Samstag, 11. Mai 2019
Philosophie ist interessanter als Naturwissenschaft.
Dem Wiener Standard vom 5. Mai gab Jean-Marie Lehn, der französische Chemie-Nobelpreis- träger von 1987, ein Interview. Er hatte zunächst neben Chemie, Physik und Biologie auch Philo- sophie, Griechisch und Latein studiert.
"Lehn: ... Letztendlich habe ich mich für die Naturwissenschaften entschieden.
STANDARD: Weil Sie sie interessanter fanden?
Lehn: Philosophie ist viel interessanter! Die Probleme sind breiter. Aber es gibt keine Möglichkeit zu kon- trollieren, ob das, was Sie sagen, stimmt oder nicht. Ich dachte mir, bei Molekülen kann ich nachprüfen, ob meine Annahmen richtig sind. Naturwissenschaft enthält eine Wahrheit, die am Ende automatisch heraus- kommt. Darüber kann man nicht streiten, nur um recht zu haben. Was ich nicht verstehe, sind Leute, die Er- gebnisse fälschen. Es ist ganz verrückt, dass sie glauben, dass das nie aufgeklärt wird. Das geschieht nur, wenn das Thema nicht interessant ist – dann hat das aber auch keinen Zweck. Bei etwas Wichtigem wird zwangsläufig herausgefunden, wenn etwas gefälscht wurde. Die Wissenschaft ist selbstkorrigierend. ..."
Nota. - Wissenschaft ist systemisch prozessierend, weil sie öffentlich ist. Naturwissenschaft beschäftigt sich mit Gegenständen, an denen Forscher Erfahrungen machen können - im Experiment. Weil sie öffent- lich sind, kann ein jeder die Experimente überprüfen, indem er sie wiederholt. Welche Interpretation zu- trifft, kommt am Ende automatisch heraus. Positive Wissenschaft ist selbstkorrigierend.
Öffentlich ist auch die Philosophie. Ein Denker, der seine Überlegungen für sich behält, ist so gut, als gäbe es ihn nicht. Aber Philosophie ist nicht systemisch prozessierend. Einem jeden Denker steht es frei, sich mit dem zu befassen, was er für wichtig hält. Wenn er das für wichtig hält, was in der Zunft gerade ange- sagt ist, befindet er sich in einem "Diskussionszusammenhang" und hat was, woran er sich halten kann. Sobald aber etwas anderes angesagt wird - und das hat viel häufiger mit äußeren Anlässen zu tun als mit immanenter Dynamik -, zerfleddert der Dislussionszusammenhang, Ergebnisse kommen ins Archiv, und wenn er sich im pp. Zusammenhang keinen Namen gemacht hat, steht er mit der Emeretierung allein und mit leeren Händen da.
Das ist ein unsicheres Ding. Aber darum ist es auch interessanter als die Naturwissenschaft.
JE
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