Sonntag, 9. März 2014

Vorausschauende Pflanze - II.

aus derStandard.at, 8. März 2014, 17:58

Pflanzliche Intelligenz: Komplexe Entscheidungen eines Strauchs?
Forscher fanden Hinweise auf angewandte Risikoabschätzung bei der Gewöhnlichen Berberitze

Leipzig - Können Pflanzen komplexe Entscheidungen treffen? Ja, sagen Forscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig. Dies schließen sie aus Untersuchungen an der Gewöhnlichen Berberitze (Berberis vulgaris), die ihre eigenen Samen abtöten kann, um einen Befall mit Parasiten zu verhindern. Die Ergebnisse seien der erste ökologische Nachweis für ein komplexes Verhalten bei Pflanzen, berichten die Wissenschafter im Fachblatt "The American Naturalist". Es gebe klare Hinweise darauf, dass diese Strauchart über ein strukturelles Gedächtnis verfüge, äußere und innere Einflüsse unterscheiden sowie künftige Risiken abschätzen könne.

Die Gewöhnliche Berberitze, auch Sauerdorn genannt, ist eine in weiten Teilen Europas vorkommende Strauchart. Ihre nordamerikanische Verwandte, die Mahonie (Mahonia aquifolium), breitet sich seit einigen Jahren ebenfalls in Europa aus. Beim Vergleich der beiden Arten stellten bezüglich Parasitenbefalls deutliche Unterschiede fest: "Eine hoch spezialisierte Fliegenart, deren Larven sich eigentlich von den Samen der heimischen Berberitze ernähren, erreicht auf ihrer neuen Wirtspflanze, der Mahonie eine zehnfach höhere Populationsdichte", berichtet Harald Auge, Biologe am UFZ.

Gezielte Samenabtötung

Daraufhin sammelten die Forscher rund 2.000 Beeren aus verschiedenen Regionen Deutschlands, untersuchten sie auf Einstichspuren und schnitten sie auf, um den Befall durch die Larve der Sauerdorn-Bohrfliege (Rhagoletis meigenii) zu untersuchen. Dieser Parasit sticht die Beeren an, um seine Eier darin abzulegen. Wenn eine Larve es schafft, sich zu entwickeln, ernährt sie sich von den Samen in der Beere - in der Regel verfügt die Berberritze über zwei pro Frucht. Eine Besonderheit der Pflanze: Sie ist in der Lage ist, die Entwicklung ihrer Samen zu stoppen, um Energie zu sparen. Und diesen Mechanismus setzt sie auch zur Bekämpfung der Sauerdornfliege ein: Ist ein Samen mit dem Parasiten befallen, wird die sich entwickelnde Larve später beide Samen auffressen. Lässt die Pflanze dagegen den einen Samen absterben, stirbt damit auch der Parasit - der zweite Samen ist gerettet.

Bei der Auswertung der Samen stießen die Forscher nun auf eine überraschende Entdeckung: "Die Samen in den von Parasiten befallenen Früchten werden nicht immer abgetötet, sondern je nachdem wie viele Samen in den Beeren vorhanden sind", schildert Mitautorin Katrin Meyer. Enthielt die befallene Frucht zwei Samen, töteten die Pflanzen in 75 Prozent der Fälle den befallenen Samen ab und retteten dadurch den zweiten. Enthielt die befallene Frucht dagegen nur einen Samen, töteten die Pflanzen nur in 5 Prozent der Fälle den befallenen Samen ab. 

Unklare Informationsverarbeitung

Per Modellrechnung konnten die Biologen zeigen, dass die durch Parasitenbefall gestressten Pflanzen anders reagieren als die ungestressten. "Würde die Berberitze ihre Frucht mit nur einem, aber befallenen Samen abtöten, dann hätte sie die gesamte Frucht umsonst angelegt. Stattdessen 'spekuliert' sie offenbar darauf, dass die Larve von selbst abstirbt, was auch vorkommen kann. Minimale Chancen sind besser als gar keine", sagt  Hans-Hermann Thulke vom UFZ. "Dieses Handeln mit Vorausschau, in dem erwartete Verluste und äußere Bedingungen abgewogen werden, hat uns sehr überrascht. Pflanzliche Intelligenz rückt damit in den Bereich des ökologisch Möglichen, lautet die Botschaft unser Studie."

Aber woher weiß die Berberitze, was ihr nach dem Einstich der Sauerdorn-Bohrfliege droht? Wie die Informationsverarbeitung in der Pflanze funktioniert und wie sich dieses komplexe Verhalten im Laufe der Evolution entwickeln konnte, ist nach wie vor unklar. Die nahe Verwandte der Berberitze, die Mahonie, lebt zwar bereits seit rund 200 Jahren in Europa mit dem Risiko, von der Sauerdorn-Bohrfliege befallen zu werden, hat aber keine vergleichbare Schutzstrategie entwickelt. Die neuen Erkenntnisse werfen ein überraschendes Licht auf die unterschätzten Fähigkeiten von Pflanzen, eröffnen aber zugleich viele neue Fragen. (red, derStandard.at, 8.3.2014)
 

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