Freitag, 3. Juni 2016

Open Access.

aus nzz.ch, 3.6.2016, 14:14 Uhr

Freier Zugang zur Wissenschaftsliteratur 
Nach über 20 Jahren Open-Access-Bewegung ist erst ein Teil der wissenschaftlichen Publikationen kostenlos zugänglich. Warum die Vision dennoch gelingen könnte.


von Nicola von Lutterotti

Bei der Suche nach wissenschaftlichen Artikeln stossen Forscher und interessierte Laien früher oder später an eine virtuelle Kasse. Denn unzählige Publikationen im Bereich der Medizin, der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften sind nicht kostenfrei erhältlich, sondern können nur gegen Entrichtung eines oft happigen «Lösegelds» gelesen werden. Dieses «Closed Access»-System stösst seit langem auf Kritik. Schliesslich wird die akademische Forschung zu einem grossen Teil von Steuergeldern finanziert und sollte daher allen zur Verfügung stehen.



Bereits vor mehr als 20 Jahren rief der ungarische Psychologe Stevan Harnad die Wissenschafter dazu auf, ihre Erkenntnisse in allgemein zugänglichen elektronischen Archiven zu hinterlegen. Harnads legendärer «subversiver Vorschlag» zählt zu den Initialzündungen der «Open Access»-Bewegung. Geprägt wurde der Begriff von den Initianten der Budapester Erklärung im Jahr 2002. An einem Kongress in der ungarischen Hauptstadt hatten mehrere Geistes- und Naturwissenschafter öffentlich für die kostenfreie Verfügbarkeit der wissenschaftlichen Literatur plädiert.

EU will Tempo erhöhen

Seither hat sich zwar viel getan, aber weniger als von den Initianten erhofft. Von einer Welt des Open Access sind wir jedenfalls noch weit entfernt. Die Niederlande, die derzeit die EU-Präsidentschaft innehaben, wollen nun das Tempo erhöhen, wie Ingrid Kissling-Näf vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) sagt. «Das Ziel ist, bis 2020 europaweit auf Open Access umzustellen.» Die Niederlande seien auch die erste Nation gewesen, die mit öffentlichen Geldern geförderte Wissenschafter dazu verpflichtet habe, ihre Forschungserkenntnisse kostenfrei zugänglich zu machen, so Kissling-Näf.

Seit 2008 hält auch der SNF, der jährlich rund 900 Millionen Franken an Forschungsgeldern vergibt, die von ihm unterstützten Wissenschafter zu diesem Verhalten an. Laut der Organisation sind 2014 bereits knapp 40 Prozent der mit ihrer Unterstützung erstellten Publikationen dieser Forderung nachgekommen. Weltweit lag der Anteil von Artikeln, die ohne mehrmonatige Sperrfrist gebührenfrei lesbar waren, im gleichen Jahr allerdings erst bei 16 Prozent.

Warum kommt die Open-Access-Bewegung nur schleppend voran? Ein wesentlicher Grund ist wirtschaftlicher Natur. So haben die kommerziellen Wissenschaftsverlage wenig Interesse, ihre reichlich sprudelnden Geldquellen aufzugeben. Die Lizenzverträge mit den akademischen Bibliotheken sind nämlich ausgesprochen lukrativ. Das gilt insbesondere für die «Big Players» wie Elsevier, Springer und Wiley.

Elsevier, der grösste börsennotierte Wissenschaftsverlag, habe 2015 rund eine Milliarde Dollar erwirtschaftet, sagt Heather Morrison von der Ottawa University in Kanada. Das entspreche einer Umsatzrendite von 37 Prozent. «Würden die Kosten der jährlich publizierten Fachbeiträge auf alle akademischen Bibliotheken der Welt verteilt, müsste jede 4300 Dollar pro Artikel bezahlen», so die Kommunikationswissenschafterin und Open-Access-Bloggerin.

Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass eine wachsende Zahl von akademischen Forschungseinrichtungen das Zeitschriftenangebot immer weiter zurückfährt. Für die wissenschaftliche Arbeit sei das verhängnisvoll, sagt Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane-Zentrums am Universitätsklinikum in Freiburg im Breisgau. Letztlich schade es aber auch den Verlagen, wenn ihre Zeitschriften aus den Regalen verschwänden. Als vorbildlich bezeichnet Antes den von Norwegen eingeschlagenen Weg: Aufgrund einer nationalen Lizenz hat dort die gesamte Bevölkerung freien Online-Zugriff auf die gut bestückte Gesundheitsbibliothek ihres Landes.

Ausser den fünf grössten Medizinjournalen enthält die Helsebiblioteket patientenspezifische Gesundheitsinformationen und für die medizinische Versorgung relevante Übersichtsarbeiten. Dank den intensiven Bemühungen der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) verfügt auch die Schweiz seit 2016 über eine Nationallizenz für ein medizinisches Journal. Dabei handelt es sich um die Reviews der Cochrane-Gesellschaft, die medizinische Massnahmen systematisch bewertet und für Ärzte wie Laien verständlich zusammenfasst.

Wer bezahlt die Rechnung?

