Der Beginn einer neuen Zeit, bewahrt in Stein
Fossilien geben Hinweise auf die Grundlagen und den Ablauf der sogenannten kambrischen Explosion
Fossilien geben Hinweise auf die Grundlagen und den Ablauf der sogenannten kambrischen Explosion
von Kurt de Swaaf
Das Kambrium zeichnet sich durch eine neu entstehende Vielfalt von Arten und Ökosystemen aus. Die Erforschung von Fossilien aus dem Norden Grönlands bietet Einblick in diese sogenannte kambrische Explosion.
82° 47,6' Nord, 42° 13,3' West: Wer zum Sirius Passet will, muss buchstäblich ans Ende der Welt reisen. Die Landenge zwischen zwei Fjorden im nördlichsten Grönland ist nur per Flugzeug oder Hundeschlitten erreichbar. «Oder mit einem Eisbrecher», sagt John Peel, Paläontologe von der Universität Uppsala. Peel hat den extrem entlegenen Ort mehrfach besucht. Aus gutem Grund: Am Sirius Passet befindet sich eine fast einzigartige Fossilien-Lagerstätte. Die dort anstehende Buen-Gesteinsformation enthält aussergewöhnlich gut konservierte Überreste von Tierarten, die vor etwa 518 Millionen Jahren den Ozean bevölkerten - just zu jener Zeit, als eines der grössten Mysterien der Evolution stattfand, die kambrische Explosion.
Enorme Vielfalt neuer Formen
Der Begriff steht für die
Entstehung einer enormen Vielfalt neuer Tierformen im Erdzeitalter des
Kambriums (vor etwa 541 bis 480 Millionen Jahren). Damals wurde
praktisch die moderne Fauna begründet - mit Würmern, Mollusken,
Gliederfüssern und den Vorläufern der Wirbeltiere. Das recht plötzliche
Auftauchen solchen Getiers in Fossilien führenden Schichten bereitete
schon Charles Darwin Kopfzerbrechen. Der Gelehrte sah darin ein
potenzielles Argument gegen seine Evolutionstheorie: kein schrittweiser
Entwicklungsprozess, sondern ein plötzliches, explosionsartiges
Erscheinen zahlreicher neuer Spezies. Was war passiert?
In the image above, trilobites (1) live among many species that are not normally preserved. A typical Cambrian outcrop might produce only trilobites, brachiopods (2), mollusks (3), and crinoids (4). That is a tiny fraction of the full Cambrian biota, better r
In the image above, trilobites (1) live among many species that are not normally preserved. A typical Cambrian outcrop might produce only trilobites, brachiopods (2), mollusks (3), and crinoids (4). That is a tiny fraction of the full Cambrian biota, better r
Vor dem Beginn des Kambriums
hatten Einzeller und seltsame Weichkreaturen, die sogenannte
Ediacara-Fauna, die Ozeane bevölkert. Ihre Lebensgemeinschaften scheinen
recht friedlicher Natur gewesen zu sein, es gibt keine Hinweise auf
räuberische Arten. Stattdessen gediehen skurrile, fächerartige Kreaturen
ohne festes Skelett.
Dann änderte sich plötzlich alles.
Zahllose mit mahlenden Mundwerkzeugen und Panzern ausgestattete
Geschöpfe besiedelten die Meere. Auch die Ökosysteme änderten sich
radikal. Das Ergebnis dieses Prozesses, eine neu entstandene Diversität,
spiegelt sich im Fossilienreichtum der 505 Millionen Jahre alten
sogenannten Burgess-Shale-Schichten (siehe Kasten). Die
Sirius-Passet-Lagerstätte dagegen gebe Einblick in eine frühere Phase
der kambrischen Explosion, sagt Peel. Sie zeige eine Momentaufnahme
dieses Geschehens und enthalte zahlreiche Fossilien von Organismen mit
weichen Körpern, wie zum Beispiel den ältesten bekannten Borstenwürmern.
Das mache diesen Fundort so besonders.
