Faszien:
Dehnen, ziehen, drücken gegen den Schmerz
Faszien halten uns geschmeidig, machen uns aber auch schmerzhaft aufmerksam, wenn wir zuviel Stress haben.
Sie bilden jene Strukturen im Körper,
die alles verbinden - aber auch trennen. Sie halten die Muskeln zusammen
und die Organe an ihrem Platz. Die Rede ist von den Faszien, dem
menschlichen Bindegewebe. Lange Zeit kaum beachtet, ist um sie ein
regelrechter Hype entstanden. Faszien sind heute ein Objekt
schulmedizinischer Forschung. Neueste Studienergebnisse sprechen den
Faszien sogar Bedeutung in der Tumortherapie zu. "Die Heilpraktiker
kratzen sich am Kopf: ‚Das ist unser Bindegewebe!‘. Plötzlich heißt es
Faszien und jeder will sie erfunden haben", wundert sich Robert Schleip,
Leiter der Fascia Research Group der Universität Ulm, im Gespräch mit
der "Wiener Zeitung". Das fasrige Etwas kennt jeder Mediziner aus der
Ausbildung: "Man ist Stunden damit beschäftigt, das Bindegewebe weg zu
präparieren, um endlich etwas sehen zu können", so der Forscher.
Jahrzehntelang hielt man Faszien für so unnütz wie die Verpackung eines
Weihnachtsgeschenkes.
Stress verklebt die Faszien
Doch das Gegenteil ist der Fall. Faszien versehen
gute Dienste in der Haut, an Knorpeln, Knochen, Gelenken, Muskeln und
Organen. Sie sorgen für Zusammenhalt und Zugfestigkeit, aber auch für
Geschmeidigkeit und Gleitfähigkeit zwischen den Muskeln. Faszien
besitzen etwa sechs Mal mehr Nervenendigungen und mehr Schmerzrezeptoren
als das Muskelgewebe. Das macht das Bindegewebe zum größten Sinnesorgan
des Menschen.
Bewegungsmangel, chronische Anspannungen und Stress
können dazu führen, dass Faszien verkleben, wie der Wiener
Physiotherapeut, Osteopath und Rolfer Florian Beer erklärt. Sie werden
dicker und fester, wodurch sich die Aktivierungsmuster von Muskeln und
damit Bewegungsmuster verändern. Die verklebten Faszien beeinträchtigen
in der Folge auch die Körperwahrnehmung.
Die deutsche Forschergruppe hat den Einfluss von
chronischem Stress auf das Bindegewebe näher untersucht. Sie ist dabei
auf den Botenstoff TGF (transforming growth factor) gestoßen. Tests im
Organbad haben gezeigt, dass sich bei einem Anstieg des Botenstoffs die
Faszien kräftiger zusammenziehen, berichteten die Forscher um Schleip
erst jüngst im Fachblatt "Frontiers in Physiology". Bekannt ist, dass
sich TGF besonders bei Stress im Körper stark verändert.
Yoga oder Rolfing helfen
Gegen verklebte Faszien helfen Yoga, aber auch die
Faszienrollen. Die Spezialisten auf dem Gebiet der Faszien sind jedoch
die ausgebildeten Rolfer, die bestimmte Handgriffe einsetzen, um das
Bindegewebe wieder geschmeidig zu machen. Im Rahmen von zehn Sitzungen
wird zunächst versucht, die Faszien zu lösen. Dabei unterstützt man den
Patienten darin, sich in der Schwerkraft ökonomisch einzuordnen, sich zu
bewegen und festsitzende Körperregionen zu lösen und wieder in die
Bewegung zu integrieren. Im Zuge dessen kommt es zu einer aktiven
Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. Dem Körper wird zudem
eine freiere Atmung ermöglicht.
Doch bei der Therapie muss der Patient Geduld
aufbringen, denn das Bindegewebe passt sich wesentlich langsamer an als
Muskeln. Auch wenn sich Symptome durch eine Behandlung schnell legen
können, braucht der Körper für einen strukturellen und damit auch
nachhaltigen Umbau Zeit. Um sich an die neue Situation anzupassen,
brauche es etwa ein Jahr, meint Beer.
In Österreich leiden bis zu 70 Prozent aller
Erwachsenen mindestens einmal im Leben an Rückenschmerzen. Bei zehn
Prozent der Jugendlichen und 30 Prozent der 60- bis 70-jährigen sind die
Schmerzen chronisch. Nur in knapp 20 Prozent der Fälle seien die
Bandscheiben der Übeltäter, sagt Schleip: "Beim Rest heißt es ‚Ursache
unbekannt‘." "Chronische Schmerzen manifestieren sich mit der Zeit
zwangsläufig im Bindegewebe", so Beer. Die häufigste Ursache von
Schmerzen im myofaszialen System sind Überlastungen, die aus
Fehlbelastungen resultieren.
Ursachenforschung
Da verklebte Faszienhüllen deutlich dicker sind als
normale, lässt sich heute mittels Ultraschall feststellen, ob verhärtete
Muskeln oder dicke Hüllen den Schmerz verursachen. Die Forschergruppe
in Ulm entwickelt spezialisierte Geräte, etwa einen elektronischen
Tastfinger, die die Unterschiede besser erkennbar machen. Damit sollen
gezieltere therapeutische Empfehlungen möglich sein.
Carla Stecco von der Uni Padua konnte kürzlich einen
neuen Zelltyp, die Fasziazyten, als einen Schlüssel zur Geschmeidigkeit
identifizieren. Fasziazyten mit hohem Hyaluronsäuregehalt sind
geschmeidiger und erlauben eine bessere Beweglichkeit. Durch gezieltes
Training produzieren sie vermehrt Hyaluronsäure.
Bald könnten die Faszien auch in der Tumortherapie
eine Rolle spielen. Helene Langevin vom Osher Center for Integrative
Medicine der Harvard Medical School konnte im Tierversuch nachweisen,
dass bestimmte Dehnübungen eine antientzündliche Wirkung haben und dass
Krebszellen unter Faszientherapie weniger schnell wachsen. Die
Tumorausbreitung reduzierte sich um 52 Prozent, skizzierte Schleip und
merkt an: "In der Tumortherapie ist man als Therapeut mit einer
Verbesserungsrate von 18 bis 20 Prozent mehr als zufrieden."
Der Forscher ortet eine "wuselnde Aufbruchstimmung"
in seinem Fachgebiet. Die derzeitigen Studienergebnisse dürften erst der
Beginn einer noch spannenden Reise sein.
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