Je
mehr «location awareness» es hat, desto weniger brauche ich meinen
eigenen Ortssinn. Der in sein Handydisplay versunkene Mensch: Er ist
nicht da, wo er ist - das emblematische Paradox unserer Zeit.
«There is no 'there' there» -
Gertrude Steins Bonmot gilt immer mehr für die ganze Erde, die Terra
cognita. Die Schriftstellerin meinte mit dem «there» Oakland in
Kalifornien, den Ort ihrer Kindheit. Als sie Jahre später dorthin
zurückkehrte, war diese «Orthaftigkeit» erodiert und damit auch das
Lebenszentrum von damals. Sie konnte in diesem «there» nichts mehr
finden, was sie an ihre Kindheit erinnerte. Sie hatte mit ihrer
geografischen auch ihre psychografische Orientierung verloren, ihren
Seelenhalt.
Wann beginnt man auf altmodische
Weise umherzuschauen? Zum Beispiel dann, wenn man sich verirrt hat. Man
könnte es deshalb als Ironie der totalen Kartierung unseres Daseins
bezeichnen, dass auf einmal das Verirren an neuer Bedeutung gewinnt:
Verirren als existenzieller Grundzustand; nicht als Defizit (unfähig,
den Weg zu finden), sondern als Vermögen (fähig, sich ohne Weg
zurechtzufinden). Wer sucht, der findet, weiss schon die Bibel. Aber nur
wer sich irrt und verirrt, sucht überhaupt. Reisende früherer Zeiten
gewannen dem Verirren durchaus seine positive, erkenntnisfördernde
Bedeutung ab. So schreibt etwa der grosse Geher durch Europa, Johann
Gottfried Seume, zu Beginn des 19. Jahrhunderts: «Ich verirrte mich
abermals und kam, anstatt nach Syrakus, nach Lentini. Es war mir
indessen nicht unlieb, die alte Stadt zu sehen.» Sollte ironischerweise
ein Zeitalter, das dem Verirren den Garaus machen will, ausgerechnet
dieses Verirren - das Nirgendwo- oder Anderswo-Ankommen - als
menschliche Kunst und Tugend wieder aufwerten?
Statt sich also vom iPhone sagen
zu lassen, wo man sich und was sich alles in der Umgebung befindet,
könnte man sich ja auch einmal eingestehen, in unbekanntes Gelände
geraten zu sein, das man nun auf eigene Faust erkunden möchte. Plötzlich
entdeckt man selber Orte. Oder eher: Man entdeckt in sich einen neuen
Typus von Reisenden in der medientechnischen Erschliessung der Welt: den
Homo errans. - Er erblickt in den toten Winkeln der Navigationssysteme
neue Terra incognita.
Die Erde wird zu Google-Earth.
Wenn es aber keine weissen Flecken mehr gibt auf der Weltkarte, dann
wirft man einfach die Karte weg, und die Welt wird wieder weiss. Der
Homo errans muss heute als jener Mensch begriffen werden, der seinen Weg
selber sucht, dabei vielleicht Irrwege betritt, auf Abwege gerät,
Holzwege einschlägt. Er ist der Mensch, der in allem Abfragen das Fragen
neu lernt. Nur wer sich verirren kann, kann sich auch verändern.
Nota.
"Nur wer sich verirren kann, kann sich auch verändern." - Das ist nun wahrhaft das Signum einer neuen Epoche: dass sich-Verändern zum fraglosen Wesen des Menschseins selber gezählt wird. Sich treu bleiben und immer und überall derselbe-Sein galt vordem als der moralische Auftrag an einen jeden. - Ja ja, das ist eine simple Wendung: unter aller äußerlichen Veränderung im Innern doch immer... Aber das ist eine nachträgliche Ausflucht. War noch gestern das "mich-selber-Finden" so etwas wie der Sinn des Lebens, gilt heut als Paradigma: dein Selbst verändern. Ist das besser oder ist es auch nur wieder so ein eitles Modegewäsch?
JE
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