Samstag, 18. Januar 2014

Carl Ludwig Fernows Leben in seinen Briefen.

aus NZZ, 15. 1. 2014

Bibliothekar, Sprachwissenschafter, Kunsttheoretiker
Eine Wiederentdeckung - Carl Ludwig Fernows Leben in seinen Briefen

von Ludger Lütkehaus · Unter den Gelehrten der deutschen Spätaufklärung und den bedeutenden Geistern der Weimarer Klassik ist er einer der bemerkenswertesten: Carl Ludwig Fernow, der Ästhetik-Theoretiker des Klassizismus, Philosoph, Kritiker, Porträtmaler und Zeichner, Sprachwissenschafter und -didaktiker, Grammatologe, fast ein Jahrzehnt lang römischer Kulturkorrespondent, in Weimar und Jena Gesprächspartner Schillers, Goethes und Wielands, der ihn zu den «Fünf Grossen» von Weimar zählt, und - last, but not least - loyaler Freund der Familie Schopenhauer, die in ihm den nach dem Suizid des Vaters fehlenden Mentor findet. Zum 250. Geburtstag Fernows hat der Wallstein-Verlag eine zweibändige, fast 1400 Seiten umfassende, vorzüglich kommentierte Edition der Briefe des Gelehrten, verantwortet von Margrit Glaser und Harald Tausch, vorgelegt. Fassbar wird in diesen Briefen und im Kommentar eine konturenscharfe lebendige Gestalt.

Über die Alpen

Am 19. November 1763 wird Carl Ludwig Fernow in eine arme pommersche Gutsknechtsfamilie in Blumenhagen bei Stettin hineingeboren. Früh wird er gefördert, weil man seine vielseitigen Talente erkennt. Er überwirft sich aber auch gerne mit seinen Geld- und Arbeitgebern. Den Schulbesuch bricht er ab. In Jena studiert er Philosophie bei dem Kantianer Carl Leonhard Reinhold. Doch im Sog der zahlreichen deutschen Bildungsreisenden zieht es ihn nach Italien. Den Weg über die Alpen legt er, wie sein Freund und Gefährte Johann Gottfried Seume seinen «Spaziergang nach Syrakus», zu Fuss zurück. Wie später Hölderlin, dann auch Friedrich Hebbel wird er einer der grossen Fusswanderer seiner Zeit. Die Unruhe bis zur Rastlosigkeit, das Vagierende, das die sinnliche Erfahrung als bestimmendes Erlebnis und Lebensform sucht und die Bewegung des Denkens mit den Bewegungen des Körpers verbindet, ist für Carl Ludwig Fernow charakteristisch wie für diese ganze Epoche von hochgebildeten Nomaden.

  • Carl Ludwig Fernow: «Rom ist eine Welt in sich». Briefe 1789-1808. 2 Bände. Herausgegeben und kommentiert von Margrit Glaser und Harald Tausch. Wallstein, Göttingen 2013. 1304 S., Fr. 128.-.

Während seines Aufenthaltes in Rom, 1794 bis 1803, bildet er sich zum konkurrenzlos kenntnisreichen Kunstkritiker und Anwalt ästhetischer Theorie. 1803 kehrt er für die Übernahme einer Professur für Ästhetik nach Jena zurück. Sein berufliches Leben mündet 1804 in die Übernahme der Stelle eines Hofbibliothekars der Herzogin Anna Amalia in Weimar. Unter Fernows Werken ragen seine «Römischen Studien» (drei Teile, Zürich 1806-08), eine Gesamtausgabe der Werke Winckelmanns (zwei Bände, Dresden 1808), das «Leben des Künstlers Asmus Jakob Carstens» (Leipzig 1806) und die Beiträge zur italienischen Sprachlehre, eine Biografie Ariosts sowie die Herausgabe einer Bibliothek italienischer Klassiker heraus.

Fernow war ein ausserordentlich geradliniger Charakter. Unter den Fürstenknechten Weimars fand man ihn nicht. Der Enzyklopädist Johann Gottfried Gruber rühmte seine freie Seele: «Überall war er männlich und gerade, und behauptete stets jene unerschütterliche Ruhe, welche nur das Eigentum kräftiger Seelen ist.» Sein eigener Freiheitssinn hat ihn befähigt, das Organ für die Freiheit anderer zu entwickeln.

Dieser Zusammenhang zeigt sich eindrucksvoll in der Rolle, die er für die Familie Schopenhauer spielt. Als Johanna Schopenhauer, die Mutter, zusammen mit ihrer Tochter Adele 1806 nach Weimar übersiedelt, der Sohn aber gemäss dem Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte, in Hamburg in Kaufmannsdiensten zurückzubleiben gezwungen ist, wird Fernow 1807 Arthurs geistiger Geburtshelfer. Er befreit ihn von der Mesalliance mit dem aufgenötigten Kaufmannsberuf. Er ermuntert ihn, einen neuen Lebensweg zu beginnen. Dafür ist es nie zu spät, lautet wie einst für Fernows eigene berufliche Entwicklung die frohe Botschaft. Fernow nimmt Arthur freilich auch für ein fleissiges Engagement in den klassischen Studien in die Pflicht. Die Freiheit, für die er so energisch plädiert, muss erst einmal verdient werden.

Schopenhauers Zeugnis

In keinem geringeren Zeugnis als dem Lebenslauf für die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin hat Arthur Schopenhauer seines Freiheitslehrers gedacht: «Endlich, (. . .) als ich, von unerträglichen Gemütsleiden gequält, in den Briefen an meine bereits in Weimar wohnende Mutter mich in jämmerlichen Klagen über den vereitelten Lebenszweck erging, über den unersetzlichen Verlust der auf nichtige Arbeit vergebens verwendeten Kräfte und Jugend, endlich über mein vorgeschrittenes Lebensalter, das mir nicht mehr verstatte, die gewählte Laufbahn zu verlassen und eine neue zu beginnen - da geschah es, dass der berühmte Fernow, ein Mann von wirklich ausgezeichneten Geistesgaben und meiner Mutter damals eng befreundet, (. . .) obwohl ich ihm übrigens unbekannt war, bewogen ward, sich mir gegenüber schriftlich zu äussern, indem er mir klarmachte, dass die bis dahin verlorene Zeit noch ersetzbar sei, dies durch sein eigenes Beispiel sowie dasjenige Anderer, selbst der bedeutendsten Gelehrten, welche erst spät die gelehrte Laufbahn angetreten hätten, bewies, und mir riet, Alles im Stich zu lassen, um mich auf die Erlernung der alten Sprachen zu werfen. Als ich diesen Brief gelesen, brach ich in heftiges Weinen aus, und auf der Stelle stand in mir, dem sonst jede Wahl Qual machte, der Entschluss fest.»

Das Erstaunliche geschieht: Die Schopenhauers sind in Bezug auf den Rat und Zuspruch Fernows ausnahmsweise einmal einer Meinung. Johanna Schopenhauer widmet ihm 1810 ihr Erstlingswerk, eine zweiteilige Beschreibung von «Carl Ludwig Fernow's Leben». Und Arthur Schopenhauer bringt seinem Freund und Förderer eine lebenslange Dankbarkeit entgegen. Durch ihn hat er erfahren, dass man gegen die vorgegebenen Zwänge die Freiheit der Selbstbestimmung gewinnen kann.



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