aus nzz.ch, 3.6.2016, 14:14 Uhr
Freier Zugang zur Wissenschaftsliteratur
Nach über 20 Jahren Open-Access-Bewegung ist erst ein Teil der wissenschaftlichen Publikationen kostenlos zugänglich. Warum die Vision dennoch gelingen könnte.
Freier Zugang zur Wissenschaftsliteratur
Nach über 20 Jahren Open-Access-Bewegung ist erst ein Teil der wissenschaftlichen Publikationen kostenlos zugänglich. Warum die Vision dennoch gelingen könnte.
Bei der Suche nach wissenschaftlichen Artikeln stossen Forscher und interessierte Laien früher oder später an eine virtuelle Kasse. Denn unzählige Publikationen im Bereich der Medizin, der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften sind nicht kostenfrei erhältlich, sondern können nur gegen Entrichtung eines oft happigen «Lösegelds» gelesen werden. Dieses «Closed Access»-System stösst seit langem auf Kritik. Schliesslich wird die akademische Forschung zu einem grossen Teil von Steuergeldern finanziert und sollte daher allen zur Verfügung stehen.
Bereits
vor mehr als 20 Jahren rief der ungarische Psychologe Stevan Harnad die
Wissenschafter dazu auf, ihre Erkenntnisse in allgemein zugänglichen
elektronischen Archiven zu hinterlegen. Harnads legendärer «subversiver
Vorschlag» zählt zu den Initialzündungen der «Open Access»-Bewegung.
Geprägt wurde der Begriff von den Initianten der Budapester Erklärung im
Jahr 2002. An einem Kongress in der ungarischen Hauptstadt hatten
mehrere Geistes- und Naturwissenschafter öffentlich für die kostenfreie
Verfügbarkeit der wissenschaftlichen Literatur plädiert.
EU will Tempo erhöhen
Seither
hat sich zwar viel getan, aber weniger als von den Initianten erhofft.
Von einer Welt des Open Access sind wir jedenfalls noch weit entfernt.
Die Niederlande, die derzeit die EU-Präsidentschaft innehaben, wollen
nun das Tempo erhöhen, wie Ingrid Kissling-Näf vom Schweizerischen
Nationalfonds (SNF) sagt. «Das Ziel ist, bis 2020 europaweit auf Open
Access umzustellen.» Die Niederlande seien auch die erste Nation
gewesen, die mit öffentlichen Geldern geförderte Wissenschafter dazu
verpflichtet habe, ihre Forschungserkenntnisse kostenfrei zugänglich zu
machen, so Kissling-Näf.
Seit
2008 hält auch der SNF, der jährlich rund 900 Millionen Franken an
Forschungsgeldern vergibt, die von ihm unterstützten Wissenschafter zu
diesem Verhalten an. Laut der Organisation sind 2014 bereits knapp 40
Prozent der mit ihrer Unterstützung erstellten Publikationen dieser
Forderung nachgekommen. Weltweit lag der Anteil von Artikeln, die ohne
mehrmonatige Sperrfrist gebührenfrei lesbar waren, im gleichen Jahr
allerdings erst bei 16 Prozent.
Warum
kommt die Open-Access-Bewegung nur schleppend voran? Ein wesentlicher
Grund ist wirtschaftlicher Natur. So haben die kommerziellen
Wissenschaftsverlage wenig Interesse, ihre reichlich sprudelnden
Geldquellen aufzugeben. Die Lizenzverträge mit den akademischen
Bibliotheken sind nämlich ausgesprochen lukrativ. Das gilt insbesondere
für die «Big Players» wie Elsevier, Springer und Wiley.
Elsevier,
der grösste börsennotierte Wissenschaftsverlag, habe 2015 rund eine
Milliarde Dollar erwirtschaftet, sagt Heather Morrison von der Ottawa
University in Kanada. Das entspreche einer Umsatzrendite von 37 Prozent.
«Würden die Kosten der jährlich publizierten Fachbeiträge auf alle
akademischen Bibliotheken der Welt verteilt, müsste jede 4300 Dollar pro
Artikel bezahlen», so die Kommunikationswissenschafterin und
Open-Access-Bloggerin.
Vor
diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass eine wachsende Zahl
von akademischen Forschungseinrichtungen das Zeitschriftenangebot immer
weiter zurückfährt. Für die wissenschaftliche Arbeit sei das
verhängnisvoll, sagt Gerd Antes, Direktor des Deutschen
Cochrane-Zentrums am Universitätsklinikum in Freiburg im Breisgau.
Letztlich schade es aber auch den Verlagen, wenn ihre Zeitschriften aus
den Regalen verschwänden. Als vorbildlich bezeichnet Antes den von
Norwegen eingeschlagenen Weg: Aufgrund einer nationalen Lizenz hat dort
die gesamte Bevölkerung freien Online-Zugriff auf die gut bestückte
Gesundheitsbibliothek ihres Landes.
Ausser
den fünf grössten Medizinjournalen enthält die Helsebiblioteket
patientenspezifische Gesundheitsinformationen und für die medizinische
Versorgung relevante Übersichtsarbeiten. Dank den intensiven Bemühungen
der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW)
verfügt auch die Schweiz seit 2016 über eine Nationallizenz für ein
medizinisches Journal. Dabei handelt es sich um die Reviews der
Cochrane-Gesellschaft, die medizinische Massnahmen systematisch bewertet
und für Ärzte wie Laien verständlich zusammenfasst.
