Ist die Naturwissenschaft das «Organ der Kultur»?
Menschheitsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte
Der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond hat im 19. Jahrhundert die Geschichte der Naturwissenschaft als «die eigentliche Geschichte der Menschheit» apostrophiert. Glauben wir das heute noch?
Wissenschaftlich-technische Zivilisation: Von den in Umlauf befindlichen Epochenbezeichnungen für das, was als «unser Zeitalter» empfunden wird, hat diese – sie ist älteren Datums – noch immer nicht ausgedient. Sie beweist im Gegenteil und dank ihrer sachlichen Spannweite auch neben jüngeren Begriffsschöpfungen wie «Computerzeitalter», «Informationszeitalter» oder «Wissensgesellschaft» ihre fortdauernde und sozusagen unaufgeregte Aktualität. Bereits 1886 ist, von dem Erfinder und Industriellen Werner von Siemens, das «naturwissenschaftliche Zeitalter» ausgerufen worden. Damals, so darf vermutet werden, schwang in der Selbstvergewisserung ein Stolz mit, der unterdessen eher gemischten Gefühlen gewichen ist.
Emil Du Bois-Reymond
Die
prägende Kraft der Naturwissenschaften, ihre «Kulturbedeutsamkeit»,
akzentuierte auf seine Weise auch Emil Heinrich Du Bois-Reymond. Der
deutsche Physiologe und Mediziner, der seine eigene Gegenwart als
«technisch-induktives Zeitalter» etikettierte, wird zwar heute meist mit
seiner berühmten «Ignorabimus»-Rede von 1872 zitiert, in der sich – in
feierlichem Ton – eine Selbstbescheidung der Wissenschaft in Anbetracht
des «unbegreiflichen» menschlichen Geistes artikuliert: «Ignoramus et ignorabimus – wir wissen es nicht und werden es nicht wissen.»
Doch
Du Bois-Reymond hat fünf Jahre später, wiederum in einer
populärwissenschaftlich angelegten Rede, die Naturwissenschaft «das
absolute Organ der Kultur» genannt und «die Geschichte der
Naturwissenschaft» als «die eigentliche Geschichte der Menschheit»
apostrophiert. «Eigentlich» darum, weil Staatenbildung und Kriegführung,
deren «unerspriesslich einförmigen Wellenschlag» die «bürgerliche
Geschichte» spiegele, noch Vorbilder in der «wirbellosen Tierwelt»
hätten – wohingegen die Kulturgeschichte (in heutigem gängigem Idiom
formuliert) das Alleinstellungsmerkmal der Gattung Mensch sei. Und das
Wesentliche der Kultur war für den selbstbewussten Naturwissenschafter
eben die fortschreitende wissenschaftliche Erforschung der Natur, die er
in jener Rede – seinerseits nun auch nicht ganz unmilitärisch – als
«geistigen Eroberungszug» charakterisierte.
Gesetzt,
die Geschichte der Naturwissenschaft wäre tatsächlich die «eigentliche»
Geschichte, ist dann die Wissenschaftsgeschichte die «eigentliche»
Geschichtsschreibung? – Diese Frage darf vielleicht auch deswegen
unbeantwortet bleiben, weil nicht wenige Bestrebungen zumindest der
neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsforschung
darauf zielen, weitgehende, mithin «absolute» Ansprüche der
Naturwissenschaften zu relativieren oder doch zumindest in ihren
historischen Kontexten zu situieren. Unlängst stand im Potsdamer
Einstein-Forum – apropos «geistige Eroberungszüge» – der «Imperialismus
der Naturwissenschaften» zur Debatte. (Der Tagungstitel «Fetishizing
Science» markierte recht eigentlich einen zweiten thematischen Fokus.)
