Sonntag, 19. Juni 2016

Markus Gabriel über "fünf Jahre Neuer Realismus".


Im Hirnscan sieht man keine Moral, keine Zahlen, keine Gedichte – und dennoch gibt es Moral, Zahlen und Gedichte. Im Bild: ein «Schnitt» durch ein Gehirn, wie ihn die Magnetresonanztomografie ermöglicht. 
aus nzz.ch, 19.6.2016, 05:30

Wider die postmoderne Flucht vor den Tatsachen
Unter dem Banner eines Neuen Realismus hat sich eine philosophische Bewegung formiert, die sich gegen postmodernen Konstruktivismus und gegen imperialistischen Naturalismus gleichermassen wendet.

von Markus Gabriel

Der Neue Realismus ist eine der wenigen philosophischen Strömungen, die – mit einem ironischen Zwinkern – in der Form eines expliziten und dokumentierten Gründungsakts ausgerufen worden sind. Ort: das Restaurant «Il Vinacciolo» in Neapel, Datum: 23. Juni 2011, ungefähr 13 Uhr 30. Damit feiert der Neue Realismus dieser Tage seinen fünften Geburtstag. Das mag Anlass zu einer Bestandsaufnahme sein. Rufen wir uns die Angelegenheit noch einmal in Erinnerung, die zur Debatte steht!

Der Neue Realismus nimmt an, dass es objektive sowie subjektive Tatsachen gibt, die wir erkennen können. Viele dieser Tatsachen sind davon unabhängig, dass wir Überzeugungen dazu haben. Das ist Realismus. Neu ist dabei, dass nicht mehr angenommen wird, diese Tatsachen gehörten insgesamt zu genau einer Wirklichkeit, der Welt im allumfassenden Sinn dessen, was es überhaupt gibt. Vielmehr sind die Tatsachen in sich vielfältig: Es gibt soziale, mathematische, moralische, physikalische, juristische, historische Tatsachen usw. Entsprechend gibt es eine Vielzahl an Wissensformen und Wissenschaften, die jeweils ihre eigenen Tatsachenbereiche erforschen (nicht konstruieren!), die ich als «Sinnfelder» bezeichne.

Eröffnungszüge

Damit wendet sich der Neue Realismus gegen zwei grosse Weichenstellungen im gegenwärtigen Zeitgeist: die Postmoderne einerseits und das naturalistische Weltbild andererseits. Anhänger der Postmoderne halten den Realismus für naiv, und Fürsprecher des Naturalismus möchten ihn allenfalls für die Tatsachenerkenntnis der Naturwissenschaften reservieren.

Die Weichenstellungen gehen auf die Eröffnungszüge der neuzeitlichen Philosophie zurück, die unseren Zugang zur Wirklichkeit insgesamt für schwierig erachtet, da zwischen uns und der Wirklichkeit vermittelnde Instanzen stünden wie Sinneseindrücke, das Bewusstsein, die Sprache, die soziokulturellen Bedingungen der Wissensproduktion und anderes mehr. Diese Skepsis kulminiert in der Postmoderne, die uns weiszumachen versucht, dass wir die Wirklichkeit an sich nicht erkennen können bzw. dass es sie womöglich gar nicht gibt, wie die radikalen Konstruktivisten annehmen. Paradigmatisch hat bereits Nietzsche behauptet, dass wir letztlich keine Wahrheiten oder Tatsachen erkennen könnten, sondern stattdessen mit Illusionen bzw. «Lügen im aussermoralischen Sinne» leben müssten. Alles Erkennen sei perspektivisch gefiltert. Dinge an sich seien nutzlose Annahmen, Bewohner einer Hinterwelt, die mit dem Tod Gottes verschwinden solle.

