Dienstag, 21. Juni 2016

Apologie des gesunden Menschenverstands.


aus derStandard.at, 21. Juni 2016

Nichts geht über unsere Sinne und den gesunden Menschenverstand! 
Die Annahme, man könne die Welt mit Sinn und Verstand objektiv verstehen, ist Unsinn. Auf uns selbst ist alles andere als Verlass Was man selbst gehört, gesehen oder erlebt hat, dem kann man vertrauen! 

von Florian Freistetter

Unsere Sinne sind die zuverlässigsten Informationsquellen über die Welt. Nichts geht über den gesunden Menschenverstand! Oder? Von all dem Schmarrn, den ich bis jetzt in dieser Kolumne behandelt habe, ist das vielleicht der größte: Der Glaube, wir wären in der Lage, die Welt objektiv mit unseren Sinnen zu verstehen. 

Psychologie und Kognitionswissenschaft sind voll mit Phänomenen, die uns das Gegenteil zeigen. Zum Beispiel das "Priming": Wie wir einen äußeren Reiz verarbeiten, hängt sehr stark davon ab, ob und wie stark vorher stattgefundene Reize unser Gedächtnis beeinflusst und aktiviert haben. Eigentlich neutrale Aussagen bewerten wir zum Beispiel viel ablehnender wenn wir zuvor – bewusst oder unbewusst – "feindseligen" Wörtern ("unfreundlich", "beleidigend", etc), Bildern oder Gedanken ausgesetzt worden sind. 

Unbewusst beeinflusst 

Eine Studie aus dem Jahr 2013 hat 240 sechsjährige Kinder untersucht. Sie wurden in Gruppen eingeteilt und sollten Bilder ausmalen, die entweder ein Mädchen zeigten, das ein mathematisches Problem löst oder ein Bild, das einen Jungen bei der gleichen Aufgabe zeigt, während das Mädchen nur zusieht. (Eine Kontrollgruppe erhielt ein neutrales Bild). Danach sollten die Kinder selbst einfache mathematische Rechnungen anstellen. Die Mädchen, die zuvor mit dem stereotypen Bild des nur zusehenden Mädchens konfrontiert worden waren, schnitten dann auch tatsächlich schlechter ab und waren langsamer als die Kinder der anderen Gruppe. 

Der gleiche Effekt existiert auch bei Online-Zeitungen und Blogs. In einer Studie aus dem Jahr 2014 wurde gezeigt, dass die Glaubwürdigkeit eines Textes um so geringer eingeschätzt wird, je aggressiver und beleidigender die Diskussionen der Kommentatoren über diesen Artikeln waren. 

Unverlässliche Eindrücke 

Wir mögen vielleicht denken, dass unsere Ansichten und Entscheidungen auf rationalen Überlegungen basieren. Aber nur weil es sich so anfühlt, als würden wir das tun, entspricht es nur selten der Wahrheit. Unsere Sinneseindrücke sind alles andere als verlässlich. Es gibt Wahrnehmungsfehler, Konfabulation, optische, akustische und haptische Täuschungen, Bestätigungs- und Rückschaufehler, Erinnerungsverfälschung oder Pseudoerinnerungen: Medizin, Psychologie und Neurophysiologie haben in den letzten Jahrzehnten mehr als deutlich gezeigt, dass wir uns auf unsere Sinne nicht verlassen können. 

Zumindest dann nicht, wenn es darum geht, nachhaltige und objektive Informationen über die Realität zu gewinnen. Darum geht es ja unter anderem in der Wissenschaft, und genau darum ist die wissenschaftliche Methode ja auch oft so umständlich und kompliziert. Darum spielt auch die Mathematik so eine enorm wichtige Rolle. 

Wissenschaft braucht die neutrale und abstrakte Sprache der Mathematik und die leider für uns Menschen nicht intuitiv verständlichen Aussagen der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, um trotz unserer unzuverlässigen Sinne zuverlässige Resultate zu erhalten. Wissenschaft braucht den ständigen Konflikt; ja sogar den Streit unter Wissenschaftern. Es braucht das wechselseitige Anzweifeln von Methoden und Resultaten, den Peer-Review-Prozess der Publikationen vor der Veröffentlichung und all die anderen Mechanismen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, um dem "gesunden Menschenverstand" etwas entgegenzusetzen. 