Geologische Umwälzungen
Über die Ursachen der kambrischen
Arten-Explosion streiten sich Experten. Laut einigen von ihnen dürften
geologische Umwälzungen eine entscheidende Rolle gespielt haben. An
vielen Orten rund um den Globus ruhen kambrische Sedimentablagerungen
nämlich direkt auf Gestein, das zum Teil mehr als eine Milliarde Jahre
alt ist. Zwischen der Entstehung dieser Schichten klafft also eine
gewaltige Zeitlücke. Fachleute bezeichnen dieses rätselhafte Phänomen
als die «Grosse Unkonformität». Wie kam sie zustande? Die
urkontinentalen Landmassen, so vermutet man, lagen mehrere hundert
Millionen Jahre nackt unter der Atmosphäre. Felsmassive verwitterten in
dieser Zeit, es entstanden ausgedehnte Ebenen. Dann begann der
Meeresspiegel zu steigen. Die Küstenlinie wanderte immer weiter
landeinwärts, eine Art Sintflut in Zeitlupentempo. Während dieses
Prozesses erodierte noch mehr Gestein. Ein Teil wurde aufgelöst, wodurch
sich die chemische Zusammensetzung des Meerwassers änderte. Vor allem
die Calciumkonzentration stieg stark an.
«Mehrere Beweislinien sprechen
dafür, dass Calcium damals ein Zellgift war», erklärt der Paläobiologe
Paul Smith von der Oxford University. Viele Organismen wussten sich
allerdings zu helfen. Sie begannen, so vermutet man, den eindringenden
Problemstoff in sicheren Depots zu lagern. Von hier aus war es dann kein
weiter Weg zum Einsatz von Calciumverbindungen als Baumaterial. Ob
Knochen, Panzer oder Zähne: Fast alle im Kambrium neu entstandenen
Strukturen basierten auf Calcium, sagt Smith. Diese Innovationen hätten
sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung gedient. Das habe einen
regelrechten Rüstungswettlauf befeuert. Die Evolution nahm Fahrt auf.
Mit dem Erscheinen unterschiedlichster Raubtiere entstanden ganze
Nahrungsketten - der Beginn einer neuen Zeit. Smith betont gleichwohl,
dass die kambrische Explosion nicht einen einzigen Auslöser gehabt habe,
sondern von verschiedenen biotischen und abiotischen Prozessen
begünstigt worden sei.
Wie komplex diese Zusammenhänge
sind, zeigen die Arbeiten von Gabriele Mángano. Die an der University of
Saskatchewan in Saskatoon in Kanada tätige Wissenschafterin ist auf die
Erforschung von urzeitlichen Spuren spezialisiert. Wie eine
Forensikerin sucht sie nach oft winzigen Anzeichen tierischer Aktivität,
etwa Grabgängen, Kriechspuren oder Bohrlöchern. Solche Spurenfossilien
würden mitunter kaum beachtet, sagt Mángano. Doch denjenigen, die genau
hinschauen, bieten sie eine Fülle an Informationen - und viele
aufschlussreiche Spurenfossilien stammen aus Sirius Passet.
Tierkadaver am Meeresgrund
In den Schichten der Lagerstätte
finden sich unterschiedliche Typen solcher Hinweise. Sie sind nicht
gleichmässig im versteinerten Schlamm verteilt, sondern konzentrieren
sich überwiegend dort, wo Abdrücke schalenartiger Strukturen erkennbar
sind. Letztere stammen von den Weichpanzern grösseren Getiers. Sie
ähneln den Überresten von Tegopelte, einem Gliederfüsser aus der
Burgess-Shale-Fauna. Die Schalen hätten vermutlich aus Chitin bestanden,
sagt Mángano. Wenn einer ihrer Träger starb oder sich häutete, sank
sein Panzer auf den Meeresboden und lockte dort andere, kleinere
Lebewesen an. «Sie frassen, was immer übrig geblieben war.»