Wer bezahlt die Rechnung?
Zu
Beginn als eine Art Subkultur belächelt, hat sich die
Open-Access-Bewegung inzwischen grossen Respekt verschafft. Denn einige
ihrer «Sprösslinge» haben sich als sehr erfolgreich herausgestellt. Das
trifft vor allem für die 2001 gegründete Public Library of Science
(PLoS) zu, die bei Forschern grosses Ansehen geniesst. Einige E-Journals
von PLoS können mittlerweile selbst so einflussreichen Zeitschriften
wie «Nature» und «Science» das Wasser reichen.
Open
Access heisst freilich nicht kostenlos, sondern lediglich, dass die
Rechnung einen anderen Adressaten hat – und zwar den Wissenschafter. Die
Höhe der sogenannten Bearbeitungsgebühren für Autoren schwankt dabei
beträchtlich. Im Durchschnitt liegt sie bei 900 Dollar, teilweise aber
auch um ein Mehrfaches darüber. Da diese Beträge häufig mit
Forschungsgeldern oder anderen öffentlichen Mitteln beglichen werden,
stellt sich die Frage, ob Open Access, wie erhofft, die Steuerzahler
entlastet und die Kosten senkt. Zweifel sind schon deshalb angebracht,
als die kommerziellen Verlagshäuser diesen Geschäftszweig längst
entdeckt haben und versuchen, sich ein Stück vom Kuchen zu sichern. Oft
sahnen sie dabei gleich zweimal ab. Möglich ist ein solches «Double
Dipping» beim sogenannten «grünen Weg»: Hier erscheint der Artikel
zunächst in einem gebührenpflichtigen Journal und wird dann, Monate bis
Jahre später, zulasten des Autors freigeschaltet.
Beim
«goldenen Weg» unterliegen die Publikationen demgegenüber keinem
Embargo. Auch dieser sei jedoch nicht ideal, sagt Adriano Aguzzi,
Direktor des Instituts für Neuropathologie der Universität Zürich und
Chefredaktor des frei zugänglichen «Swiss Medical Weekly». Die Tatsache,
dass jeder publizierte Artikel Geld einbringe, habe viele unseriöse
Geschäftemacher auf den Plan gerufen. «Jeden Tag erhalte ich E-Mails von
zweifelhaften Verlegern, die mich auffordern, etwas in ihren E-Journals
zu publizieren», sagt Aguzzi. Qualitätskriterien spielten dabei keine
Rolle.
Aguzzi plädiert dafür,
wissenschaftliche Publikationen von jeglichen wirtschaftlichen
Interessenkonflikten zu befreien. Auch sollten dabei weder die Leser
noch die Wissenschafter zur Kasse gebeten werden. Am ehesten gelinge
dies, wenn der gesamte Publikationsprozess von nicht gewinnorientierten
Konsortien aus Stiftungen, Universitäten oder nichtuniversitären
Forschungseinrichtungen übernommen würde. Diesen «Platinweg» habe das
«Swiss Medical Weekly» eingeschlagen, so Aguzzi. Unterstützt werde das
Journal von der Schweizerischen Akademie für medizinische
Wissenschaften, dem Schweizerischen Ärzteverband (FMH) und dem
Universitätsspital Basel.
Ebenfalls
schon länger auf dem «Platinweg» befindet sich das
naturwissenschaftliche Open-Access-Journal «eLife». Ins Leben gerufen
wurde es von der Max-Planck-Gesellschaft, dem Howard Hughes Medical
Institute und dem Wellcome Trust. Wie der Chefredaktor, der
amerikanische Biochemiker und Medizinnobelpreisträger Randy Schekman,
auf Anfrage einräumt, habe «eLife» aufgrund der grosszügigen
Unterstützung gegenüber vielen anderen Journalen einen Vorteil. «Mein
Auftrag besteht allerdings darin, die Vormachtstellung der grossen
Journale zu brechen», fügt er hinzu. Diese seien nämlich nicht nur
«hyper-selektiv», sondern interessierten sich auch vorwiegend für
Forschung, die im Trend liege.
Junge Forscher im Konflikt
Viele,
zumal junge Wissenschafter befinden sich dabei laut Schekman in einer
Konfliktsituation. Diese wünschten sich nämlich einerseits nichts
sehnlicher, als in einer der extravaganten Fachzeitschriften wie
«Nature» oder «Science» publizieren zu können. Davon erhofften sie sich
Anerkennung und bessere berufliche Chancen. Andererseits könnten sie
ihre Forschung aber nicht an den Vorstellungen der extravaganten
Journale ausrichten.
Dieses
Problem dürfte sich allerdings schon bald lösen, sagt Schekman. Denn er
gehe davon aus, dass wissenschaftliche Arbeiten in naher Zukunft direkt
ins Internet gestellt werden – wie das zum Beispiel in der Physik und
der Mathematik im Open-Access-Archiv der Cornell University Library
(arxiv.org) bereits getan wird. Allen, auch den
Open-Access-Zeitschriften, prophezeit der Biochemiker ein baldiges Ende.
«Meinen Job bei eLife bin ich dann zwar los», bemerkt er schmunzelnd.
Das sei die Sache jedoch wert. Denn ihm gefalle die Vorstellung, dass
die Journale nicht mehr kontrollieren könnten, was publiziert werde und
was nicht.
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