Montag, 25. Februar 2019

"...dass die Natur seltsam ist."

aus spektrum.de, 21.02.2019
 
Aus für analoge Quantentheorie
Niels Bohr und Louis de Broglie deuteten die Quantenphysik völlig unterschiedlich. Nun hat sich einer von beiden durchgesetzt - ausgerechnet dank Niels Bohrs Enkel.

Von Natalie Wolchover

2005 entdeckte ein Student im Labor des Strömungsphysikers Yves Couder in Paris per Zufall etwas Ver- blüffendes: Wenn winzige Öltropfen auf die Oberfläche eines vibrierenden Ölbades fallen, versinken sie nicht im Bad, sondern prallen daran ab. Anschließend hüpfen sie wie kleine Kaninchen auf der Flüssigkeit herum. Wie Couder feststellte, »surfen« die Tröpfchen sogar auf ihrer eigenen Welle: Beim Aufprall auf der Oberfläche schubsen sie die Welle an, und beim Abprallen an den Wellenbergen bewegen sie sich voran.

Als er die surfenden Tropfen beobachtete, erkannte Couder, dass sie eine frühe, weitgehend vergessene Vision der Quantenwelt zu verkörpern schienen: die des französischen Physikers Louis de Broglie. Vor einem Jahrhundert hatte dieser sich geweigert, auf ein klassisches Verständnis des Mikrokosmos zu ver- zichten. Dabei legten Experimente zu jener Zeit bereits nahe, dass die Realität im Quantenmaßstab nicht so ist, wie sie uns im Alltag scheint. Die damals vom dänischen Physiker Niels Bohr ins Leben gerufene »Kopenhagener Interpretation« der Quantenmechanik erklärte vielmehr, dass Dinge auf der Quantenskala erst dann »real« werden, wenn man sie beobachtet.

De Broglies Hadern mit der Wellenfunktion

Tatsächliche Gegebenheiten wie etwa der Aufenthaltsort eines Teilchens sind demnach bloß ein Produkt des Zufalls. Sie werden durch eine ausgedehnte Welle definiert, aus der sich mit den Methoden der Mathematik die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Ergebnisse ablesen lässt. Erst im Moment der Messung kollabiert die Welle auf mysteriöse Weise auf einen Punkt, an den dann das Teilchen springt.

In den 1920er Jahren überzeugte Bohr die meisten seiner Zeitgenossen von dieser probabilistischen Sichtweise auf das Universum. Mit ihr geht eine Unschärfe einher, die der Natur innewohnt, sowie die rätselhafte Dualität von Welle und Teilchen, von der man heute bereits in der Schule hört.

Aber einige Physiker wandten sich gegen diese Interpretation, darunter neben de Broglie auch Albert Einstein. Einstein bezweifelte, dass Gott »würfelt«. De Broglie bestand darauf, dass alles im Quanten- maßstab mit unserer Vorstellung der Wirklichkeit übereinstimmt und sich keine wesentlichen Informa- tionen hinter der für uns einsehbaren Realität verbergen. Er entwickelte eine Version der Quantentheorie, die sowohl die Wellen- als auch die Teilchenaspekte von Licht, Elektronen und allem anderen in diesem Sinne behandelte.

Seine Theorie sah konkrete Partikel vor, die stets eine klar definierte Position im Raum haben und die von so genannten Pilotwellen durch den Raum geführt werden – ähnlich wie die Wellen, welche 2005 die hüpfenden Tröpfchen von Yves Couder über die Oberfläche des Ölbads in Paris antrieben.

Das Rätsel der Pilotwellen

De Broglie konnte jedoch die physikalische Natur der Pilotwellen nicht erfassen, und er kämpfte damit, sein Konzept auf mehr als ein Partikel auszudehnen. Auf der berühmten Solvay-Konferenz 1927, auf der die Physiker-Koryphäen die Bedeutung der Quantenmechanik diskutierten, setzten sich Bohrs radikalere Ansichten durch.

De Broglies Pilotwellen-Theorie geriet danach in Vergessenheit. Erst 78 Jahre später entwickelten die Pariser Physiker um Couder mit ihrem Öltröpfchenexperiment ein »analoges System«, mit dem sich die Idee testen ließ. Dabei stellten die Forscher verblüfft fest, dass die Tröpfchen überraschend quantenartige Verhaltensweisen an den Tag legten. Zum Beispiel durchquerten sie nur bestimmte, »quantisierte« Bahnen, die um das Zentrum der Flüssigkeitsbäder verliefen. Und manchmal sprangen die Tröpfchen zufällig zwischen den Bahnen hin und her, so ähnlich, wie es Elektronen in Atomen tun.

Bald entstanden auch anderswo Labore, in denen Tröpfchen hin und her sprangen, etwa am Massachusetts Institute of Technology. Dort konnten Forscher dann sogar beobachten, wie das Öl durch Barrieren tunnelte und andere Kunststücke vollführte, die zuvor nur für Quanten denkbar waren. Für einige Physiker kehrte damit de Broglies alter Traum zurück: eine Quantenwelt, die von Pilotwellen und -partikeln anstelle von rätselhaften Wahrscheinlichkeitswellen beschrieben wird.