Was heute für viele aasfressende
Tierarten üblich ist, war vor mehr als 500 Millionen Jahren wohl eine
biologische Revolution. Bis dahin, erklärt Mángano, dürfte das Leben am
Meeresgrund eine eintönige Angelegenheit gewesen sein. Ausgedehnte
Bakterienmatten bedeckten den Boden, und diese stellten die dominierende
Nahrungsquelle dar. «Zu Beginn des Kambriums gab es jedoch
entscheidende Veränderungen in der Struktur von Ökosystemen», sagt
Mángano: Von der Monotonie der Bakterienmatten ging es hin zu einem von
verschiedenen mehrzelligen Arten besiedelten Meeresboden mit einer
ersten im Sediment lebenden «Infauna». Die Entstehung neuer Spezies ging
Hand in Hand mit der Entstehung neuer ökologischer Nischen, beide
Entwicklungen begünstigten sich gegenseitig. In der Tiefe waren
vermutlich absinkende Tierkörper von entscheidender Bedeutung. Ähnlich
wie heute Walkadaver bildeten sie die Siedlungsgrundlage für ganze
Lebensgemeinschaften, wenn auch im Miniaturformat. Vor dem Kambrium gab
es anscheinend keine Tierarten mit festen Strukturen, deren Körper lange
genug überdauerten, um dies zu leisten.
Komplexes Verhalten
Wie Mángano feststellte, wurde ein
Teil der Gänge am Sirius Passet anscheinend öfters besucht. Es handelte
sich bei ihnen also offenbar um dauerhaft genutzte Konstruktionen und
nicht um die Resultate einer zufälligen Fortbewegung durchs Substrat.
Die Bewohner der Gänge, Würmer oder vielleicht auch kleine
Gliederfüsser, dürften bei ihren Besuchen jeweils Bakterienkolonien
abgegrast haben, die auf den Innenwänden der Tunnel gediehen. Zuvor
abgelagerter Schleim diente diesen wohl als Nährboden. Die grabenden
Organismen hätten demnach eine Art Bakterienanbau betrieben, so wie dies
manche modernen Schneckenspezies tun. Ein solch komplexes Verhalten -
das es zu Zeiten der Ediacara-Fauna nicht gegeben habe - sei eine
weitere Signatur der kambrischen Explosion, sagt Mángano.
ebd.
KdS. · Die 1909 von Charles Walcott, einem amerikanischen Paläontologen, entdeckte Burgess-Shale-Lagerstätte in den kanadischen Rocky Mountains zählt zu den weltweit wichtigsten Fossilien-Fundorten. Seit Walcotts ersten Ausgrabungen wurden hier Zehntausende Überreste von rund 200 verschiedenen urzeitlichen Tierarten sowie einige Algenspezies geborgen. Ähnlich wie jene am Sirius-Passet sind auch die Burgess-Shale-Fossilien oft sehr gut erhalten. Der Schiefer, der sie enthält, bestand ursprünglich aus weichem Schlamm, der die Tiere vermutlich in lawinenartigen Ereignissen unter sich begrub. Die Fauna lebte im Umfeld eines Riffs am Rande einer Flachwasserzone. Damals, vor 505 Millionen Jahren, herrschten hier tropische Verhältnisse: Die heutige nordamerikanische Landmasse lag in Äquatornähe.
Die kambrische Artenvielfalt scheint damals schon fast in voller Blüte gestanden zu haben. Unter den Burgess-Shale-Funden sind zahlreiche Trilobiten und andere Gliederfüsser, aber auch Würmer sowie primitive Tintenfische. Einige von ihnen sind noch immer rätselhaft. Hallucigenia etwa sieht mit ihren stelzenartigen Beinchen und langen Rückenstacheln aus, als wäre sie einem Traum des Surrealisten Salvador Dali entsprungen. Bei Wiwaxia dürfte es sich um eine Art Schnecke mit Schuppenpanzer gehandelt haben. Opabinia war wohl ein agil schwimmendes Geschöpf, ausgestattet mit fünf Augen und einem zangenbewehrten Greiftentakel. Der bis zu zwei Meter lange Anomalocaris, der einer Art Garnele ähnelt, war der Riese im kambrischen Meer und wahrscheinlich ein Raubtier.
Weitere Überraschungen werden wohl bald folgen: Anfang Februar wurde in der Online-Fachzeitschrift «Nature Communications» die Entdeckung einer neuen Burgess-Shale-Lagerstätte, gut 40 Kilometer vom ursprünglichen Fundort entfernt, bekanntgegeben.
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