Das Wesen der Wissenschaft
Paul Hoyningen-Huene skizziert eine Theorie der «Systematizität»
Paul Hoyningen-Huene skizziert eine Theorie der «Systematizität»
von Karim Bschir · Die
Wissenschaft spielt zweifellos eine bedeutende Rolle in unserer
Gesellschaft. Doch was ist eigentlich Wissenschaft? Was zeichnet diese
so wichtige und vielfältige menschliche Praxis als solche aus? Auch die
Philosophie hat sich diese Frage seit der Antike immer wieder gestellt.
Dies führte nicht selten zu dem Versuch, Wissenschaft durch eine ganz
bestimmte Methode zu charakterisieren und so von anderen Formen des
Wissens abzugrenzen. Man denke dabei etwa an den Positivismus des Wiener
Kreises oder an Karl Poppers berühmte Methode der Falsifikation. Es gab
allerdings auch Stimmen, die sich gegen diesen Versuch ausgesprochen
haben. So hat Paul Feyerabend darauf hingewiesen, dass ein genauer Blick
auf die Geschichte und die tatsächliche Praxis der Wissenschaft zeige,
dass diese allenfalls dem Prinzip des «anything goes» folge und dass so
etwas wie «die wissenschaftliche Methode» nicht existiere.
Der in Hannover lehrende
Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene gibt in seinem Buch
«Systematicity - The Nature of Science» der Frage nach dem Wesen der
Wissenschaft eine neue Wendung. Im Gegensatz zu Feyerabend, der aus der
Annahme, die Wissenschaft folge keiner einheitlichen Methode, den
Schluss zog, dass sie sich durch nichts von anderen menschlichen
Tätigkeiten und Wissensformen unterscheide, ist Hoyningen-Huene sehr
wohl vom eigenständigen Charakter der Wissenschaft überzeugt. Obschon er
eingesteht, dass es keine allgemeine Definition von
Wissenschaftlichkeit gebe, glaubt er, dass wissenschaftliches Wissen
sich durch ein besonderes Merkmal von anderen Formen des Wissens
unterscheide: durch sein höheres Mass an Systematizität.
Damit ist wenig und gleichzeitig
vieles gesagt. Denn auf den ersten Blick scheint es geradezu trivial, zu
behaupten, die Wissenschaft sei systematischer als das Alltagswissen.
Doch wie so oft in der Philosophie verlangen gerade mutmasslich triviale
Behauptungen nach besonders sorgfältigen Begründungen. Und so
identifiziert Hoyningen-Huene neun Dimensionen, in denen die
Wissenschaften ein höheres Mass an Systematizität aufweisen als die
entsprechenden Bereiche des Alltagswissens. Es sind dies:
Beschreibungen, Erklärungen, Voraussagen, die Verteidigung von
Wissensansprüchen, der kritische Diskurs, die empirische Vernetzung, ein
Ideal von Vollständigkeit, die Genese von neuem Wissen und die
Repräsentation von Wissen.
Im ersten Teil des Buches wird
jede der neun Dimensionen genau unter die Lupe genommen. Dabei wird
deutlich, dass nicht jede wissenschaftliche Disziplin, um als solche zu
gelten, sich zwingend in allen neun Dimensionen auszeichnen muss. So
gelingt es dem Autor, seine These nicht nur auf die Naturwissenschaften,
sondern ebenso auch auf die Geisteswissenschaften anzuwenden, insofern
auch Letztere in mancherlei Hinsicht einen hohen Grad an Systematizität
an den Tag legen. Im zweiten Teil vergleicht er seine Theorie mit den
Positionen von Aristoteles, Descartes, Kant, dem logischen Empirismus,
Popper, Kuhn, Feyerabend und mit jener des amerikanischen Philosophen
Nicholas Rescher: Die Genannten hätten wichtige Beiträge zum Verständnis
von Wissenschaft geleistet, seien allesamt auf die eine oder andere
Weise einseitig gewesen. Die Systematizitätstheorie erhebt damit - wenig
verwunderlich - den Anspruch, vollständiger zu sein als alle
vorhergegangenen Wissenschaftstheorien. Und in der Tat: Mit dem Buch
Paul Hoyningen-Huenes liegt nun eine allgemeine Wissenschaftsphilosophie
vor, die der Vielfalt der Wissenschaft gerecht wird, ohne dabei in
Einseitigkeiten oder Relativismus abzugleiten.
Die zahlreichen Beispiele, die der
Argumentation zur Seite gestellt sind und die von Physik, Astronomie,
Geometrie, Geografie, Geologie und Meteorologie bis hin zu Soziologie,
Literaturtheorie, Anthropologie und Ökonomie reichen, machen das Buch
umso anschaulicher und lesenswerter. Trotz der Fülle des Materials
behält der Text stets die grosse Frage im Auge, was die Wissenschaft als
ganze auszeichne; und diese Frage ist gewiss nicht nur für einen
esoterischen Kreis von Philosophen interessant.
Paul Hoyningen-Huene: Systematicity - The Nature of Science.
Oxford University Press 2013. 304 S., $ 58.50.
Nota.
Systematizität ist nur sekundär Charakter der Wissenschaft. Sie ist Bedingung dafür, dass sich die Einzelwissenschaften zu öffentlichem Wissen entwickeln können, weil sie nur so allgemein zugänglich und miteinander vergleichbar sind. Wäre jede einzelne Wissensdisziplin ein eigenes Labyrinth, blieben sie esoterisch, weil nicht von außen kritisierbar. Sie wären Unwissenschaft.
Historisch betrachtet, hat der Autor natürlich Recht: Nur indem sich die Einzeldisziplinen um Systematik bemühten, wurden sie vergleichbar und wurden sie allgemeines, öffentliches Wissen.
JE
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