Mittwoch, 22. Juni 2016

Wissenschaftliche Halbwelt.

aus nzz.ch, 6. 6. 2016                                                                               Faust, Wagner und der Pudel

Aus der Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Hilfskräfte
Als der Professor einen «Purschen» hatte
Die wissenschaftliche Hilfskraft, die der wissenschaftlichen Kraft des Professors zuarbeitet, ist keine neue Gestalt. Ein Blick in die Geschichte.

von Martin Mulsow

Wenn man im deutschsprachigen Raum von «Hiwi» spricht, dann weckt das gemischte Assoziationen. Die «wissenschaftlichen Hilfskräfte», die an den Universitäten tätig sind, müssten ja eigentlich «Wihis» genannt werden. Zudem war «Hiwi» einst als Abkürzung für «Hilfswillige» gebräuchlich – das waren Hilfskräfte im Zweiten Weltkrieg innerhalb der deutschen Wehrmacht oder der SS, die in der Bevölkerung der besetzten Länder rekrutiert wurden. In der Nachkriegszeit muss man an den Universitäten noch lange Zeit diese andere Bedeutung mitgehört haben, wenn man dort als Hilfskraft, als «Hiwi», anheuerte.

Wissensgeschichten

Das Phänomen der wissenschaftlichen Hilfskraft freilich ist viel älter als die Abkürzung «Hiwi». Studenten haben sich vor Jahrhunderten schon als Helfende bei Professoren verdingt, sei es, um sich ihr Studium – zumindest teilweise – zu verdienen, sei es, um in die Nähe der gelehrten Wissenschafter zu gelangen, die man eines Tages auf ihren Posten beerben wollte. Nur die Art der Anstellung, ihre institutionelle oder habituelle Einbettung, ihr Status, ihr Aufgabenprofil, hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Heute gibt es Bibliotheks-Hiwis, Lehrstuhl-Hiwis, Helfer in Verlagen. Damals, etwa im späten 17. oder frühen 18. Jahrhundert, gab es «Professoren-Purschen», die beim Lehrstuhlinhaber zur Miete wohnten, oder auch solche, die «Freitische» hatten und – eine Art Stipendium – bei ihm zu Mittag essen durften, dafür seine Bibliothek in Ordnung hielten oder ihm beim Vorbereiten der Vorlesung halfen. Es gab aber auch individuell angestellte Helfer, die dem Gelehrten bei der Forschung zur Hand gingen und zu seinem engeren oder erweiterten «Haushalt» gehörten – nicht selten waren das die eigene Frau oder auch die Kinder, Söhne oder Töchter; sonst suchte man dafür begabte Studenten aus, die nicht selten die eigenen Schwiegersöhne wurden.

Doch blicken wir nicht so sehr auf die Sozialgeschichte, sondern auf die Wissensgeschichte solcher Hiwis. Haben sie teilgenommen am Prozess der Modernisierung, an jenen Stellen, an denen ein erster Schritt weg von traditionellen Vorstellungen getan und eine Dynamik der Radikalisierung des Denkens in Gang gesetzt wurde? Das konnte durchaus geschehen, ob die Beteiligung nun unfreiwillig, spielerisch oder vorläufig war. Tatsache ist, dass, wenn ein solcher Schritt – wie auch immer – einmal getan war, andere Wissenschafter daran anknüpfen und das Begonnene, vielleicht auf seriösere Weise, fortführen konnten.

Psychogramm

Ein Muster jedenfalls, das sich für die ins Auge gefassten Radikalisierungen feststellen lässt, ist dieses: Sehr junge Leute – Studenten, frisch Graduierte, Hauslehrer –, die im engen Umgang mit avancierten Gelehrten waren, nehmen Gedanken dieser Gelehrten auf, wandeln sie ab und gelangen so auf neue, heterodoxe Pfade. Das beschreibt genau jene «epistemische Situation», in der Hilfskräfte sind. Im Normalfall bleibt das harmlos, aber es gab auch Hilfskräfte, die nicht so gearbeitet haben, wie ihr Professor es wollte, oder die es zu gut meinten und Gedanken formulierten, die nach aussen dringen zu lassen ihr Professor sich gehütet hätte.

