Dienstag, 28. Juni 2016

Die Kunst des Gesprächs ist älter als die Regeln der Grammatik.

J. Huber, Les philosophes
aus nzz.ch, 20.6.2016, 12:10 Uhr

Sprachforschung
Warum wir beim Reden so viele Fehler machen
Auch einfache Gespräche folgen ganz bestimmten Regeln, die unser Gehirn zu Multitasking zwingen. Deshalb machen wir beim Sprechen so viele Fehler.

von Katrin Blawat 

Im Aufzug beschwert man sich kollektiv über das schlechte Wetter. Beim Kaffee fragt der Kollege nach den Ferienplänen, und am Abend bespricht man mit dem Partner die Einkaufsliste. Kurze, banale Unterhaltungen machen einen Grossteil unseres sozialen Lebens aus. Und obwohl man es den unvollständigen oder grammatikalisch oft falschen Sätzen nicht anhört, unterliegt dieses Geplauder komplexen Regeln.

Die optimale Pause vor der Antwort

Eine der Knacknüsse dabei ist das sogenannte «Turn-Taking»: Einer spricht, der andere hört zu, bis er mit Reden an der Reihe ist. Es ist eine einfache Benimmregel aus dem Kindergarten, doch für das Gehirn bedeutet es eine enorme Herausforderung.

Normalerweise herrscht bei einem Dialog immer zwischen 150 und 300 Millisekunden lang Stille, bevor der andere das Wort ergreift. «Bei so einer Pause klingt die Unterhaltung flüssig», sagt die Psychologin Antje Meyer vom Max-Planck-Institut (MPI) für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen, wo dieser Aspekt der Psycholinguistik besonders intensiv untersucht wird. Dauere die Pause eine Sekunde oder länger, nehme der andere an, dass sie eine Bedeutung habe oder etwas nicht stimme. Die Zeitspanne von bis zu 300 Millisekunden gilt nicht nur in westlichen Sprachen, sondern auch in anderen Kulturen als optimal.

Multitasking ist gefragt

Allerdings ist diese Zeitspanne für das Gehirn viel zu kurz, um ein Wort, geschweige denn einen ganzen Satz vorzubereiten. Selbst so einfache Aussagen wie «Der Knabe spielt Ball» brauchen schon etwa anderthalb Sekunden, ein einzelnes Wort immerhin noch 750 Millisekunden. Die üblichen Pausen von gerade einmal 300 Millisekunden vor einem Sprecherwechsel reichen also bei weitem nicht aus, um seine eigenen Vorstellungen vom Abendessen zu formulieren.

Lösen lässt sich das Dilemma nur, wenn der Zuhörer seine Antwort gedanklich vorbereitet, während der andere noch spricht. Jeder beiläufige Wortwechsel erfordert also Multitasking vom Gehirn. Dies kostet viel Mühe und ist fehleranfällig. Deshalb machen wir beim Sprechen wohl so viele Fehler, wie Gerard Kempen vom Nimweger MPI und Karin Harbusch von der Universität Koblenz-Landau kürzlich demonstrierten. Die Forscher untersuchten, warum selbst Muttersprachler immer wieder grammatikalisch falsche Kausalsätze bilden, etwa «Ich kann nicht kommen, weil dann arbeite ich».

Dazu analysierten Kempen und Harbusch in einer Datenbank gespeicherte Dialoge, in denen sich zwei Freunde telefonisch verabreden. Dabei achteten die Wissenschafter vor allem auf Kausalsätze, beginnend mit «weil», «denn» und «da». Die meisten Menschen dürften wissen, dass das Verb am Satzende stehen müsste, wenn der Kausalnebensatz mit «weil» eingeleitet wird. Doch wie die Auswertung der Gespräche zeigte, ordneten viele Sprecher die Wörter wie in einem Hauptsatz an – vor allem dann, wenn ihnen nicht genügend Zeit blieb, die vergleichsweise komplexe Kombination aus Haupt- und Nebensatz zu planen. Vermutlich plane das Gehirn den weiteren Verlauf der Antwort noch, nachdem man bereits zu reden begonnen habe, folgern die Forscher.

Immerhin scheinen die Gesprächspartner die Dauer der geteilten Aufmerksamkeit möglichst gering zu halten. Mit der Vorbereitung ihrer Antwort beginnen sie so früh wie nötig, um ein flüssiges Gespräch zu ermöglichen – und so spät wie möglich, um lange zuzuhören. Dies zumindest folgern Antje Meyer und Matthias Sjerps, ebenfalls vom MPI für Psycholinguistik, aus Messungen von Augenbewegungen. Den Blick lenkt ein Mensch meist in die gleiche Richtung wie seine Aufmerksamkeit. In Sjerps' Studie folgten die Probanden den gezeichneten Objekten, die ein Helfer laut benannte, so lange wie möglich, ehe sie ihre Aufmerksamkeit im letztmöglichen Moment auf jene Bilder richteten, die sie selbst benennen sollten. So findet das Gehirn einen Kompromiss in einer Situation, die laut Meyer «schwieriger ist, als man es sich normalerweise vorstellt».

Raten statt zuhören

Je detaillierter die Erkenntnisse der Psycholinguisten werden, als umso grösseres Wunder erscheint jeder Wortwechsel. Warum funktionieren diese Gespräche trotzdem, obwohl sie derart viel Aufwand erfordern? «Wir üben das jeden Tag, deshalb klappt es meistens», sagt Meyer. Hinzu komme eine Art Abkürzung, die das Gehirn nehme, vermutet Stephen Levinson vom Nimweger MPI. Demnach ist es in vielen Situationen gar nicht nötig, den gesamten Satz zu hören, um passend antworten zu können. 

Das gilt sogar für Sprachen wie das Deutsche, in denen das Verb oft erst am Satzende steht. Denn wichtiger als die Wortwahl des Sprechers ist oft der Zusammenhang. Sitzt man beispielsweise im Restaurant und der Kellner nähert sich mit der Weinflasche, spielt es keine Rolle, ob er fragen wird «Darf ich Ihnen noch Wein nachschenken?» oder «Möchten Sie noch etwas Wein?». Schon bei den ersten Worten erkennt der Gast, worum es geht, und kann sich seine Antwort überlegen.

Den Faden verloren

Doch können solche Tricks auch in die Irre führen. Verliert man deshalb den Faden im Redefluss des anderen, braucht es ein SOS-Signal: «Stopp, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Bitte alles noch einmal und ganz langsam.» Tatsächlich kennen vermutlich alle Kulturen so einen Hilferuf, um Konversationen zu retten. Im Deutschen ist es die unmissverständliche Frage «Hä?». Das klingt zwar nicht schön, ist aber so kurz und einfach, dass es sich auch in grösster Verwirrung noch artikulieren lässt.


Nota. - Es reicht ein einfaches Gedankenexperiment, um zu erkennen, dass die Sprachen, nämlich ihr Vokabular und ihre Grammatik, aus der Gesprächsführung entstanden sein müssen, und nicht umgekehrt. Nicht erstens, dann zweitens, sondern das andere während und aus dem einen: Die Sprachen werden Jahrhunderttausende gebraucht haben, um einen Grad von Perfektion zu erreichen, der es heutigen Forschern erlaubt, in ihnen Gesetzmäßigkeiten aufzufinden. Das Verständigen war aber schon ganz am Anfang nötig - und sei's mit Händen und Füßen.
JE





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