Wissenschaft schafft Abhilfe 

Unsere unzuverlässigen Sinne sind hinterhältig. Es nützt uns nicht einmal etwas, wenn wir über all die psychologischen Effekte Bescheid wissen. Jeder Mensch ist davon betroffen, egal ob man sich der Probleme bewusst ist oder nicht. Egal ob man sich einredet, man wäre anders/besser/vorsichtiger oder nicht. Als Individuen besitzen wir alle viel weniger Kontrolle über unsere Sinne, als wir denken oder uns wünschen. Aber genau dafür gibt es ja die Wissenschaft. Gemeinsam und mit ausreichend Regeln und Kontrollmechanismen funktioniert die Sache mit der Erkenntnis der Welt dann doch ganz gut. Die wissenschaftliche Methode ist nicht perfekt. Das kann sie nicht sein, denn Wissenschaft wird von Menschen betrieben. Wissenschaft hat in der Vergangenheit Fehler gemacht und wird das auch in Zukunft zu tun. Aber sie ist immer noch die beste Möglichkeit, Antworten auf all die vielen offenen Fragen zu finden, die die Welt für uns bereit hält.  


Nota. - Der macht sich's aber leicht! Blindlings auf unsere Sinneseindrücke vertrauen - das tun nur ganz kleine Kinder. Schon Schulkinder wissen, dass manches auch täuschen kann. Aber im täglichen Leben ist das doch die Ausnahme, im Alltag reichen unsere fünf Sinne schon aus. Erst wenn man sich an was Gesuchtes und Ausgefallenes macht, muss man auf der Hut sein; und natürlich in Gesellschaft von Taschenspielern.

Es ist nicht der gesunde Menschenverstand, der den Alltagsmenschen vom Wissenschaftler unterscheidet.


Es ist dies, dass sich der Wissenschaftler regelmäßig mit Gesuchtem und Ausgefallenen beschäftigt und zu methodischer Skepsis angehalten ist - weshalb er die stete Konkurrenz der Kollegen braucht, die ihm missgünstig auf die Finger schauen.

Aber Achtung! Das Gesuchteste und Ausgefallenste ist nicht unbedingt das Verborgenste. Es ist im Gegenteil regelmäßig das, was allzu flach auf der Hand liegt: das Gewöhnliche, das Selbstverständliche. Wissen heißt - im Unterschied zum Glauben und allen andern Arten des Fürwahrhaltens - für seine Meinungen geprüfte Gründe haben. Das Selbstverständliche versteht sich von selbst und braucht keine Gründe. Wenn wir für jedes, buchstäblich jedes unserer Urteile geprüfte Gründe bräuchten, würden wir keine vierundzwanzig Stunden durchstehen, vielleicht nicht einmal ein halbe. Wir meistern das tägliche Leben nur, weil wir (ungefähr) neunundneunzig Prozent der Dinge, die wir wahrnehmen, als selbstverständlich behandeln - weil sie im Großen und Ganzen immer so sind  und es auf die feinen Unterschiede im Alltag nicht ankommt.

Die Selbstverständlichkeiten unseres Sensoriums sind die Erbschaft von fast vier Milliarden Jahren Anpassung - so wie all unsere Hirnleistungen. So wie unser Denkvermögen, das gewissermaßen ihr Filetstück ist. Davon leben die täglich akribisch kritischen Wissenschaftler ebenso wie der unbefangene gesunde Menschenverstand. Sie unterscheiden sich nicht in ihrer Substanz, sondern lediglich nach der Art und Weise und nach den Gegenständen, wie und worauf sie angewendet werden.

Was sich wirklich vom gesunden Menschenverstand unterscheidet - allerdings auch nur nach dem Gegen-stand und der Art und Weise, wie sie angewendet werden -, ist die Kritische alias Transzendentalphilo-sophie, die nach den Gründen nicht dieses oder jenes Wissensakts, sondern nach dem Grund unseres Wissen überhaupt fragt und sozusagen hinter sich greift. Da muss der gesunde Menschenverstand über seinen Schatten springen.
JE

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