Vor
bald einem Vierteljahrhundert aus der Taufe gehoben, versteht sich die
Einrichtung als dialogisches und interdisziplinäres «Laboratorium des
Geistes»; von Anfang an sind die «hard sciences» im
kulturwissenschaftlich kritischen Blick gewesen, bereits in den ersten
Jahren widmete man sich etwa der «Krise der Objektivität in den
Wissenschaften». Als Ausfluss eines «Imperialismus», so konnte der
Problemexposition im Tagungsprogramm entnommen werden, erachten die
Veranstalter nicht zuletzt auch die Selbstverständlichkeit, mit der seit
dem frühen 20. Jahrhundert weithin den Naturwissenschaften – in puncto
Wissenschaftlichkeit, Wahrheitssuche, mutmasslicher Ideologiefreiheit –
der Vorzug vor den Geisteswissenschaften gegeben worden ist.
Ein «Narrativ»
Die
«eigentliche Geschichte der Menschheit», die nach Du Bois-Reymond die
Naturwissenschaften schreiben, muss freilich auch tatsächlich
geschrieben, sie muss erzählt werden. Solche Erzählungen spielen bei dem
kulturbildenden Eroberungszug der Naturwissenschaften eine kaum zu
überschätzende Rolle. Dazu hat in Potsdam, ohne das Problem von Du
Bois-Reymond her aufzuzäumen, Lorraine Daston
interessante Überlegungen beigesteuert. Die Direktorin am Berliner
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte warf einige
Schlaglichter auf ein geläufiges «Narrativ» – auf eine Erzählung, die
Naturwissenschaft und Modernität miteinander verknüpft.
Die
beiden Hauptelemente der Story: Die Wissenschaft (gemeint ist stets die
Naturwissenschaft) wurde im 17. Jahrhundert – Stichwort: scientific
revolution – «modern»; die Modernisierung der Welt wurde sodann durch
die revolutionierte Naturwissenschaft motorisiert, und zwar dergestalt,
dass die Wissenschaft eine «moderne Mentalität» hervorbrachte, die
Aufklärung und Fortschritt ermöglichte – und die, ein schöner
Nebeneffekt, den Westen vorteilhaft vom Rest der Welt abhob. Als
Geschichtenerzähler betätigten sich laut Daston weniger
Naturwissenschafter als vielmehr Philosophen und Historiker:
insbesondere Alexandre Koyré, Herbert Butterfield und Alfred North
Whitehead, deren einschlägige Bücher seit etlichen Jahrzehnten in immer
neuen Auflagen gedruckt werden.
Gegenerzählung
Für
den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung interessierte sich Daston nicht
eigens, obgleich sie andernorts (in der gemeinsam mit Katharine Park
verfassten Einleitung zum dritten Band der «Cambridge History of
Science») die Rede von einer wissenschaftlichen Revolution, die im 17.
und 18. Jahrhundert stattgefunden habe, rundweg als «Mythos» taxiert und
auf das 19. Jahrhundert als wahre Geburtsstunde der
institutionalisierten, der Wissenschaft im heutigen Sinne hingewiesen
hat. Allerdings wird der mutmassliche Mythos von der wissenschaftlichen
Revolution nicht nur als Erfolgsstory von Aufklärung und Fortschritt
erzählt. Daston stellte in Potsdam der «triumphalistischen» Version der
Geschichte – gewissermassen als deren nicht eineiige Zwillingsschwester –
eine «tragische Version» zur Seite. Diese Version habe mit Max Weber,
Georg Simmel, aber auch Henri Bergson ihre ersten prominenten
philosophisch-soziologischen Erzähler gehabt und unmittelbar nach dem
Ersten Weltkrieg ihre erste grosse Konjunktur erlebt.
Von
kalter Rationalität, von einer Abstraktion, die «echte» Erfahrung
verunmögliche, von der allgemeinen Entzauberung der Welt weiss diese
«andere» Geschichte der wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu
berichten. Das – die Bilanzierung der Verluste des
Zivilisationsprozesses – unterscheidet sie von ihrer Zwillingsschwester.
