Sonntag, 6. April 2014

Wissen schränkt den Horizont ein.

aus Der Standard, Wien, 6. 4. 2014


"Wissen schränkt unseren Horizont ein"
Wissenssoziologe Armin Nassehi über altes und neues Wissen und eine Welt in der Krise, die sich wiederverzaubert

Interview | Lisa Nimmervoll 

STANDARD: Bei der Matinee "Europa im Diskurs - Debating Europe" im Burgtheater wird am Sonntag (11.00 Uhr) über "Die Zerstörung des Wissens?" diskutiert. Wird das Wissen wirklich zerstört?
Nassehi: Das ist ja fast eine ironische Bemerkung. Um neues Wissen herzustellen, muss man altes Wissen zerstören, was die Wissenschaften immer gemacht haben. Erkenntnisfortschritt hat immer damit zu tun, dass man letztlich Wissen oder Gewissheiten, die man vorher für richtig gehalten hat, zerstört oder zumindest infrage stellt. Zugleich erwarten wir vom Wissen unglaublich viel: dass Sätze, die uns sagen, dass wir etwas wissen, unabhängig von dem, der es beobachtet, gelten. Was wir zurzeit beobachten, ist, dass es zu den unterschiedlichsten Problemen ganz unterschiedliche Wissensformen gibt. Das heißt, wenn man Wissen in Anspruch nimmt, wird man bisweilen eher verunsichert, als dass man sich Sicherheit ins Haus holt. Damit wird nicht unbedingt Wissen zerstört - aber die Sicherheit, die wir vom Wissen erwarten.


STANDARD: Ist das eine historische Zäsur, was den Umgang mit Wissen, der Vorläufigkeit von Wissen, aber auch immer schnelleren Zerstörung des alten Wissens anlangt?
Nassehi: Was sich zurzeit sicher sehr stark verändert, und das kann man als historische Marke ansehen, ist die Distributionsform des Wissens, also was durch die Digitalisierung, das Internet und die dadurch mögliche Rekombination unterschiedlicher Wissenspartikel weltweit durch jeden - das ist ja das Entscheidende - ermöglicht wird. Heute geht kein Patient mehr mit einem Leiden zum Arzt, sondern bereits mit relativ konkretem Wissen aus Experten- und Laienforen, womöglich medizinischer Fachliteratur. Ärzte müssen heute eher lernen, den Leuten Diagnosen auszureden. Das kann man auf fast alles andere übertragen. Wobei wir nicht nur das Internet bedenken müssen, schon der Buchdruck hat letztlich damit begonnen, dass Hinz und Kunz in der Lage waren, mit einer Form von Information umzugehen, die Hinz und Kunz für Wissen halten konnten.
STANDARD: Sie vertreten ja eine fast ketzerische These, indem Sie sagen: "Zu viel Wissen schadet nur", Wissen sei das Problem.
Nassehi: Normalerweise sagen wir, dass Wissen unsere Horizonte öffnet. Wer nichts weiß, ist doof; wer etwas weiß, dem steht die Welt offen. Und da ist ja etwas dran. Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Wir wissen ziemlich genau, dass paradoxerweise jegliche Form von Wissen unseren Horizont einschränkt. Alles, was wir in der Welt sehen, konfrontieren wir ja mit unseren Erwartungen, unserem Wissen, der Struktur, die wir im Kopf bzw. in den sozialen Erwartungen haben. Je genauer wir etwas wissen, umso weniger sind wir offen, Umweltreize anders wahrzunehmen, als wir das immer schon in Routinen getan haben. Das Wissen schränkt den Blick auf die Welt ein, und deshalb schadet zu viel Wissen womöglich. Praktisch gesprochen: Wir wissen aus der Forschung, dass die Unternehmen am ehesten vom Markt verschwinden, die zu genau wissen, was sie zu tun haben, welche Produkte die Kunden eigentlich haben wollen oder wie sich die Märkte entwickeln.
STANDARD: Sie plädieren auch dafür, dass "Nichtwissen" und das Bekenntnis zur Unsicherheit ihr Recht haben. Was bedeutet das für die Wissensmaschine Schule?
Nassehi: Zunächst abstrakt gesagt: Wir wollen ja, dass Menschen in Bildungsinstitutionen und durch Wissen ein Tool erlernen, mit dem sie richtig entscheiden können. Entscheidungen sind aber nur dann erforderlich, wenn wir nicht alles wissen. Wenn ich genau weiß, dass ich an einer Kreuzung rechts abbiegen muss, dann muss ich mich nicht entscheiden. Bezogen auf Bildungsinstitutionen ist es so, dass wir in den Schulen den Kindern womöglich viel zu viel sicheres Wissen beibringen und viel zu wenig darüber, wie Wissen eigentlich zustande kommt und was man in welchen Situationen wissen bzw. nicht wissen kann. Das muss man lernen. Von Niklas Luhmann gibt es die schöne Formulierung: Wir können sehen, was wir sehen können, wir können aber nicht sehen, was wir nicht sehen können. Das gilt auch für das Wissen. Wir sind in unserer Erkenntnis und Wahrnehmung viel stärker von einem Wissen geleitet, als wir das wissen. Wenn wir wenigstens das wissen könnten, könnten wir etwas angemessener mit dem Wissen umgehen.
STANDARD: Einer der klassischen Wissensorte ist auch die Universität. Wird das Wissen dort auch zerstört? Stichwort Bologna etc.?
Nassehi: Ich bin kein strikter Gegner der Bologna-Reform. Der empirische Effekt ist aber der, dass wir frühere Studiengänge wie eine Wurst gepresst und noch stärker so formiert haben, dass ein bestimmter Wissensfundus möglichst schnell in die Köpfe der Leute hineingepresst wird. Dadurch bleibt für das, was akademische Bildung einmal wollte, nämlich sich - auch mit Zeit versehen - kritisch damit auseinandersetzen, was Wissen bedeutet, wie wir mit unterschiedlichen Erkenntnissen umgehen können, wie wir tatsächlich auch Wissen, bisweilen Gewissheiten, destruieren müssen, keine Zeit mehr. Was wir an Universitäten lernen können, ist ja, wenn es gut läuft, keineswegs ein sicherer Wissensvorrat, sondern die Fähigkeit, mit Informationen so umzugehen, dass daraus Wissen entsteht. 

