Donnerstag, 9. Januar 2014

Kabbala.

aus NZZ, 9. 1. 2014                                                                  kabbalistischer Lebensbaum

Lehre unseres Jahrhunderts?
Die Kabbala zieht weit über Israels Grenzen hinaus Interessierte an
 


von Daniela Segenreich

Seit einigen Jahren versuchen immer mehr Laien, den Rätseln der Kabbala auf die Spur zu kommen. Sind es Stars wie Madonna, die durch ihr Interesse an jüdischer Mystik einen Kabbala-Boom ausgelöst haben? 

Safed, auf Hebräisch Zfat, das malerische Städtchen im Norden Israels, soll die Geburtsstätte der Kabbala sein. Hierher strömen jährlich Tausende von Besuchern aus dem In- und Ausland, um die Geheimnisse der Kabbala zu ergründen. Jeder Stein in den verwinkelten Gässchen der Altstadt scheint mit der mystischen Lehre in Verbindung zu stehen. Die vielen kleinen Bethäuser und Synagogen, die alten unterirdischen Gänge, die Galerien und Ateliers der Künstler und sogar die Kerzen und Souvenirshops. Die Grenze zum Kitsch ist fliessend, vom Hochgelehrten bis zum einfachen Touristen kommt hier jeder auf seine Rechnung.

Nur für «Erleuchtete»

Viele Generationen von wichtigen Rabbinern und Interpreten der spirituellen Lehre haben in Zfat gelebt und sind hier begraben. Darunter Schimon Bar Yochai, der der Legende nach vor über zwei Jahrtausenden dreizehn Jahre lang in einer Höhle in der Nähe der Stadt versteckt gewesen sein und dort die geheimen Schriften des «Zohar» verfasst haben soll. Zohar bedeutet «Glanz» oder «Leuchten» und ist eine spirituelle Interpretation der Thora, des Kerns der Bibel, und eine wichtige Grundlage der Kabbala. Nach ihrer Wiederentdeckung im 13. Jahrhundert waren diese Weisheiten nur für eine kleine Elite von «Erleuchteten» bestimmt. Man befürchtete, dass die esoterischen, mystischen Texte, die sich unter anderem mit Fragen über die Unendlichkeit, das Universum und die Existenz Gottes befassen, für die breite Masse zu mächtig und verwirrend sein könnten.

War damals das Studium der Kabbala geheim und nur gelehrten jüdischen Männern über vierzig erlaubt, so kann heute jeder Kabbala lernen. In Israel gibt es Studienzentren, einen Kabbala-Fernsehkanal, eine Zeitung und einen Blog mit einem der führenden Kabbala-Rabbiner. Das Studienzentrum in Zfat bietet Seminare und Vorlesungen zu den verschiedensten Themen an. In einem der Kurse geht es um Licht und Erleuchtung. Der Vortragende stellt die Frage: «Sind Licht und Sonne dasselbe?» Nachdenkliches Schweigen unter den Anwesenden, junge, moderne Leute aus dem Zentrum des Landes. «Sie sind dasselbe, aber ihre Namen sind nicht gleich: Or - Licht und Maor - die Sonne, die Quelle des Lichts. Wenn wir das Licht in die Sonne zurückwerfen, dann gibt es nur noch Sonne. Das bedeutet, dass das Licht keine eigene Existenz hat. Der Kabbala nach sendet Gott diese Energie ständig aus, zum Zweck der Schöpfung. Wenn diese Schöpfung Licht ist, ist sie Teil Gottes, ist sie Gott selbst.»

Eine Familie aus Kalifornien mit zwei Kindern kommt zufällig vorbei, doch ein wenig auch wegen des Pop-Stars Madonna: «Ich weiss, dass sie an der Kabbala interessiert ist, sie auch wieder bekannt gemacht hat», erzählt die Mutter und gibt zu: «Ich bin neugierig, warum sich Madonna und andere Stars plötzlich für die Kabbala interessieren, wo es sie doch schon seit Jahrtausenden gibt, während selbst viele Juden nichts darüber wissen. Das möchte ich gerne herausfinden.»