Der Neue Realismus wendet sich gegen diesen Versuchsaufbau. Der Gegner ist im Allgemeinen der Konstruktivismus, der in der heutigen Kultur- und Wissenschaftslandschaft in verschiedenen Spielarten sein Unwesen treibt. Etwa in der Form der angeblich neurowissenschaftlich abgedeckten These, das Gehirn konstruiere die Aussenwelt, so dass wir gar keinen direkten Zugang zur Welt «da draussen» hätten, sondern immer nur interne Halluzinationen wahrnähmen. Andere meinen, Werte, wie sie etwa in Menschenrechtskatalogen vorkämen, seien westliche Konstruktionen und mithin nicht universal gültig. Auch die Medien stehen im Verdacht, nicht von Tatsachen zu berichten, sondern diese zu erzeugen, was den Zorn der Populisten auf sich zieht («Lügenpresse»), während postmoderne Theoretiker die «Medialität» gleichsam als Schicksal der Moderne für alternativlos halten.

Einig sind sich Konstruktivisten darin, den Realismus als naiv zu bezeichnen. Reflektiert und aufgeklärt könne man demnach nur sein, wenn man die unaufhebbare Vermitteltheit – Medialität – aller Weltzugänge akzeptiere und es vermeide, sich auf Wahrheitssuche festzulegen. An die Stelle von Wahrheiten träten Parolen und Bekundungen der Solidarität mit der eigenen Gruppe.

Gegen diese Konstellation richtet sich der Neue Realismus, der freilich alles andere als naiv ist. Zu zeigen, wie es möglich ist, dass die Vermitteltheit unseres Zugangs zum Wirklichen uns das Wirkliche gerade nicht verstellt, ist Sache der philosophischen Arbeit am Begriff. Diese Arbeit kann man sich nicht durch den zynischen Seufzer ersparen, dass wir nun einmal in Platons Höhle leben und, statt die Dinge erkennen zu können, mit deren Schatten vorliebnehmen müssen.

Geplatzte Spekulationsblasen

Zeitdiagnostisch nimmt der Neue Realismus seinen Ausgang von der Beobachtung einer unbestreitbaren Wiederkehr des Realen, das nach den postmodernen Träumereien vom Ende der Geschichte in den neunziger Jahren in alle Lebensbereiche einbricht. Die Postmoderne – die einmal als architekturtheoretische Mode in Umlauf kam – ist wie die Immobilienblase in dem Augenblick geplatzt, als klarwurde, dass man das Reale nicht durch Spekulation auf Dauer auf Distanz halten kann. Wir entfliehen ihm nicht dadurch, dass wir virtuelle Realitäten schaffen, da diese virtuellen Realitäten ihrerseits zum Realen gehören.

In den fünf Jahren seit der Ausrufung des Neuen Realismus sind Hunderte Publikationen pro und contra erschienen. Weltweit haben sich Presse, Rundfunk und Fernsehen gemeldet, Manifeste und Bestseller wurden ebenso wie wissenschaftliche Sammelbände verfasst. Leidenschaftliche bis irrationale Kontroversen finden neben nüchternen Diskussionen in Fachzeitschriften statt. Ausserdem gibt es weltweit interdisziplinäre Tagungen zum Neuen Realismus, der weit über die Fachgrenzen der Philosophie hinaus wirkt. Einer der Gründe dafür ist, dass die Aporien des Konstruktivismus mit dem Auftreten des Neuen Realismus öffentlich sichtbar werden; es wird nun stärker wahrgenommen, dass das konstruktivistische Vorurteil sich als Selbstverständlichkeit im Zeitgeist breitgemacht hat und damit eine soziopolitisch wirksame Macht entfaltete. Man kann auf Dauer nicht verbergen, dass es unsinnig ist, anzunehmen, dass wir das Wirkliche nicht so erkennen können, wie es an sich ist.