Man kann versuchen, diese Hiwis in ihrem Profil zu skizzieren, zunächst in einer Art Psychogramm, dann in einem «epistemischen Soziogramm». Im Psychogramm geht es um den Habitus, der sich bei einer durchaus prekären Beschäftigung in einem frühen Lebensabschnitt ausbildet. Es geht um Zweiundzwanzig-, Dreiundzwanzigjährige, die am Ende ihres Studiums sind oder gerade ihr Examen gemacht haben – in der heutigen Terminologie: die nicht mehr studentische, sondern wissenschaftliche Hilfskräfte sind, die also schon einiges wussten, aber hinwiederum noch nicht ganz so viel wie «senior scientists».

Solche Hiwis sind neugierig, sie machen noch Fehler, sie haben aber noch nichts zu verlieren, das heisst, sie haben noch keinen festen Posten, keine Familie, die sie aufs Spiel setzen würden, wenn sie Unsinn machen; sodann sind sie unternehmungslustig, haben Pläne, sind auch zu Spässen aufgelegt; und schliesslich sind sie kritisch gegenüber den Autoritäten und schiessen dabei in ihrer Kritik auch einmal übers Ziel hinaus. Nicht jede Generation ist notwendigerweise frech und aufbegehrend, doch in der Zeit um 1700, aus der die weiter unten angeführten Beispiele stammen, lassen sich solche Charaktere oftmals finden.

Soziogramme

Wie sieht es mit dem Soziogramm aus? Ich nenne es ein «epistemisches», da es dabei allein um den Effekt geht, den eine soziale Figuration auf Wissensformen und Erkenntnisleistungen hat. Der Hilfswissenschafter ist Teil einer Dyade, die von ihm selbst und seinem Arbeitgeber, dem Professor oder Gelehrten, gebildet wird. Zugleich aber ist er meist unter seinesgleichen, nicht isoliert, sondern in ein Netz von Freunden oder Mitangestellten eingebunden. Entscheidend ist das Zusammenspiel der beiden Sphären: Der Hiwi kann Gedanken oder Texte seines Professors aufnehmen und in seinen eigenen Kreisen zirkulieren lassen, abwandeln, ad absurdum führen, ausbeuten, zur Polemik gegen andere benutzen, veröffentlichen, zur eigenen Profilierung verwenden usw.

Wissen wird in jedem Fall aus einer sozialen Situation in eine andere übergeführt, und dabei kann eine Menge passieren. Zum Beispiel kann sogenannte graue Literatur entstehen, das heisst anonyme, halböffentliche Publikationen, die zunächst in kleinen Kreisen zirkulieren, die ihren Weg dann aber auch in eine Öffentlichkeit finden können, die über diese Kreise hinausgeht.

Hilfswissenschafter sind Teil solcher Aktivitäten gewesen. Meist gab es natürlich Fälle, in denen die Dyade mit dem Professor relativ isoliert und unproblematisch war. So hat etwa Hiob Ludolf (1624–1704), Polyhistor und Äthiopist, der zeitweise als Diplomat im Dienste des Herzogs von Sachsen-Gotha tätig war, in Frankfurt seine Hilfskräfte sehr systematisch ausgewählt, um sie an den Bänden der «Historia Aethiopica» mitarbeiten zu lassen. Es waren Studenten der Theologie und der orientalischen Sprachen, sie konnten bei ihm wohnen und von ihm Äthiopisch lernen, dafür hatten sie die Reinschrift für den Drucker herzustellen, den Appendix und den Index zu besorgen und Korrektur zu lesen. Es war das übliche Tauschverhältnis – und es lief noch nichts schief.

Ein wenig schief lief es dann in einem anderen Fall. Johann Philipp Palthenius (1672–1710) war bibliothekarische Hilfskraft von Johann Friedrich Mayer in Hamburg. Sein Chef war Hauptpastor, nebenbei noch Professor in Kiel und somit oft nicht zu Hause. Palthenius hatte alle Zeit der Welt, um in der riesigen Bibliothek herumzustöbern. Dabei fand er eines Tages ein Manuskript mit dem Titel «De imposturis religionum» – «Die Betrügereien der Religionen». Er wusste nicht, dass Mayer den Text ganz frisch von einem frechen jungen Mann bekommen hatte, der ihn geschrieben, aber für das legendäre alte Buch von den «Drei Betrügern» ausgegeben hatte: «De tribus impostoribus». (Gemeint sind Moses, Jesus und Mohammed.) Mayer war vielleicht nicht darauf hereingefallen, aber der junge Palthenius, der keine Ahnung hatte, fiel darauf herein, schrieb sich den Text mehrfach heimlich ab und schickte die Abschriften an Freunde, um sie nach ihrer Meinung zu fragen. So kam eine der berüchtigtsten klandestinen Schriften der Aufklärungszeit in Umlauf.

