Montag, 13. Mai 2019

Zahl heißt nicht Anzahl.


aus scinexx

Wie unser Zahlensinn entsteht
Sinn für Mengen ergibt sich spontan aus der Erkennung sichtbarer Objekte

Spontane Zahlenvorlieben: Der Sinn für Mengen ist offenbar weder antrainiert noch das Resultat spezieller Hirnzellen – er entwickelt sich ganz spontan, wie nun ein Experiment belegt. In ihm lernten sogar künstliche Neuronen eines neuronalen Netzwerks von selbst, Punktmengen abzuschätzen – selbst wenn sie nur auf die Objekterkennung trainiert waren. Das spricht dafür, dass das Sehsystem von Mensch und Tier von selbst diese Fähigkeit entwickelt, so die Forscher im Fachmagazin „Science Advances“.

Lange galt der Zahlensinn als rein menschliche Fähigkeit. Doch inzwischen wissen wir, dass auch viele Tiere die Anzahl von Objekten erkennen und ihre Mengen vergleichen können. Zu diesen „zahlensinnigen“ Tieren gehören neben Affen, Elefanten, Hunden und Wölfen auch Tintenfische und sogar Honigbienen. Ähnlich wie bei uns scheinen bei ihnen bestimmte Neuronen im Gehirn selektiv auf ihre „Lieblingszahlen“ zu reagieren.

Neuronales Netzwerk als Helfer

Doch wie entsteht dieser Zahlensinn? Klar scheint, dass diese Fähigkeit zur Mengenunterscheidung nicht erlernt wird, sondern offenbar angeboren ist. Denn schon Neugeborene zeigen diesen Zahlensinn und besitzen demnach bereits die nötigen „Zahlenneuronen“. Weil die Mengeneinschätzung eng mit dem Sehen von Objekten zusammenhängt, vermuten Wissenschaftler schon länger, dass das Sehsystem für den Zahlensinn entscheidend ist – und ihn möglicherweise sogar spontan ausbildet.

Um das überprüfen, haben Khaled Nasr und seine Kollegen von der Universität Tübingen nun einen ungewöhnlichen Helfer eingespannt – eine künstliche Intelligenz. „In jüngster Zeit haben solche biologisch inspirierten neuronalen Netzwerke wertvolle Einblicke in die Arbeitsweise des Sehsystems beliefert“, erklären die Forscher. Denn ähnlich wie unser Gehirn lassen sich diese lernfähigen Systeme auf die Erkennung bestimmter Objekte oder Kategorien trainieren.

In einem neuronalen Netzwerk, das auf die Zuordnung von Fotos trainiert wurde, bilden sich spontan künstliche Neuronen heraus, die auf verschiedene Lieblingszahlen abgestimmt sind

Training für den Sehsinn – aber nicht aufs Zählen

Für ihr Experiment nutzten die Forscher ein neuronales Netzwerk und trainierten es anhand von 1,2 Millionen Fotos darauf, Objekte wie Spinnen, Hunde, Bälle oder Schmuck zu erkennen und einer Kategorie zuzuordnen. „Das Netzwerkmodell beruhte auf einem System, das in seiner Architektur dem frühen Entwicklungszustand der menschlichen Sehhirnrinde nachempfunden ist“, erklärt Seniorautor Andreas Nieder.

Gegliedert ist das Netzwerk in zwei Teile: Der eine extrahiert aus den Bildern die Merkmale des gezeigten Objekts und verwandelt diese in eine abstrakte Repräsentation. Diese Untereinheit übernimmt damit die Erkennung der kennzeichnenden Merkmale. Der zweite Teil – das Klassifikations-Netzwerk – ordnet die Objekte anhand der Repräsentation dann einer Kategorie zu. Wie erwartet, lernte das System schnell, gesehene Objekte zu erkennen und der korrekten Kategorie zuzuordnen.

Künstliche Neuronen entwickeln Zahlenvorlieben

Nun folgte der entscheidende Test: „Die beiden Netzwerkteile haben wir voneinander getrennt und präsentierten nun dem ersten Teil statt Fotos von Objekten einfache Punktmuster mit ein bis 30 Punkten“, erläutert Nieder. Die Forscher wollten wissen, ob das neuronale Netz ohne vorheriges Training spontan eine Sensibilität für Mengen entwickelte – und ob im Netzwerk dabei womöglich eine ähnliche Arbeitsteilung wie im Gehirn entsteht.

Und tatsächlich: „Fast zehn Prozent der künstlichen Neurone hatten sich auf jeweils eine bestimmte Anzahl spezialisiert, obwohl das Netzwerk nie auf die Unterscheidung von Anzahlen trainiert wurde“, berichtet Nieder. Ähnlich wie im Gehirn von Tieren oder Kleinkindern reagierten diese künstlichen Neuronen bevorzugt auf bestimmte Mengen. „Das Netzwerk hatte sozusagen spontan einen Zahlensinn entwickelt“, so der Forscher.

Inhärente Folge des Sehsinns?

Interessant auch: Bei der Bewertung der Punktmengen demonstrierte das neuronale Netzwerk die gleichen Eigenheiten, die auch Menschen und Tiere beim Zahlensinn zeigen. Es fiel ihm leichter, deutlich voneinander abweichende Punktmengen zu unterscheiden als fast gleiche Mengen. Wie der Mensch lag die KI zudem bei kleineren Mengen häufiger richtig als bei großen. Im Schnitt schätzte das Netzwerk neue Punktmengen zu 81 Prozent korrekt ein – das entspricht dem Abschneiden von Affen und Menschen, wie die Forscher berichten.

Damit scheint klar: Der Zahlensinn ergibt sich von allein – er ist fast schon zwangsläufig eine Folge der Verarbeitung von visuellen Informationen. „Der Zahlensinn scheint demnach nicht von einem bestimmten spezialisierten Hirnbereich abzuhängen, sondern greift auf neuronale Netzwerke zurück, die sich durch das Sehen gebildet haben“, sagt Nieder. „Dadurch lässt sich nun erklären, warum auch schon Neugeborene oder untrainierte Wildtiere einen Zahlensinn besitzen.“ (Science Advances, 2019; doi: 10.1126/sciadv.aav7903)
 
Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen



Nota. - Es ist doch jedesmal wieder schockierend, wie hochnäsig sich Naturwissenschaftler an der Mühsal des Begreifens vorbeidrücken, so als ob alles, was sich nicht messen lässt, metaphysischer Plunder wäre! Nein, Zahl heißt nicht schlechterdings Anzahl, Menge heißt nicht Zahl, und Zählen heißt nicht Mengen messen.

Das Zählen rührt mit großer Wahrscheinlichkeit vom Nacheinander in der Zeit her und nicht vom Neben- einander im Raum. Zahlen waren zunächst Ordnungszahlen - erstens, zweitens, drittens... Erst als mit der Sesshaftigkeit das Wirtschaften begann, hat das Quantifizieren das Qualifizieren überwuchert und ist die Zahl in allererster Linie zur An zahl geworden.
JE


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