Glaube ohne Dogma?
Mario Perniola über «katholisches Fühlen»
Jan-Heiner Tück · Vorkämpfer für einen dogmenfreien Glauben und eine Kirche ohne Hierarchie hat es schon viele gegeben. Wer ein Fragezeichen hinter die Unfehlbarkeit des Papstes setzt oder die Lehre von der Gottessohnschaft Jesu Christi in Zweifel zieht, kann in Zeiten wachsender Erosion des Glaubens kaum gesteigerte Aufmerksamkeit beanspruchen - es sei denn, er verbindet seine Kritik mit einer originellen These, wie es der italienische Philosoph Mario Perniola in seinem Buch «Vom katholischen Fühlen» getan hat: Die Definitionshoheit müsse der Kirche entzogen werden, das Katholische falle nicht mit der amtlichen Selbstbeschreibung des Katholizismus zusammen. Der «Wesenskern» des Katholischen bestehe im Fühlen, nicht im Glauben.
Mario Perniola über «katholisches Fühlen»
Jan-Heiner Tück · Vorkämpfer für einen dogmenfreien Glauben und eine Kirche ohne Hierarchie hat es schon viele gegeben. Wer ein Fragezeichen hinter die Unfehlbarkeit des Papstes setzt oder die Lehre von der Gottessohnschaft Jesu Christi in Zweifel zieht, kann in Zeiten wachsender Erosion des Glaubens kaum gesteigerte Aufmerksamkeit beanspruchen - es sei denn, er verbindet seine Kritik mit einer originellen These, wie es der italienische Philosoph Mario Perniola in seinem Buch «Vom katholischen Fühlen» getan hat: Die Definitionshoheit müsse der Kirche entzogen werden, das Katholische falle nicht mit der amtlichen Selbstbeschreibung des Katholizismus zusammen. Der «Wesenskern» des Katholischen bestehe im Fühlen, nicht im Glauben.
Nun ist die Provinz des Gefühls,
wie Perniola selbst einräumt, schon besetzt - und zwar protestantisch.
In seinen Reden über Religion «an die Gebildeten unter ihren Verächtern»
hat Schleiermacher das Wesen von Religion nicht im Denken oder Handeln,
sondern in Anschauung und Gefühl ausgemacht. Das fromme
Selbstbewusstsein gründe im Gefühl der «schlechthinnigen Abhängigkeit».
Mit der Betonung der Unmittelbarkeit des Einzelnen vor Gott ist eine
Relativierung der kirchlichen Heilsvermittlung verbunden. Das Gewissen
erscheint als Allerheiligstes, in das niemand, auch die Kirche nicht,
hineinreden darf. An Schleiermacher will Perniola, dem es mit dem
katholischen Fühlen um eine universelle Erfahrung geht, nicht anknüpfen.
Der religiöse Subjektivismus bekomme kaum in den Blick, dass es andere
Modalitäten des Fühlens gebe, die rituell, ästhetisch oder
institutionell vermittelt seien. Der Innerlichkeit des religiösen
Subjekts im Protestantismus stellt der Autor ein katholisches Fühlen
entgegen, das auf Aussenerfahrungen zurückgehe und welt- und
geschichtshaltiger sei.
In der ersten Hälfte des 16.
Jahrhunderts sieht er dieses katholische Fühlen vorgeprägt. Die
«individuelle Teilnahme an Kulthandlungen» oder «intellektuelle
Zustimmung zu den Dogmen» seien damals irrelevant gewesen. Kirche und
Welt hätten sich geradezu verschränkt, das habe die katholische
Sensibilität bestimmt. Ignatius von Loyola und Francesco Guicciardini
werden als Kronzeugen aufgerufen. Bei Guicciardini, dem Theoretiker
eines politischen Realismus, steht der Einbruch der Geschichte im
Zentrum. Die Erfahrung, dass der Weltlauf oft anderswohin führt, als die
Menschen wünschen (oder befürchten), sensibilisiert den Weggefährten
Machiavellis für Abweichungen und Brüche.
