Sonntag, 5. Mai 2019
Vergiss es.
aus derStandard.at, 4. Mai 2019,
Wie das Gehirn schlechte Erinnerungen löscht
Das Calcium-Sensor-Protein Synaptotagmin-3 spielt beim Vergessen eine zentrale Rolle – nach traumatischen Erlebnissen ist das besonders wichtig.
Erlebtes und Erinnerungen vergessen zu können, ist eher eine Fähigkeit des Gehirns als eine Fehlfunktion. Das Vergessen ermöglicht es unserem Gehirn, sich an veränderte Bedingungen anzupassen, wichtige Informationen abzuspeichern und Unwichtiges zu löschen.
Ein Göttinger Forscherteam unter der Leitung von Camin Dean am European Neuroscience Institute Göttingen (ENI-G) hat jetzt ein molekulares Detail entdeckt, das bei diesem Prozess des Vergessens im Gehirn eine wichtige Rolle spielt. Die Forscher haben herausgefunden: das Calcium-Sensor-Protein Synaptotagmin-3 (Syt3) bindet Neurotransmitter-Rezeptoren und entfernt sie aktiv aus post-synaptischen Membranen. Dieser Prozess schwächt die Stärke der synaptischen Verbindung und fördert das Vergessen.
Ständige Erneuerung
Teile des Prozesses, der im Gehirn beim Vergessen abläuft, sind bereits bekannt: Die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, sogenannte Synapsen, sind in der Lage, Erinnerungen zu speichern, indem sie die Anzahl von Neurotransmitter-Rezeptoren auf der Membran nachgeschalteter Synapsen (post-synaptische Membran) erhöhen. Unser Gehirn vergisst, wenn Neurotransmitter-Rezeptoren von der post-synaptischen Membran entfernt werden und so die synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen schwächen.
Das Forscherteam um Dean fand heraus, dass genmanipulierte Mäuse, die nicht in der Lage sind, das Protein Syt3 zu produzieren (Syt3-defizient Mäuse), zwar starke synaptische Verbindungen bilden können, indem sie die Anzahl an Neurotransmitter-Rezeptoren in der post-synaptischen Membran erhöhen. Es gelingt ihnen aber nicht, diese zu reduzieren und so die Verbindung wieder zu schwächen. Das bedeutet: Die Mäuse lernen normal, können das Erlernte aber nicht wieder vergessen.
Genau wie unbehandelte Kontrolltiere, konnten sich Mäuse, die kein Syt3 bilden, einen Zielort in einer Testumgebung gleichermaßen gut merken. Wurde dieser Zielort verändert, lernten beide Mausstämme den neuen Standort ebenfalls gleichermaßen gut kennen. Die genmanipulierten Tiere konnten jedoch den vorherigen Zielort nicht vergessen und kehrten immer wieder zu ihm zurück. Wurde der Zielort jeden Tag verschoben, suchten die Syt3-defizienten Mäuse frühere Zielorte auf, statt nach dem jeweils neu erlernten Ort zu suchen. Die Unfähigkeit zu vergessen beeinträchtigte also die Verhaltensflexibilität der Mäuse: Sie waren nicht in der Lage, zwischen einer Erinnerung und einer neuen, unmittelbar relevanten Erfahrung zu unterscheiden.
Für viele Erkrankungen relevant
"Unsere Forschung ist eng mit der Erforschung krankhafter Prozesse bei neuropsychiatrischen und neurodegenerativen Störungen verbunden", sagt Camin Dean. "Die Alzheimer-Krankheit beispielsweise ist durch anomales Entfernen von Neurotransmitter-Rezeptoren aus der Zellmembran gekennzeichnet. Wir können zeigen, dass die Verabreichung eines Peptids, das die Bindung von Syt3 an Neurotransmitter-Rezeptoren und damit deren Ausbau aus der Membran blockiert, das Vergessen bei Mäusen verhindert."
Verhaltensflexibilität und mangelndes Vergessen sind zudem Merkmale von Autismus-Spektrumstörungen. Lerntests bei Fruchtfliegen zeigen, dass eine Mutation von Risikogenen für Autismus das Vergessen beeinträchtigt. Und Patienten mit Autismus-Spektrumstörungen, die im Test gebeten werden, den Ort eines Reizes anzugeben, erfüllen die Aufgabe genau so gut wie Kontrollprobanden. Aber sie nennen nach einer Änderung des Reizortes weiterhin den zuvor erlernten Ort.
Obwohl die Fähigkeit zur Erinnerung oft als der wichtigste Aspekt des Gedächtnisses angesehen wird, können Defizite im Vergessen schwerwiegende Folgen haben. Ein Beispiel dafür ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). "Die gezielte Steuerung von Protein Syt3 könnte ein nützliches Werkzeug zur Behandlung solcher Störungen sein und speziell dazu beitragen, das abnormal starke und dauerhafte emotionale Gedächtnis im Zusammenhang mit früheren Traumata zu beseitigen", sagt Dean. (red,)
Originalpublikation:
Synaptotagmin-3 drives AMPA receptor endocytosis, depression of synapse strength, and forgetting
Nota. - Wenn die Hardware unseres Bewusstseins das Gedächtnis ist, dann gehört der Pförtner, der über Ein- und Ausgänge bestimmt, wesentlich dazu. Ja, die Ausgänge eben auch! Wird wahllos alles 'behalten', wäre ein begründete Organisation gar nicht möglich, doch in einer zufälligen Organisation kann sich keiner zu- rechtfinden. Nicht viel besser wäre es, wenn das Vergessen ohne System geschähe - die Übersicht ginge ständig verloren.
Würde das Vergessen alleerdings nur absichtlich möglich sein, dann wäre es - nicht möglich; denn die Ab- sicht würde ihrerseits Gedächtnisspuren hinterlassen. Es muss also eine Systematik des Vergessens geben, die selbst nicht bis ins Bewusstsein reicht. Eine Hybride, und entsprechend gering geschätzt wird sie auch.
JE
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