Nehmen wir eine dritte Konfiguration. Hier ist es nicht der Hiwi, der heimliche Kopien zieht, sondern ein übereifriger Schüler, möglicherweise auch aus dem Haushalt des Professors. Der Orientalist und Historiker Hermann von der Hardt in Helmstedt hatte um 1705 herum recht ketzerische Auslegungen der Bibel entwickelt, die Wundertaten auf natürliche, oft triviale Weise rational und historisch erklärten. Er bezog sich nur auf das Alte Testament, um das Neue machte er einen Bogen, mit Bezug auf es wären seine Entzauberungsversuche noch anrüchiger gewesen. Aber er hat wohl mündlich in seinem Schülerkreis, vielleicht am Mittagstisch, auch zum Neuen Testament Gedanken zum Besten gegeben, zum Beispiel über die Widersprüche in der Genealogie, in die man sich verwickle, wenn man Joseph nicht als natürlichen Vater Jesu zulasse.

Wenn nicht alles täuscht, hat Hardts Schüler Christian Teufel sich für besonders schlau gehalten und die Argumente seines Professors zu einem kleinen Traktat verarbeitet, in dem dann direkt behauptet wurde: Joseph ist der natürliche Vater Jesu. Und der handschriftliche Traktat kam prompt auf Umwegen zu Superintendent Löscher, der ihn von der papierenen Kanzel seiner «Unschuldigen Nachrichten» aus in Stücke riss. Der Schüler hatte also etwas formuliert, was der Professor, auch wenn er so dachte, nie zu Papier gebracht hätte, weil er kein Kamikaze-Pilot sein wollte.

Ganz ähnlich der Fall von Friedrich Wilhelm Stosch (1648–1704), dem Autor des klandestinen Traktates «Concordia rationis et fidei» – «Die Übereinstimmung der Vernunft und des Glaubens» –, einer Schrift, die zwischen Spinozismus und Sozinianismus changiert, also zwischen Pantheismus und einer Lehre, die sich gegen das Dogma von der Trinität wandte. Stoschs Vater war schon tolerant gegenüber den Sozinianern und gab seinen Sohn als «Professoren-Purschen» in das Haus des Johann Christoph Becmanns in Frankfurt an der Oder, eines Professors für Griechisch, Geschichte und Theologie. Dort in den Tischgesprächen hat es nach Stoschs Aussage «nach dem Socinianismo und Hobbesii Lehren geschmecket», und Stosch fühlte sich ermutigt, es «noch besser» zu machen «als er», der Professor, und seine Gedanken in diese Richtung zu lenken. Als seine Schrift dann publiziert war und ihm eine Anklage einbrachte, war er entsetzt, als sein eigener Professor gegen ihn aussagte. Aber es war wie so oft: Der Professor hatte viel zu viel zu verlieren und wollte seine eigene Haut retten.

Ein viertes Beispiel liegt anders. In dieser Konfiguration ist die Dyade des Hilfswissenschafters mit dem Professor vollends aufgebrochen. Im Schülerkreis bestätigen und bestärken sich gleichgesinnte junge Leute in ihren Ansichten. Sie haben sich noch deutlicher vom Professor gelöst und gehen ihrer eigenen Wege. Schauen wir auf Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und die vielen Hilfskräfte und jungen Redakteure, die er um sich versammelt hatte. Da er immer etliche Zeitschriften gleichzeitig herausgab, benötigte er umso mehr Leute um sich; er war Grossordinarius und Literaturpapst in einer Person. Das hatte den Effekt, dass in den Kreisen der Hilfswilligen eigene Dynamiken abliefen; es gab enge Freundschaften, aber auch Fraktionskämpfe und Abspaltungen – etwa als die Autoren der «Bremer Beiträge» sich von denen der «Belustigungen» abspalteten.

