Mittwoch, 16. April 2014

Vor zehn Jahren: das "Manifest" der Hirnforscher.

aus nzz.ch, 16. April 2014, 05:30

Kritik an Hirnforschern
«Das Körper-Geist-Problem wird unzulänglich bedacht»



Zehn Jahre nach der Publikation eines «Manifests» von Hirnforschern nimmt eine Gruppe von Wissenschaftern die damaligen Prophezeiungen unter die Lupe. Im Interview erklärt der Initiator der Gruppe, Felix Tretter, warum die Hirnforscher allein nicht weiterkommen.


Herr Tretter, die prophezeite Revolution der Psychopharmaka ist, wie Sie schreiben, ausgeblieben. 
Weshalb?

Dass sich psychische Krankheiten heute nicht viel besser behandeln lassen als vor zehn Jahren, liegt an der Eindimensionalität des therapeutischen Ansatzes. So beruht der derzeitige Fokus darauf, bestimmte neuronale Schalter (Rezeptoren) im Gehirn mit Medikamenten gezielt zu beeinflussen. Damit packt man die Störung aber nicht an der Wurzel an, sondern tangiert sie lediglich an der Oberfläche. Das zeigt bereits der um zwei Wochen verzögerte Wirkungseintritt. Auch angesichts der vielen Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zwischen den schätzungsweise rund 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn erscheint es schwer vorstellbar, wie es mit einer so simplen Methode gelingen soll, weitreichende therapeutische Effekte zu erzielen.
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Das Manifest aus der Hirnforschung

lsl./NvL. ⋅ Im Jahr 2004 haben elf mehrheitlich deutsche Wissenschafter in der Zeitschrift «Gehirn und Geist» ein «Manifest» veröffentlicht.¹ Sie gaben einen kurzen Überblick, wo die Hirnforschung damals stand, und machten Vorhersagen, welche Erkenntnisse sie in den nächsten zehn beziehungsweise zwanzig bis dreissig Jahren bringen werde. Einige Aussagen sind sehr zurückhaltend. So heisst es etwa, dass man noch nicht einmal in Ansätzen verstehe, nach welchen Regeln das Gehirn arbeite, wenn «unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen», oder «wie das innere Tun als ‹seine› Tätigkeit erlebt wird». Und es sei überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könne.

Jedoch habe man herausgefunden, schreiben die Forscher weiter, dass neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhingen. Zwar kenne man die genauen Details noch nicht, jedoch könne man davon ausgehen, dass die mentalen Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar seien. Dann prophezeien sie, in den nächsten zwanzig bis dreissig Jahren werde man so weit sein, dass man «widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen werde, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen». An dieser und ähnlichen Aussagen, die eine rein biologische Sichtweise erkennen lassen, störten sich viele Wissenschafter, insbesondere Philosophen, die sich seit Jahrhunderten mit Fragen über Geist und Bewusstsein auseinandersetzen.

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In Ihrem Memorandum, erschienen in der Zeitschrift «Psychologie heute», kritisieren Sie unter anderem den Datensammel-Eifer heutiger Forschergenerationen. Sind möglichst grosse Datenmengen nicht eine Voraussetzung, um Zusammenhänge besser zu verstehen? Auch bei den Genen hat man zunächst nach Varianten gesucht und ist erst später dazu übergegangen, die Auswirkungen dieser Varianten auf Protein-Ebene zu erforschen.

Die Big-Data-Strategie setzt auf die Fähigkeit von statistischen Methoden, aus den riesigen Datenmengen typische Muster herauszufiltern. Das ist zwar ein interessanter Ansatz, aber ohne eine zugrunde liegende Theorie wenig verständnisfördernd. So gibt es in der Mathematik verschiedene Methoden, um komplexe Beziehungsgeflechte zu entschlüsseln. Hierzu zählen etwa die Faktorenanalyse oder die Graphentheorie. Solche Methoden verfügen über eine hohe analytische Kapazität und liefern komplexe, unübersehbare Modelle. Sie lassen sich nur noch mithilfe von mathematischen Kennzahlen charakterisieren. Das bedeutet: Computer können das Gehirn vielleicht analytisch «verstehen», wir Menschen aber auf diese Weise nicht.