Zu Beginn als eine Art Subkultur belächelt, hat sich die Open-Access-Bewegung inzwischen grossen Respekt verschafft. Denn einige ihrer «Sprösslinge» haben sich als sehr erfolgreich herausgestellt. Das trifft vor allem für die 2001 gegründete Public Library of Science (PLoS) zu, die bei Forschern grosses Ansehen geniesst. Einige E-Journals von PLoS können mittlerweile selbst so einflussreichen Zeitschriften wie «Nature» und «Science» das Wasser reichen.

Open Access heisst freilich nicht kostenlos, sondern lediglich, dass die Rechnung einen anderen Adressaten hat – und zwar den Wissenschafter. Die Höhe der sogenannten Bearbeitungsgebühren für Autoren schwankt dabei beträchtlich. Im Durchschnitt liegt sie bei 900 Dollar, teilweise aber auch um ein Mehrfaches darüber. Da diese Beträge häufig mit Forschungsgeldern oder anderen öffentlichen Mitteln beglichen werden, stellt sich die Frage, ob Open Access, wie erhofft, die Steuerzahler entlastet und die Kosten senkt. Zweifel sind schon deshalb angebracht, als die kommerziellen Verlagshäuser diesen Geschäftszweig längst entdeckt haben und versuchen, sich ein Stück vom Kuchen zu sichern. Oft sahnen sie dabei gleich zweimal ab. Möglich ist ein solches «Double Dipping» beim sogenannten «grünen Weg»: Hier erscheint der Artikel zunächst in einem gebührenpflichtigen Journal und wird dann, Monate bis Jahre später, zulasten des Autors freigeschaltet.

Beim «goldenen Weg» unterliegen die Publikationen demgegenüber keinem Embargo. Auch dieser sei jedoch nicht ideal, sagt Adriano Aguzzi, Direktor des Instituts für Neuropathologie der Universität Zürich und Chefredaktor des frei zugänglichen «Swiss Medical Weekly». Die Tatsache, dass jeder publizierte Artikel Geld einbringe, habe viele unseriöse Geschäftemacher auf den Plan gerufen. «Jeden Tag erhalte ich E-Mails von zweifelhaften Verlegern, die mich auffordern, etwas in ihren E-Journals zu publizieren», sagt Aguzzi. Qualitätskriterien spielten dabei keine Rolle.

Aguzzi plädiert dafür, wissenschaftliche Publikationen von jeglichen wirtschaftlichen Interessenkonflikten zu befreien. Auch sollten dabei weder die Leser noch die Wissenschafter zur Kasse gebeten werden. Am ehesten gelinge dies, wenn der gesamte Publikationsprozess von nicht gewinnorientierten Konsortien aus Stiftungen, Universitäten oder nichtuniversitären Forschungseinrichtungen übernommen würde. Diesen «Platinweg» habe das «Swiss Medical Weekly» eingeschlagen, so Aguzzi. Unterstützt werde das Journal von der Schweizerischen Akademie für medizinische Wissenschaften, dem Schweizerischen Ärzteverband (FMH) und dem Universitätsspital Basel.

Ebenfalls schon länger auf dem «Platinweg» befindet sich das naturwissenschaftliche Open-Access-Journal «eLife». Ins Leben gerufen wurde es von der Max-Planck-Gesellschaft, dem Howard Hughes Medical Institute und dem Wellcome Trust. Wie der Chefredaktor, der amerikanische Biochemiker und Medizinnobelpreisträger Randy Schekman, auf Anfrage einräumt, habe «eLife» aufgrund der grosszügigen Unterstützung gegenüber vielen anderen Journalen einen Vorteil. «Mein Auftrag besteht allerdings darin, die Vormachtstellung der grossen Journale zu brechen», fügt er hinzu. Diese seien nämlich nicht nur «hyper-selektiv», sondern interessierten sich auch vorwiegend für Forschung, die im Trend liege.

Junge Forscher im Konflikt

Viele, zumal junge Wissenschafter befinden sich dabei laut Schekman in einer Konfliktsituation. Diese wünschten sich nämlich einerseits nichts sehnlicher, als in einer der extravaganten Fachzeitschriften wie «Nature» oder «Science» publizieren zu können. Davon erhofften sie sich Anerkennung und bessere berufliche Chancen. Andererseits könnten sie ihre Forschung aber nicht an den Vorstellungen der extravaganten Journale ausrichten.

Dieses Problem dürfte sich allerdings schon bald lösen, sagt Schekman. Denn er gehe davon aus, dass wissenschaftliche Arbeiten in naher Zukunft direkt ins Internet gestellt werden – wie das zum Beispiel in der Physik und der Mathematik im Open-Access-Archiv der Cornell University Library (arxiv.org) bereits getan wird. Allen, auch den Open-Access-Zeitschriften, prophezeit der Biochemiker ein baldiges Ende. «Meinen Job bei eLife bin ich dann zwar los», bemerkt er schmunzelnd. Das sei die Sache jedoch wert. Denn ihm gefalle die Vorstellung, dass die Journale nicht mehr kontrollieren könnten, was publiziert werde und was nicht.




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen