Sonntag, 28. April 2019

Die alles zusammenhalten.

aus wienerzeitung.at,  

Faszien: 
Dehnen, ziehen, drücken gegen den Schmerz 
Faszien halten uns geschmeidig, machen uns aber auch schmerzhaft aufmerksam, wenn wir zuviel Stress haben.

Sie bilden jene Strukturen im Körper, die alles verbinden - aber auch trennen. Sie halten die Muskeln zusammen und die Organe an ihrem Platz. Die Rede ist von den Faszien, dem menschlichen Bindegewebe. Lange Zeit kaum beachtet, ist um sie ein regelrechter Hype entstanden. Faszien sind heute ein Objekt schulmedizinischer Forschung. Neueste Studienergebnisse sprechen den Faszien sogar Bedeutung in der Tumortherapie zu. "Die Heilpraktiker kratzen sich am Kopf: ‚Das ist unser Bindegewebe!‘. Plötzlich heißt es Faszien und jeder will sie erfunden haben", wundert sich Robert Schleip, Leiter der Fascia Research Group der Universität Ulm, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Das fasrige Etwas kennt jeder Mediziner aus der Ausbildung: "Man ist Stunden damit beschäftigt, das Bindegewebe weg zu präparieren, um endlich etwas sehen zu können", so der Forscher. Jahrzehntelang hielt man Faszien für so unnütz wie die Verpackung eines Weihnachtsgeschenkes.

Stress verklebt die Faszien

Doch das Gegenteil ist der Fall. Faszien versehen gute Dienste in der Haut, an Knorpeln, Knochen, Gelenken, Muskeln und Organen. Sie sorgen für Zusammenhalt und Zugfestigkeit, aber auch für Geschmeidigkeit und Gleitfähigkeit zwischen den Muskeln. Faszien besitzen etwa sechs Mal mehr Nervenendigungen und mehr Schmerzrezeptoren als das Muskelgewebe. Das macht das Bindegewebe zum größten Sinnesorgan des Menschen.

Bewegungsmangel, chronische Anspannungen und Stress können dazu führen, dass Faszien verkleben, wie der Wiener Physiotherapeut, Osteopath und Rolfer Florian Beer erklärt. Sie werden dicker und fester, wodurch sich die Aktivierungsmuster von Muskeln und damit Bewegungsmuster verändern. Die verklebten Faszien beeinträchtigen in der Folge auch die Körperwahrnehmung.

Die deutsche Forschergruppe hat den Einfluss von chronischem Stress auf das Bindegewebe näher untersucht. Sie ist dabei auf den Botenstoff TGF (transforming growth factor) gestoßen. Tests im Organbad haben gezeigt, dass sich bei einem Anstieg des Botenstoffs die Faszien kräftiger zusammenziehen, berichteten die Forscher um Schleip erst jüngst im Fachblatt "Frontiers in Physiology". Bekannt ist, dass sich TGF besonders bei Stress im Körper stark verändert.

Yoga oder Rolfing helfen

Gegen verklebte Faszien helfen Yoga, aber auch die Faszienrollen. Die Spezialisten auf dem Gebiet der Faszien sind jedoch die ausgebildeten Rolfer, die bestimmte Handgriffe einsetzen, um das Bindegewebe wieder geschmeidig zu machen. Im Rahmen von zehn Sitzungen wird zunächst versucht, die Faszien zu lösen. Dabei unterstützt man den Patienten darin, sich in der Schwerkraft ökonomisch einzuordnen, sich zu bewegen und festsitzende Körperregionen zu lösen und wieder in die Bewegung zu integrieren. Im Zuge dessen kommt es zu einer aktiven Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. Dem Körper wird zudem eine freiere Atmung ermöglicht.

Doch bei der Therapie muss der Patient Geduld aufbringen, denn das Bindegewebe passt sich wesentlich langsamer an als Muskeln. Auch wenn sich Symptome durch eine Behandlung schnell legen können, braucht der Körper für einen strukturellen und damit auch nachhaltigen Umbau Zeit. Um sich an die neue Situation anzupassen, brauche es etwa ein Jahr, meint Beer.

In Österreich leiden bis zu 70 Prozent aller Erwachsenen mindestens einmal im Leben an Rückenschmerzen. Bei zehn Prozent der Jugendlichen und 30 Prozent der 60- bis 70-jährigen sind die Schmerzen chronisch. Nur in knapp 20 Prozent der Fälle seien die Bandscheiben der Übeltäter, sagt Schleip: "Beim Rest heißt es ‚Ursache unbekannt‘." "Chronische Schmerzen manifestieren sich mit der Zeit zwangsläufig im Bindegewebe", so Beer. Die häufigste Ursache von Schmerzen im myofaszialen System sind Überlastungen, die aus Fehlbelastungen resultieren.

Ursachenforschung

Da verklebte Faszienhüllen deutlich dicker sind als normale, lässt sich heute mittels Ultraschall feststellen, ob verhärtete Muskeln oder dicke Hüllen den Schmerz verursachen. Die Forschergruppe in Ulm entwickelt spezialisierte Geräte, etwa einen elektronischen Tastfinger, die die Unterschiede besser erkennbar machen. Damit sollen gezieltere therapeutische Empfehlungen möglich sein.

Carla Stecco von der Uni Padua konnte kürzlich einen neuen Zelltyp, die Fasziazyten, als einen Schlüssel zur Geschmeidigkeit identifizieren. Fasziazyten mit hohem Hyaluronsäuregehalt sind geschmeidiger und erlauben eine bessere Beweglichkeit. Durch gezieltes Training produzieren sie vermehrt Hyaluronsäure.

Bald könnten die Faszien auch in der Tumortherapie eine Rolle spielen. Helene Langevin vom Osher Center for Integrative Medicine der Harvard Medical School konnte im Tierversuch nachweisen, dass bestimmte Dehnübungen eine antientzündliche Wirkung haben und dass Krebszellen unter Faszientherapie weniger schnell wachsen. Die Tumorausbreitung reduzierte sich um 52 Prozent, skizzierte Schleip und merkt an: "In der Tumortherapie ist man als Therapeut mit einer Verbesserungsrate von 18 bis 20 Prozent mehr als zufrieden."

Der Forscher ortet eine "wuselnde Aufbruchstimmung" in seinem Fachgebiet. Die derzeitigen Studienergebnisse dürften erst der Beginn einer noch spannenden Reise sein.

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