Ein ganzes Milieu

In dieser Dynamik konnte sogar ein Erstsemester wie der ganz junge Carl August Gebhardi mitmischen, und er schrieb zwei schmale Büchlein, in denen die methodische Strenge der rationalistischen Strömung der Wolffianer auf die Bibel angewendet wurde. Das bedeutete: Leugnung und Wegerklärung von Wundern, Negation übernatürlicher Begebenheiten, bis hin zur Verneinung der Möglichkeit von Offenbarung überhaupt. Solche Behauptungen gingen weit über Gottscheds Wolffianismus hinaus und mussten notwendigerweise strenge Nachforschungen der Bücherzensur zum verborgenen Autor nach sich ziehen. Die graue Literatur, die hier entstanden war, entsprang einem ganzen Milieu, nicht mehr nur einem Angestelltenverhältnis.

Im Kontext der Leipziger Zeitschriften befinden wir uns überhaupt in einem Milieu, in dem sich junge schreibwillige Leute zu Dutzenden, ja zu Hunderten tummelten und in erstaunlich jungen Jahren selbst schon Zeitschriften gründeten und für sie schrieben. Das war bereits in der Generation vor Gottsched der Fall; das neue Medium machte es möglich, etwa bei Christian Gottfried Hoffmann (1692–1735), der mit zweiundzwanzig ein journalkritisches Journal gründete.

Sobald die Studenten aber diese Zwischenphase in ihrer Existenz hinter sich hatten und dauerhaft gesicherte Posten bezogen, war es aus mit Satire und Journalistik. Sie wurden Professoren, Lehrer, Pastoren. Wenn jemand aus diesem Milieu sich nicht entschliessen konnte, für eine bürgerliche Karriere Kompromisse einzugehen, so blieb ihm fast nur noch die Emigration. Hoffmanns fünf Jahre jüngerer Schwager Christian Gottlieb Priber ging diesen Weg, nachdem er sein juristisches Examen abgelegt hatte und möglicherweise durch Hoffmann in Bezug auf den akademischen und journalistischen Betrieb desillusioniert worden war. Er reiste nach London, schiffte sich nach Amerika ein und ging zu den Cherokee-Indianern, bei denen er von 1736 bis 1743 eine Art utopischen Staat zu errichten sich bemühte, der auf der Grundlage seines Naturrechts beruhte.

Das war dann ein Leben, das weiss Gott nicht mehr mit dem einer wissenschaftlichen Hilfskraft vergleichbar war. In den Urwäldern von South Carolina waren keine Bibliotheksdienste mehr zu verrichten, es gab keine nörgelnden Gelehrten, die noch einen weiteren Index anlegen wollten oder noch einen weiteren Zeitschriftenartikel kommissionierten. Der Hiwi war erwachsen geworden. Er malte sich an wie die Indianer und trug ihre Kleidung. Er wollte die Ideen umsetzen, die er im Kopf hatte, wollte weg vom blossen Papier des Akademischen. 1745 ist Christian Gottlieb Priber in britischer Haft in Georgia gestorben.

Prof. Dr. Martin Mulsow ist Direktor des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt und hat dortselbst den Lehrstuhl für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit inne. 2012 ist sein Buch «Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit» (bei Suhrkamp) erschienen.


Nota. - Erst im Lauf des 19. Jahrhunderets ist aus 'der Wissenschaft' wesentlich Hochschulbetrieb und Uni-versitätsveranstaltung -, und ist der Gelehrte wesentlich Professor geworden. Die Aufgaben, die ihm aus der Institutionalisierung von Forschung und Lehre erwuchsen, konnte er nun  nicht mehr allein bewältigen. Na-türlich werden auch die (geistlichen) Gelehrten des Mittelalters ihre Bedienten gehabt haben, und vermutlich waren sie gebildeter als andere Dienstleute und sind ihren Herren wohl auch in gelehrten Dingen zur Hand gegangen. Aber zu einem besondern Stand, zu einem Akademischen Mittelbau konnten sie sich erst auf dem Weg zur Massenuniversität ausbilden.
JE

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