Ein Botschafter der Kabbala in unserem Jahrhundert (und mit Madonna bestens bekannt) war der vor kurzem verstorbene Star-Rabbiner Phillip Berg. Schon sein Vorgänger, Rabbiner Jehuda Ashlag, hatte Interpretationen und Übersetzungen des «Zohar» verfasst und so den Grundstein zur Verbreitung der Kabbala gelegt. Er sah die Menschheit als eine einzige, physisch und spirituell interdependente Entität und glaubte fest daran, dass nur ein Wirtschaftssystem, das dieser Sicht gerecht werde, die Menschen befreien und zu einer kollektiven Erleuchtung führen könne. Israels Gründervater Ben Gurion erwähnt in seinem Tagebuch zahlreiche Begegnungen mit Ashlag, bei denen er immer wieder überrascht war, «dass, während ich über Kabbala sprechen wollte, er über Sozialismus sprach».

Ashlag lebte in Armut und hatte kaum das Geld, um seine Schriften drucken zu lassen. Rabbiner Berg dagegen errichtete moderne Kabbala-Zentren, die wie Business-Corporations geführt wurden, und genoss grosse Bekanntheit und angeblich auch beträchtlichen Reichtum. Bei seinem Begräbnis in Zfat trauerten Anhänger aus aller Welt, alle in Weiss gekleidet, darunter der Hollywood-Star Ashton Kutcher mit Freundin und Leibwächtern.

Hat Berg mit seinen Studienzentren in Los Angeles und in Tel Aviv, aber auch durch seine persönlichen Kontakte zu den Stars und Prominenten die Lehre wieder ins Rampenlicht gerückt? Seine Gegner werfen ihm vor, die Kabbala zu einer Art Sekte gemacht und sich durch geschickte Vermarktung bereichert zu haben. Eyal Riess, der Direktor des Kabbala-Centers in Safed, will sich nicht zur Kritik an Rabbiner Berg hinreissen lassen und schlägt eine andere Sichtweise vor: «Das Phänomen kommt nicht aus Hollywood oder Los Angeles. Es ist ein Teil der Kabbala selbst, die Seele der Kabbala, die überall hinreicht. Wir brauchen dieses Grenzen, Kulturen und Zeitalter überschreitende Wissen gerade jetzt, in unserem Jahrhundert; wir sind auch reif, es zu verstehen, und wir können es jetzt in seiner authentischen Form studieren.»

Das Wort Kabbala kommt im Hebräischen von «empfangen» und auch von Hakbalah, das bedeutet «Parallelität». Es geht, laut Meister Riess, um die Parallelen zwischen dem Materiellen, dem Geistigen und dem Göttlichen, das darüber steht: «Die Kabbala lehrt uns, wie wir durch das Einhalten der Gebote des Schöpfers mit ihm auf eine sehr spezielle Art in Verbindung treten können.» Riess selbst hat die Kabbala vor etwa zwanzig Jahren für sich entdeckt. Damals war er ein junger, säkularer Musiker in Tel Aviv. Heute ist er ein religiöser Gelehrter, mit langem Bart, Schläfenlocken, schwarzem Hut und Kaftan. Doch er betont, dass Religiosität im herkömmlichen Sinne zum Studium der einstigen Geheimlehre nicht unbedingt nötig sei: «Diese spirituelle Weisheit ist nicht an Religion gebunden. Jeder Einzelne kann davon nehmen und sich damit bereichern.» Das scheint sich herumzusprechen, seine Kurse sind ständig ausgebucht, und viele Kabbala-Schüler kommen jedes Jahr wieder.

Vorsicht vor Scharlatanen

Dr. Shelly Goldberg, die auf Universitäten und in religiösen Institutionen in Israel unterrichtet, sieht in dieser Popularität der Kabbala auch eine gewisse Gefahr: «Es gibt auch viele Scharlatane und ein Abrutschen in die Magie, die eigentlich nichts mit der Kabbala zu tun hat - etwa die roten Bändchen am Handgelenk, die zwar zu einem Symbol der Kabbala geworden sind, aber auf einer falschen Interpretation beruhen.» Wichtig seien die richtigen Lehrer und die richtige Einstellung. «Kabbala-Instant», also Selbsthilfe und Erleuchtung im Schnellverfahren, gebe es nicht, die Annäherung an die Lehre sei vielmehr ein lebenslanger Prozess, bei dem man schrittweise reif genug werde, um das Wissen der Kabbala zu empfangen. - In Zfat jedenfalls gewinnt man den Eindruck, dass sich jeder und jede Interessierte ein wenig von dieser spirituellen Welt aneignen und vielleicht auch eine kleine persönliche Erleuchtung erleben kann.



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