Man entflieht dem Wirklichen nicht durch die Behauptung, dass es nur mediale, vermittelte Weltzugänge gibt. Denn wenn es mediale Weltzugänge gibt, die uns das Wirkliche verstellen oder nur verzerrt zugänglich machen, dann gibt es diese medialen Weltzugänge ihrerseits – wirklich. Oder will uns der Konstruktivismus die paranoide These zumuten, dass wir keinen direkten Zugang zu den angenommenen indirekten, medialen Weltzugängen haben? Will er uns einreden, dass wir in einer unendlichen Verschachtelung von Vermittlungen gefangen sind wie die Figuren in Rainer Werner Fassbinders Film «Welt am Draht»? Ist etwa eine Zeitung womöglich gar keine Zeitung, sondern ein Datensalat in der Matrix?

Reales und Natürliches

Der Neue Realismus scheut die Öffentlichkeit nicht. Es geht ihm auch darum, der Philosophie sowie den Geisteswissenschaften insgesamt angemessenes Gehör zu verschaffen, nachdem klargeworden sein sollte, dass eine nur ökonomisch und technisch-naturwissenschaftlich voranschreitende Zivilisation nicht imstande ist, die grossen Fragen einfach zum Schweigen zu bringen, die sich geistige Lebewesen seit Jahrtausenden stellen und die zur Entwicklung von Hochkulturen geführt haben.

Der Neue Realismus wendet sich auch gegen das naturalistische Weltbild. Im Partikelbeschleuniger und im Hirnscan sieht man weder Moral, Religion, Republiken, Zahlen noch die Geistesgeschichte. Daraus folgt aber nicht, dass es diese welthistorischen Agenten nicht gibt, sondern nur, dass man sie naturwissenschaftlich prinzipiell nicht erforschen kann. Das Reale ist nicht mit dem Natürlichen identisch, das Gegenstand der naturwissenschaftlichen Erforschung ist. Das Universum als Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften ist eine ontologische Provinz unter anderen – was den Wert seiner Erforschung nicht mindert. Wirklich ist vieles. Zwei und zwei ergibt wirklich vier. Deutschland ist wirklich eine Bundesrepublik mit einer sehr wirklichen Kanzlerin. Menschenwürde kommt wirklich allen Menschen zu, und es ist ein Übel, sie anzutasten. Wirklich sind auch Galaxien und Bosonen, Hände und Albträume. Das Wirkliche ist ein bunter Strauss. Dieser bunte Strauss bildet aber keine riesige Einheit. Die Wirklichkeit, die eine Welt, zu der alles Wirkliche gefälligst zu gehören hat, gibt es gerade nicht.

Der Neue Realismus ist eine weltweit sichtbare Neubesinnung auf die soziokulturelle Einbettung und die Einheit, Freiheit und Gleichheit der Wissenschaften. Damit entspricht er dem Imperativ der Aufklärung, den Streit der Fakultäten mit dem humanistischen Ziel vor Augen zu moderieren, dass der Mensch als geistiges Lebewesen nicht verschwinden soll, wie nach Foucault ein Gesicht im Sand am Meeresufer.

Selbsterkenntnis der Gattung

Dieser humanistische und universalistische Impuls der Aufklärung betrifft freilich nicht nur die Organisation des akademischen Wissens. Die Wissenschaften sind ein gesellschaftliches Subsystem. Dieses benötigt Unabhängigkeit von externer Beeinflussung und den Abstand, der für Theoriebildung nötig ist. Die Wissenschaften haben den Auftrag, Tatsachen zu entdecken, die ein besseres Verständnis der Begriffe in Aussicht stellen, aus denen sich unser Selbstporträt als geistige Lebewesen zusammensetzt. Zum autobiografischen Portfolio der Gattung Mensch gehört dabei unsere Selbsterkenntnis als moralische und politische Akteure auf der historischen Bühne des Sozialen. Das wusste Carl von Linné, dem wir den Gattungsnamen «Homo sapiens» verdanken. Anstatt diesen zoologisch näher zu bestimmen, fordert Linné ausdrücklich zur Selbsterkenntnis auf (nosce te ipsum). Selbsterkenntnis setzt voraus, dass wir etwas wirklich erkennen können.