Halten Sie Projekte wie das Human Brain Project daher für sinnlos?

Das Human Brain Project versucht vor allem, vorhandene Daten aus den verschiedensten Forschungsbereichen zusammenzuführen. Es soll idealtypische Neurone von idealtypischen Gehirnarealen und idealtypischen Verbindungen zwischen diesen Regionen modellieren und in ein umfassendes Computermodell einbringen. Ziel dabei ist es, die neuronalen Prozesse zu simulieren und durch Veränderung der Modellparameter Störungen nachzuahmen. Auch hier fehlt allerdings ein Leitkonzept, also eine Theorie, wie das Gehirn funktioniert. Stattdessen sollen die Erkenntnisse gewissermassen durch Probieren gewonnen werden. Dennoch ist dieses Projekt ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung der Theoriebildung. Das «Körper-Geist-Problem» wird darin jedoch unzulänglich bedacht. [Gemeint ist damit die Frage, wie das Gehirn – also die Nervenzellen mit all ihren Verbindungen und Funktionen – das Bewusstsein erzeugt; Anm. d. Red.].

Im Gegensatz zu den Manifest-Autoren sagen Sie, dass man mentale Funktionen wie Empathie oder Imagination nicht im Gehirn lokalisieren kann. Denn eine erhöhte Aktivität in einem bestimmten Hirnareal sagt nichts über deren Spezifität aus. Es gibt aber Patienten, die beispielsweise infolge einer schlaganfall- oder unfallbedingten Verletzung eines umgrenzten Hirnareals spezifische Fähigkeiten nicht mehr besitzen, etwa die grammatikalische Kompetenz oder Empathie. Ist das nicht ein Hinweis, dass sich Funktionen zumindest teilweise lokalisieren lassen?

Je nachdem, welche Verarbeitungsstufe der sensorischen Eingangs- oder der motorischen Ausgangsbahnen im Gehirn beschädigt ist, sind die hiervon betroffenen geistigen Funktionen schwer beeinträchtigt. Durch intensives Training lassen sich diese aber teilweise wieder herstellen. Das spricht für eine gewisse multilokale Repräsentation solcher Funktionen und den Netzwerk-Charakter des Gehirns. Die einfache Lokalisationstheorie ist falsch. Jeder Gehirnort ist an vielen Funktionen beteiligt, und jede Funktion ist mit vielen Gehirnorten verbunden. In dieser Hinsicht sind Hirnkarten von allen Verbindungen im Gehirn, etwa das Human Connectome Project, zweifellos ein wichtiges Vorhaben, das mehr örtliche Präzision bringt. Ein weiteres Problem ist aber, dass psychologische Konstrukte wie «Empathie» schwer zu beschreiben sind. Deshalb erscheint mir die Lokalisation dieses sozialen Gefühls höchst problematisch, selbst wenn man nach dem Netzwerk und nicht nach einem Hirnareal der Empathie sucht. Denn grosse Teile dieses Netzwerks sind vermutlich auch bei Hassgefühlen beteiligt.*

Die Manifest-Autoren schreiben: Der Geist fiel nicht vom Himmel, sondern hat sich im Lauf der Evolution entwickelt. Kann die Evolutionsbiologie einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten: Was ist der Geist?

Nein, das glaube ich nicht. Denn bevor man über den Geist spricht, muss man erst das Geistige definieren und die Frage beantworten: Was ist das Bewusstsein? Die britische Psychologin Susan Blackmore hat dazu ein Dutzend Hirnforscher befragt und ein Dutzend verschiedene Definitionen erhalten. Der amerikanische Hirnforscher Christof Koch war sogar nicht abgeneigt, Bienen eine Vorform von Bewusstsein zuzuschreiben. Wenn ein derart breiter Dissens besteht, dann weiss man nicht, was mit Bewusstsein eigentlich gemeint ist: Wachheit, Wissen, Selbstbewusstsein oder etwas anderes? Über etwas zu spekulieren, das man weder definieren noch kommunizieren kann, ist nicht sehr effektiv.

