aus Der Standard, Wien, 22. Juni 2016
Die Verfolgung und Ermordung des Moritz Schlick
Vor achtzig Jahren wurde Moritz Schlick, das Haupt des Wiener Kreises, erschossen. Die Tat galt bald als Menetekel für den aufkommenden Vernichtungsfeldzug gegen die Vernunft.
von Karl Sigmund
Wien – Der 22. Juni 1936 war ein strahlend schöner Tag. Professor Schlick wollte zu seiner Vorlesung – der letzten im Sommersemester. Auf der sogenannten Philosophenstiege im Hauptgebäude der Universität überholte ihn eine hagere Gestalt und streckte ihn mit mehreren Schüssen nieder. Drei davon waren tödlich. Dann wartete der Mörder, ein gewisser Dr. Nelböck, auf seine Festnahme.
Dieser Johann Nelböck hatte mehr als fünf Jahre zuvor bei Schlick promoviert, mit einer Dissertation über Die Bedeutung der Logik in Empirismus und Positivismus. Das Leben hatte Nelböck nicht verwöhnt: ein Bauernbub aus ärmlichen Verhältnissen, der sich durch Schule und Universität gekämpft hatte. Irgendwann verliebte er sich in eine Studentin namens Silvia Borowitzka. Auch sie schrieb bei Schlick eine Dissertation. Der Titel: Über das Angenehme und das Schöne. Kaum hatte Nelböck promoviert, bezichtigte er Schlick einer Affäre mit der Studentin. Er lauerte ihm vor dem Hörsaal mit gezückter Pistole auf und kündigte an, ihn demnächst zu erschießen. Der Professor erstattete Anzeige. Nelböck wurde in die psychiatrische Klinik eingeliefert. Als "Psychopathen mit bizarren und überwertigen Ideen und homiziden und suizidalen Impulsen" hielt man ihn dort fest. Doch da er sich beruhigte, wurde er nach einigen Monaten entlassen. Er wollte sich aufs Lehramt vorbereiten.
Personenschutz
Sofort begann er wieder, Schlick aufzulauern und zu bedrohen. Es kam neuerlich zu Anzeige, Internierung und Freilassung. Schlick musste um Personenschutz ansuchen. Das Rektorat teilte die Sachlage dem Stadtschulrat mit. Damit war für Nelböck keine Anstellung an einer Schule möglich, was ihn in der Vorstellung bestärkte, Schlick wolle seine Existenz vernichten. Und so wurde der weltweit renommierte Professor Schlick, die Verkörperung von Toleranz und Vernunft, fünf Jahre lang von einem Wahnsinnigen bedroht und gestalkt.
Nelböck schlug sich als mittelloser Privatgelehrter mit Nachhilfestunden durch. Als er schließlich erfuhr, dass er auch für die Abhaltung von Kursen am Volksheim Ottakring nicht mehr infrage kam, war er fälschlicherweise überzeugt, dass wieder Schlick dahinterstecken müsse. So beschloss er zu handeln.
Nelböcks Tat und die folgende Gerichtsverhandlung lösten einen Sturm im Blätterwald aus. Dass ein Philosoph einen anderen erschießt, hört man nicht alle Tage. Dass Gegensätze philosophischer Natur zu Mordmotiven werden, sei die traurige Sensation des Falles. Nelböck wurde beschrieben als "ein Mann mit einer richtigen Philosophengestalt, kraftlos und ohne jede Haltung" und mit einem schmallippigen Gesicht, das nur durch die "Philosophenbrille" einen Ausdruck bekomme.
Imageprobleme
Philosophen haben offenbar Imageprobleme; andrerseits wird ihnen ein "Gesinnungsmord" leichter abgenommen. Das bot sich als Nelböcks Verteidigungslinie an. Gesinnungsmorde waren den Wienern nicht fremd. Zehn Jahre zuvor hatte ein gewisser Otto Rothstock den Schriftsteller Hugo Bettauer erschossen, zwanzig Jahre zuvor der sozialdemokratische Physiker Friedrich Adler den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh. So grundverschieden diese Fälle auch waren, beide Täter waren zwei Jahre später wieder auf freiem Fuß. So machte Nelböck philosophische Gründe geltend. Er erklärte: "Im Verhalten Schlicks sah ich die ganze Gewissenlosigkeit seiner Weltanschauung ausgedrückt."
Ganz kam er damit nicht durch. Das Gericht verurteilte ihn zu zehn Jahren Haft und fasste zusammen: In der Vorstellung des Angeklagten war Schlick der "Räuber seiner Liebe, seines Glaubens und seiner Existenz." Die persönlichen Motive waren in der Überzahl. Immerhin, mit dem "Glauben" war ein Gesinnungskonflikt angesprochen. Das reichte aus, wie sich herausstellen sollte: Auch Nelböck kam nach zwei Jahren frei. Der "Anschluss" machte es möglich. Fortan konnte sich Nelböck rühmen, "durch die Beseitigung Schlicks dem Nationalsozialismus einen Dienst erwiesen zu haben."