Die postmoderne Tatsachenflucht überwindet keine Krisen, sie verschärft sie. Der Neue Realismus erinnert daher an die alte Einsicht: Die Wahrheit wird euch frei machen.


ujw. ⋅ In zwei schwungvollen populärwissenschaftlichen Büchern hat Markus Gabriel seine Philosophie eines Neuen Realismus skizziert: «Warum es die Welt nicht gibt» (Ullstein 2013) und «Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert» (Ullstein 2015). Dem mit philosophischem Argumentieren vertrauten Leser bietet sich, noch druckfrisch, der Gedankengang von «Sinn und Existenz» an, einer 500 Seiten starken «realistischen Ontologie» (Suhrkamp 2016). – Markus Gabriel, Jahrgang 1980, lehrt seit 2009 als Professor an der Universität Bonn.


Nota. - Wer dieser Tage aus dem Tross der Universitätsphilosophie hervorragen will, muss sich von post-modernerer Laufstegtänzelei ebenso absetzen wie von analytisch-atomistischem Erbsenzählen. Frisch und unbefangen muss er auf die Pauke hauen; Realismus ist da verführerisch. Und mindestens rhetorisch hat man gegen beide leichtes Spiel. Sie sind inzwischen so durchgekaut, dass der gesunde Menschenverstand wie eine Erlösung vorkommt. 

Freilich war der Konstruktivismus nur eine späte zaghafte Aufwärmung der Kritischen alias Transzentdental-philosophie - für arme Leute sozusagen, die sich und den andern nichts allzu Schweres zumuten mochten. Dass es die Wirklichkeit in Wahrheit - "Was ist Wahrheit?!" - vielleicht gar nicht gäbe, war aber seine eigne eitle Zutat. Die Transzendentalphilosophie hat so eine Frage nie gestellt. Selbst der idealistische Philosoph glaube an die Realität der Welt, sobald er nicht mehr auf dem Katheder stehe, sagt Fichte, und wenn das einer wissen konnte, war er's. Allerdings meinte er, dieser Glaube sei erklärungsbedürftig. Diese Erklärung wollte die Transzendentalphilosophie liefern. 

Die Aussage, dass es ein Ding an sich 'nicht gibt', ist ebenso dogmatisch - beruht auf Glauben statt auf Wissen -, wie der Glaube an Dinge-an-sich. Ein Ding, das keine Merkmale hat - und die hat es immer nur "für mich" -, ist gar kein Ding. Nämlich kein reales, sondern lediglich ein gedachtes. Denken kann ich mir auch den Teufel und seine Großmutter. Fragt sich nur, wozu das gut sein mag. Wozu ist es gut - zweckmäßig, nützlich, hilfreich -, sich ein Ding-an-sich zu denken? Es führt von nichts durch nichts zu nichts, will sagen: Streng genommen lässt sich gar nichts dabei denken. In unsern Tage lässt sich (aber auch nur in interessier-ten Kreisen) damit allerdings Aufmerksamkeit erregen. Insofern passt der Neue Realismus nur zu gut zu seinen konstruktivistischen Popanzen.

Dass die Transzendentalphilosophie bislang noch nie ins Standardbewusstsein der akademischen Zunft drin-gen konnte, ist ein Problem für sich, und kein kleines, sondern ein eminentes. Wahr ist, dass ihre Ergebnisse unterm Strich nur negativ und kritisch sind. Sie führten geradewegs in den Nihilismus, hat Heinrich Jacobi dem Fichte an den Kopf geworfen, und der hat sich davon ins Bockshorn jagen lassen (einer der faktischen - nicht gedanklichen - Gründe, weshalb die Transzendentalphilosophie nach ersten spektakulären Siegen in der Versenkung verschwand)

Doch die Zeit ist reif, einen neuen Anfang zu wagen. Der Nihilismus muss kein eitler, gezierter sein. Er kann fröhlich und heroisch werden, wenn er ästhetisch wird - "Artistenmetaphysik", gaya scienza. Und wenn er kämpferisch ist, kann er eine ernste Sache werden.
JE

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