Man glaubt, Universitäten sollten so etwas wie Bildungsanstalten sein, bei denen wir berufsfertige Fertigkeiten entwickeln. Ich halte das für sehr problematisch, nicht weil ich denke, dass Universitäten nicht für Berufe ausbilden sollten. Das müssen sie selbstverständlich. Aber die Bildungsplaner machen sich womöglich sehr naive Vorstellungen darüber, was man eigentlich in Berufen tun muss. Wir haben es mit sehr kurzen Wissenszyklen zu tun, Menschen müssen sich mit ihrem Wissen sehr stark verändern. Man könnte böse sagen: Politiker haben womöglich zu selten in Berufen gearbeitet und können als Berufspolitiker dieses Problem gar nicht sehen.
STANDARD: Ist Wissen synonym mit Bildung?
Nassehi: Der Bildungsbegriff ist ja sehr vielschichtig. Er könnte als technischer Begriff verwendet werden im Sinne von Bildungszertifikaten. Aber wir erwarten ja gerade im Deutschen von Bildung so etwas wie Persönlichkeitsentwicklung. Im Prinzip ist nach diesem Verständnis erst der gebildete Mensch ein wirklicher Anthropos. Zeitgemäße Bildung ist eine Form, reflexiv mit Wissen umzugehen. Es ist nicht derjenige, der quantitativ über viel Wissen verfügt, der Gebildetste. Dann wäre ein webbasiertes Archiv besonders gebildet. Der Gebildetste ist heute wohl der, der mit unterschiedlichen Wissensformen gleichzeitig umgehen und sie ineinander übersetzen kann und weiß, dass sich Perspektiven unterscheiden.
STANDARD: Wenn das Wissen zerstört wird oder quasi für jeden googelbar, was heißt das für die "geistige Elite"? Bildung war ja auch immer ein Privileg der Bürgerlichen. Was bedeutet da der Zerfall des Wissensmonopols?
Nassehi: Heute müssen Eliten in der Lage sein, die Multiperspektivität der Welt irgendwie zu verarbeiten. Früher war Demokratie womöglich das geeignete Tool, diese Perspektiven wenigstens in eine Mehrheitsform bringen zu können. Dann kamen die Expertenkulturen, also Leute, die es genau wissen und den anderen mitteilen. Heute brauchen wir vielleicht eine Idee von Mediation, durch die man in Bildungsprozessen lernt, zwischen unterschiedlichen Wissensformen switchen zu können oder zumindest eine Form zu finden, mit ihnen umzugehen, weil man die eine letzte Wahrheit nicht mehr erreicht.
STANDARD: "Beschreibungen der Gesellschaft sind Selbstbeschreibungen", sagen Sie. Eine besagt: Wir leben in einer "Wissensgesellschaft." Stimmt dieser Befund eigentlich?
Nassehi: Ich bin immer skeptisch, wenn es um diese Komposita geht: spätkapitalistische Gesellschaft, Risiko- oder Wissensgesellschaft. Das sind Versuche, die Gesamtgesellschaft durch ein einziges Merkmal zu charakterisieren. Das funktioniert natürlich nicht. Was man beobachten kann, ist, dass solche Labels dann auftauchen, wenn das, was darin ausgedrückt wird, ein Problem wird. Sie sind immer Problemformeln. Wir sprechen ja nicht von einer Wissensgesellschaft, weil wir alles wissen, sondern weil wir erkennen, dass der Umgang mit Wissen das entscheidende Produktionsmittel in dieser Gesellschaft geworden ist - und Wissen vergleichsweise unsicher. Erst diese Erfahrung macht unsere Gesellschaft zu einer Wissensgesellschaft.