Sie plädieren dafür, die Philosophie mehr einzubinden. Wie kann diese die bestehenden Wissenslücken füllen?

Zu den grundsätzlichen Problemen der Neurowissenschaften gehört, dass es keine differenzierte Gehirntheorie gibt. Hier kann die Philosophie als Mutter aller Wissenschaften weiterhelfen, zumal sie über viel Erfahrung mit der Theoriebildung verfügt und viel über erkenntnistheoretische Grenzen wissenschaftlicher Methodik weiss. Diesen Weg haben auch die Physiker eingeschlagen. So haben sich vor rund 90 Jahren Physiker und Philosophen im Rahmen des Wiener Kreises über die Grundfragen der Erkenntnisse in der modernen Physik ausgetauscht. Die Ergebnisse liefern interessante Einsichten etwa zur wissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit, zum Verhältnis von Empirie und Theorie und zur Theoriebildung. Dies wäre für eine wirklich multidisziplinär begründete Hirnforschung essenziell. 

Philosophie wäre aber auch wichtig wegen ihrer langen Diskussion des Gehirn-Geist-Problems, wegen ihrer Kompetenz zur Frage «Was ist der Mensch?» und wegen der Notwendigkeit einer Ethik der Neurowissenschaft: Sollen wir alles tun, was wir technisch können?

Sie fordern mehr Nachdenklichkeit in der Neurowissenschaft. Aus einem interdisziplinären Dialog soll eine «reflexive Neurowissenschaft» entstehen. An welche Disziplinen haben Sie neben der Philosophie noch gedacht?

Ein Austausch mit der Physik, der Chemie, den Biowissenschaften, der Psychologie und insbesondere den Systemwissenschaften wäre für eine echte Interdisziplinarität förderlich. Darüber hinaus können die Sozial- und Kulturwissenschaften, aber auch die überkonfessionelle Theologie, wichtige Beiträge leisten.

Warum sind die Systemwissenschaften so wichtig?

Den mathematisch operierenden Systemwissenschaften kommt eine Schlüsselrolle zu, da sie aufbauend auf der Computational Neuroscience den Systemcharakter des Gehirns am besten berücksichtigen. Sie sind am ehesten in der Lage, die auf verschiedenen Ebenen des Gehirns stattfindenden komplexen neuronalen Prozesse begrifflich und methodisch aufzuschlüsseln und darzustellen. Die Kommunikation zwischen einzelnen Nervenzellen verläuft nicht nur in zwei Richtungen, besteht also nicht nur aus Rede und Antwort. So werden die Signale einzelner Neurone von anderen häufig verstärkt oder abgeschwächt. Um die enorme Vielfalt an derartigen Einflüssen zu berücksichtigen, bedarf es komplexer mathematischer Modelle und Computersimulationen.

Haben Sie den Eindruck, dass grundsätzlich Interesse für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit besteht?

Ja, es gibt vereinzelte Ansätze. Aber im Streit der Fakultäten scheint sich dies in letzter Zeit wieder aufzulösen. Auch viele Hirnforscher und Philosophen sperren sich gegen einen Austausch. Sie haben Mühe mit den Methoden der jeweils anderen Disziplin: Die reden ja nur, sagen die einen. Die machen nur Experimente, die anderen. Etwas mehr Respekt füreinander wäre wünschenswert. In diesem Sinne engagiere ich mich mit Forschern aus verschiedenen Fakultäten seit einigen Jahren für die Entwicklung neuropsychiatrischer Theorien von psychischen Krankheiten.


*Nota.

Eine Revolution in der Neurowissenschaft haben die 'bildgebenden Verfahren' gebracht, ohne die hätte es das Manifest nicht gegeben. Da sie aber eben Bild-gebend und nicht Digit-gebend sind, liegen sie im analogen Modus - und in dem können Bejahung und Verneinung nicht dargestellt werden. Mit andern Worten: Alles, was man zu 'sehen' meint, könnte auch genau das Gegenteil bedeuten. Denn merke: Das Phänomen ist etwas anderes als das, was es bedeutet.
JE

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