Was sie mit ihrer Schwester indes verbindet, ist dies, dass sie eine
Transformation der Welt durch Wissenschaft als gegeben und als
irreversibel voraussetzt. Solche «Narrative», so liess Daston
durchblicken, seien nicht falsifizierbar. Sie verlören ihre
identitätsstiftende Kraft erst, wenn sie von einer anderen einnehmenden
Erzählung ersetzt würden.
Einmal
angenommen – ganz möchte man es zwar nicht glauben –, die Frage nach
dem Wahrheitsgehalt solcher Menschheitsgeschichten sei tatsächlich zu
vernachlässigen: Kommt die Wissenschaftsgeschichte als kulturprägende
Erzählerin einer neuen Story in Betracht? Wer weiss. Sie dürfte dann
aber wohl nicht nur Geschichten vom Geschichtenerzählen erzählen.
Nota. - Der Siegeszug der Wissenschaften im 17. Jahrhundert sei "das politische Ereignis par excellence" gewesen, schrieb ich andernorts, er hat im Reich der Parteienkämpfe ein - kontinuierlich wachsendes - Feld geschaffen, wo nicht länger der Stärkere entscheidet, sondern der geprüfte Grund.
Wenn auch faktisch die Physik die treibende Kraft war, betraf diese 'Wissenschaftliche Revolution' nicht bloß die Naturwissenschaften im Besondern, sondern die Geisteshaltung einer ganzen Zivilisation: Als rational gilt seither nur noch solche Erkenntnis, die eine Erscheinung als Wirkung einer Ursache darstellen kann; und zwar ein geschichtliches Ereignis nicht minder als ein Laborexperiment. Auch politische Probleme sollten seither, so weit irgend möglich, durch Vernunft lösbar sein, ohne Waffen. (Der Aufstieg der Wissenschaften begann nach dem Ende des 30jährigen Kriegs und der englischen Revolution - in der Hoffnung auf ewigen Frieden, nachdem die Religion Ewige Zwietracht gesät hatte.)
Allerdings beschränkte er sich auf den (seither stets wachsenden) engen Kreis der Gelehrten.
Dass es sich im Besondern um Naturgesetze handeln sollte, wurde erst im Lauf des 19. Jahrhunderts deutlich, als die Siege der Exakten Wissenschaften in Gestalt der technisch-industriellen Revolution auch den Durchschnittsmenschen anzugehen begannen. Dass es für alles einen hinreichend Grund geben müsse, scheidet seither den gesunden Menschenverstand von allen Arten des Irrsinns. (Und seither gewinnen die 'Geisteswissenschaften' ihr eigenes Profil, weil sich sich gegen die 'harten' Fächer legitimieren müssen.)
Doch das Dogma der Kausalität ist inzwischen zu einem - pragmatisch vertretbaren - Aberglauben des Gesunden Menschenverstands herabgesunken; es begann mit den Revolutionen der Thermodynamik und hat mit der Quantenphysik einen einstweilen Höhe-, aber längst keinen Schlusspunkt gefunden.
Dass die exakten alias 'Natur'-Wissenschaften an ihren Grundlagen zu zweifeln beginnen, ist löblich, aber auch das mindeste, was man erwarten darf. Nun wenden sie sich in neuer Bescheidenheit an die 'weiche' Philosophie zurück. Wobei sie viel Zeit sparen können, wenn sie sich erinnern, dass die Philosophie ihnen schon vor zweihundert Jahren in Bescheidenheit vorangegangen ist und sich mit Kants Kopernikanischer Wende selber die Schranken gezogen hat, die sie von den Realwissenschaften trennen - und die Realwissen-schaften von ihr! Erkenntnisfortschritt können beide nur erhoffen, wenn sie die Schranken klug beachten und nicht wieder alles miteinander verrühren. Wenn ihr Interesse eben der Andersheit des andern gilt und sie Konsens und Gemeinsamkeit den profanen Alltagsmenschen überlassen.
JE
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