STANDARD: Welche Auswirkungen hat die "Explosion" des Wissens für die Demokratie?
Nassehi: Die Grundidee der Demokratie war, dass nur der gut informierte, gebildete, mit Wissen versehene Staatsbürger in der Lage ist, über Wahlen als demokratischer Staatsbürger so etwas wie kollektiv bindende Entscheidungen herzustellen. Heute erleben wir, dass sich die Expertenbeschreibungen etwa der Finanzkrise radikal widersprechen. Diese Welt ist so unübersichtlich geworden, dass demokratische Entscheidungen immer weniger zwischen Konzepten und Kompetenzen wählen, sondern eher medial und kulturindustriell erzeugte Stimmungen zur Abstimmung stellen. Also wer ist am glaubwürdigsten, wer ist in der Lage, ein latentes Gefühl so auf den Punkt zu bringen, dass ich die jeweilige Person für entsprechend kompetent halte? Die deutsche Bundeskanzlerin ist das wunderbarste Beispiel dafür, geradezu ohne Informationen einen Wahlkampf zu machen und damit glaubwürdig zu sein. Das ist eine große Kunst. Ich bewundere das sehr. Aber es ist eine Form, die im Prinzip das Wissen aus einem Meinungsbildungsprozess herausgelöst hat. Dann wird politische Loyalität über Stimmungen und nicht über konkurrierende wissensbasierte Konzepte erzeugt.
STANDARD: Letzte Frage: Das erste Thema des von Ihnen seit 2012 verantworteten "Kursbuchs" lautete "Krisen lieben". Welche Krise lieben Sie denn gerade und warum?
Nassehi: Man kann ordentlich einen auf den Deckel bekommen, wenn man sagt, dass man die Krisen liebt, weil Krisen natürlich große Kosten produzieren. Aber die moderne Gesellschaft erlebt sich ohnehin selbst immer als Krise, und das hängt unmittelbar mit Wissen zusammen. Wir glauben, etwas zu wissen, und schon ist jemand da, der Nein sagt. Dieses permanente Nichtpassen unserer Beschreibungen auf die Welt und das Nichtpassen der Welt auf die Beschreibungen ist im Prinzip das, was das Krisenhafte der Moderne ausmacht. Deshalb liebt die Moderne die Vielfalt ihrer Selbstdeutungen ebenso, wie sie darunter leidet. Natürlich liebe ich als Wissenschafter die Krise des Wissens schon sehr. Es ist mir wirklich zuwider, wenn Leute genau wissen, was der Fall ist, und behaupten, an diesem Punkt musst du drehen, und dann wird sich die Gesellschaft verändern. Das sind dann fast alchemistische Sprüche. Wir wissen aber, dass die Gesellschaft viel krisenhafter ist, dass sie sich geradezu wiederverzaubert, weil sie so komplex geworden ist.

Armin Nassehi, geb. 1960 in Tübingen, aufgewachsen in München, Landshut, Teheran und Gelsenkirchen, ist seit 1998 Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Uni München. Forschungsgebiete: Kultur-, Religions-, Wissens-, Wissenschafts- und politische Soziologie.

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