Auch bei Ignatius sieht Perniola
eine gesteigerte Wahrnehmung für derlei Differenzerfahrungen. Dass der
Baske der Gründer der Gesellschaft Jesu ist, die in Zeiten der
Gegenreformation die Glaubenslehre gestärkt und die katholische Moral
gefestigt hat, fällt für ihn weniger ins Gewicht. Für bedeutsamer hält
er die geistlichen Übungen des Ignatius. Die Exerzitien folgen weder
einer abstrakten Lehre noch einer speziellen Moral, sie haben die
konkrete Situation des Einzelnen im Blick, der eine gewisse Indifferenz
gegenüber der Welt einüben soll. Diese Indifferenz ist die Voraussetzung
für die freie Wahl, die das weitere Leben bestimmen soll. Auf dem Weg
dahin spielen die geistlichen Sinne, aber auch die Affekte des Trostes
und der Trostlosigkeit eine grosse Rolle. Ob sich der ignatianische Sinn
für die Sinne und die «Mystik der Weltfreudigkeit» (Karl Rahner) gegen
das Dogma ausspielen lassen und der Ordensgründer als Kronzeuge für
einen orthodoxiefreien Katholizismus angeführt werden kann, ist
allerdings fraglich. Immerhin ist die Fleischwerdung des göttlichen
Logos die Voraussetzung dafür, dass die geistlichen Sinne geschärft und
die Stationen des Lebens Jesu in den Exerzitien näher betrachtet werden
können.
Mit seinem Plädoyer für eine
katholische Sensibilität erinnert Perniola zu Recht daran, dass die
kirchliche Fixierung auf Dogma und Moral die ästhetische Dimension des
Glaubens lange vernachlässigt hat. Das katholische Fühlen, dem es «intra
muros ecclesiae» zu eng wurde, ist ausgewandert und hat sich ausserhalb
der Kirche vielfältige Rückzugsorte geschaffen. Ein Beispiel dafür
erblickt Perniola in Robert Musils Roman «Der Mann ohne Eigenschaften»,
der den Möglichkeitssinn für Geschichte geschärft habe und durchaus als
Neuauflage der ignatianischen Indifferenz gelesen werden könne. Als
grossangelegten Versuch, neben dem Wahren und Guten auch das Schöne in
Theologie und Kirche zu rehabilitieren, würdigt Perniola am Ende auch
die theologische Ästhetik Hans Urs von Balthasars, der in seinem
mehrbändigen Werk «Herrlichkeit» einen ganzen Fächer klerikaler und
laikaler Stile ausbreitet, die der Schönheit des Glaubens vielstimmig
Ausdruck verleihen.
Balthasar hätte für die
Empfehlung, die kulturproduktiven Seiten des Katholizismus von Dogma und
Moral abzukoppeln, allerdings kaum mehr als ein Stirnrunzeln übrig
gehabt. Im Zentrum seiner Ästhetik steht der Begriff der Gestalt - ein
Begriff, der nicht nur auf Goethe zurückverweist, sondern auch
inkarnations- und kreuzestheologische Konturen hat. Es ist die Gestalt
des Menschgewordenen, der Welt und Geschichte aufgesucht hat. Hier
verschränken sich Transzendenz und Immanenz, hier gehen die Allmacht
Gottes und die Ohnmacht des Gekreuzigten eine Verbindung ein, hier wird
jede Ästhetik gesprengt, die das Negative - Leiden, Schmerz und Tod -
ausblendet.
Ohne Inkarnation und Kreuz aber,
die das Dogma der Kirche vor Aufweichungen schützt, gibt es keine
katholische Kultur. Mario Perniola hingegen scheint die ästhetischen
Früchte des Katholizismus ernten zu wollen, ohne die Wahrheit des
Glaubens anzunehmen, aus deren Wurzelgrund diese Früchte hervorgegangen
sind. Damit unterschätzt er die kulturprägende Kraft des Dogmas. Sein
orthodoxiefreier Katholizismus mag flott im postmodernen Zeitwind
dahinsegeln, künstlerisch bietet er keine Reibungsflächen und verdoppelt
nur das «anything goes». Anders der Glaube der Kirche, der durch das
Dogma Kontur bekommt und im öffentlichen Kult eine Farben- und
Formensprache gefunden hat: An ihm können sich Kunst und Kultur
produktiv abarbeiten - auch heute und gegebenenfalls im Widerspruch.
Mario Perniola: Vom katholischen Fühlen. Die kulturelle Form einer universellen Religion. Aus dem Italienischen von Sabine Schneider. Matthes & Seitz, Berlin 2013. 182 S., Fr. 39.90.
Nota.
Ohne Dogma gibt es nicht nur keine Kirche, sondern auch keinen Glauben. Das Fühlen ist individuell und volatil, es hat - und gibt - keinen Halt. Dem, der aufs Dogma und damit auf den Glauben verzichtet, bleibt nur die Vernunft, das weiß man längst.
JE
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