Unkonventioneller Ethiker
Schlick war vor allem als Leitfigur des logischen Empirismus bekannt. Er war der erste Philosoph, der die Bedeutung von Einsteins Arbeiten erkannt hatte, und hatte es als "Einsteins Hausphilosoph" und "Evangelist der Relativitätstheorie" zu höchstem Ansehen gebracht. Das war für seine Berufung nach Wien ausschlaggebend gewesen.
Nun können Differenzen über den Empirismus kaum Anlass für einen Gesinnungsmord bieten. Aber Schlick war nicht nur Erkenntnistheoretiker, sondern auch Ethiker – mit Gedanken, die auch heute noch unkonventionell sind. Das erste Buch des jungen Berliners hieß "Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre". Schlick war gerade fünfundzwanzig, als es erschien. Er kam auf die darin entwickelten Gedanken immer wieder zurück und propagierte zeitlebens einen aufgeklärten Epikureismus. So kam es, dass Schlick nicht nur Kants Vorstellungen von Raum und Zeit kritisierte, sondern auch dessen unerbittliche Ethik der Pflicht und Auffassung, dass "das moralische Gesetz ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann."
Ohne Plage keine Tugend, meinte Kant. Schlick war vom Gegenteil überzeugt. Moralische Werte beruhen nicht auf dem kategorischen Imperativ, sondern auf sozialen Trieben, die uns genauso natürlich sind wie die leiblichen Bedürfnisse. "Die Werte stehen nicht über dem Menschen, sondern sind in ihm; gut zu sein ist für ihn natürlich." Das ist ein Gedanke, der in der Evolutionsbiologie wurzelt; und tatsächlich war Schlick ein Bewunderer von Konrad Lorenz und Karl von Frisch, drei Jahrzehnte bevor diese beiden den Nobelpreis bekamen.
Glück als Grundrecht
Moral auf Verhaltensforschung zu gründen scheint heute noch vielen bedenklich.* Mehr noch, Schlick war so vorwitzig, einen Aufsatz über "den Sinn des Lebens" zu verfassen. Der Sinn des Lebens liege nicht in einem höheren Zweck. Vielmehr sei er im Diesseits verankert. "Der Sinn des Lebens ist die Jugend." Das klingt paradox. Ist Jugend nicht ein Stadium der Unreife, eine Vorbereitung aufs Leben? Wie kann darin der Sinn des Lebens bestehen? Doch Jugend heißt für Schlick: Offenheit für das Glück.
"Sei glücksbereit!", meinte er. Glück ist den meisten deutschen Philosophen suspekt. Im englischen Sprachraum ist das anders. Die Väter der amerikanischen Verfassung sahen nichts Frivoles im "pursuit of happiness", sondern ein Grundrecht. Aber in den Gedankengebäuden der idealistischen Philosophie hatte Glück keinen Platz.
Auch innerhalb des Wiener Kreises musste Schlick sich rechtfertigen. Für seinen Freund Carnap galt es als ausgemacht, dass Werturteile sinnlos seien, da sie nicht verifiziert werden könnten. Wittgenstein sah es ähnlich. Aber für Schlick war die Ethik nicht Wertphilosophie, sondern Wissenschaft, die sich mit dem Verhalten von Menschen befasst.
Intellektuelle Sprengkraft
War es schon schwer genug, seine Kollegen zu überzeugen, so stand Schlick auf gänzlich verlorenem Posten gegenüber der "political correctness" des sogenannten Ständestaats. Nelböck warf Schlick vor, jedes Vorhandensein von Objektivem auf dem Gebiet der Moral und des Rechts zu verwerfen. Solch positivistische Gedanken galten in klerikal-autoritären Kreisen als anstößig. Zu allem Überfluss war Schlick der Obmann des Vereins Ernst Mach gewesen, der nach den Februarkämpfen 1934 vom Dollfuß-Regime polizeilich aufgelöst wurde. Dass dieselben Lehren, die als "volks- und kulturzerstörend" verboten waren, weiterhin an der Universität gelehrt werden durften, schien manchem unverständlich. "Beachtliche intellektuelle Sprengkraft", vermerkte ein amerikanischer Gasthörer. "Ich frage mich, wie lange solche Vorlesungen noch geduldet werden." Durch den Mord blieb die Frage unbeantwortet.
Philipp Frank, ein Mitglied des Wiener Kreises, fasste in einem Brief an Albert Einstein zusammen: "Die Ermordung von Schlick hat keine politischen Gründe, obwohl viele es vermutet haben. Es war offenbar Verfolgungswahn. Hingegen ist die Ermordung Schlicks politisch ausgenutzt worden. Eine Zeitschrift behauptete: die Philosophie Schlicks sei so unchristlich, dass sie die Hörer zu Verbrechern erziehe, und Schlick sei selbst an seinem Tod schuld. Auch fügte die Zeitung hinzu: Das Ganze sei eine Mahnung, dass man dem jüdischen Einfluss in und um Wien ein Ende machen müsse. Dieser Schluss ist umso sonderbarer, als weder Schlick noch sein Mörder Juden waren. Aber die Katze fällt immer auf die Füße." ()
Karl Sigmund ist emeritierter Professor für Mathematik an der Universität Wien und Autor des Buches "Sie nannten sich Der Wiener Kreis" (Springer Spektrum 2015), das zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt wurde.
*) Mir zum Beispiel. JE
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