Aber eine Reihe neuer Ergebnisse, die seit dem Jahr 2015 aufgetaucht sind, machen den Traum nun zunichte. Diese Experimente deuten darauf hin, dass Couders markanteste Demonstration quantenähnlicher Phänomene in Öltröpfchen aus dem Jahr 2006 fehlerhaft ist. Wiederholungen des Experiments, eine Variante des berühmten Doppelspaltexperiments, stehen explizit im Widerspruch zu den ersten Ergebnissen von Couder. Sie zeigen sogar, wie das Doppelspaltexperiment sowohl die mutmaßlichen Quanten-Öltröpfchen als auch de Broglies Pilotwellen-Theorie zu Fall bringt.

Niels Bohrs Enkel und die Theorie seines Großvaters

Wahrscheinlich ist ausgerechnet Niels Bohrs Enkel die Person, die de Broglies Idee den größten Schaden zugefügt hat. Der Strömungsphysiker Tomas Bohr ist Professor an der Technischen Universität Dänemark. Als Kind grübelte er gerne über den Rätseln, welche die Arbeit seines Großvaters aufgeworfen hatte.

Video direkt anschauen auf  Youtube:


Tomas Bohr über das Doppelspaltexperiment mit Öltröpfchen
 
Vor sieben Jahren hörte er dann von Couders hüpfenden Tropfen und war gleich fasziniert. »Ich interessierte mich sofort brennend dafür, ob man wirklich eine deterministische Quantenmechanik entwickeln kann«, sagt er über seine Entscheidung, in dieses Forschungsfeld zu gehen. Angesichts seiner Familiengeschichte fügt er hinzu: »Vielleicht fühlte ich mich auch verpflichtet. Ich dachte, ich sollte wirklich versuchen festzustellen, ob es wahr ist oder nicht.«

Das Herz der Quantenmechanik

Der Physiker Richard Feynman sagte einst über das Doppelspaltexperiment: »Es ist unmöglich, absolut unmöglich, es auf irgendeine klassische Art und Weise zu erklären.« Für Feynman steckte »das Herz der Quantenmechanik« in dem Experiment, es sei geradezu das »einzige Geheimnis«, aus dem alles Weitere folgt.

In dem berühmten Experiment werden Partikel in Richtung einer Barriere mit zwei Schlitzen geschossen. Diejenigen Teilchen, die durch einen Spalt gelangen, treffen auf der anderen Seite der Barriere auf einen in einigem Abstand platzierten Bildschirm mit Sensoren. Wo ein Partikel einen Sensor trifft, ist jedes Mal überraschend. Aber wenn man viele Partikel in Richtung der Schlitze schießt, bilden sich nach und nach vertikale Streifen an einigen Punkten auf dem Schirm.

Das gilt gemeinhin als Hinweis, dass sich jedes Teilchen tatsächlich wie eine Welle verhält. Denn dann würde man erwarten, dass an den Schlitzen in der Barriere zwei Wellenfronten entstehen, die sich dahinter überlagern. Und an einigen Stellen addieren sich die Amplituden der Wellen, an anderen löschen sie die Welle aus. Oder in der Sprache der Teilchen: Teilchen können den Sensor nur an den Scheitelpunkten der Kopenhagener Wahrscheinlichkeitswelle treffen.

Noch seltsamer: Wenn man einen zweiten Sensor hinzufügt und misst, welchen Schlitz jedes Teilchen durchläuft, verschwinden die Interferenzstreifen – als ob die Wahrscheinlichkeitswelle zusammenge- brochen wäre. Diesmal laufen die Partikel direkt durch die Schlitze zu einem der beiden für sie erreich- baren Punkte auf dem fernen Sensor. Die Teilchen verhalten sich also nicht mehr wie Wellen, sondern wie kleine Kügelchen, die man durch eine der Öffnungen schießt.

Um das Doppelspaltexperiment zu erklären, wird ein Anhänger der Kopenhagener Deutung auf die inhärente Quantenunsicherheit hinweisen. Er würde argumentieren, dass die Bahn jedes Teilchens nicht genau bekannt sein kann und daher nur probabilistisch durch eine Wellenfunktion definiert ist. Nachdem die Wellenfunktion, wie jede Welle, durch beide Schlitze gegangen ist, überlappen sich die beiden Wellenzüge auf der anderen Seite. Der Sensorschirm wählt dann eine einzelne Realität aus den verfügbaren Möglichkeiten aus, und die Wellenfunktion »kollabiert«. Heraus kommt ein Punkt auf dem Bildschirm. Das wirft jedoch jede Menge Fragen auf, sowohl wissenschaftliche als auch philosophische; Niels Bohr, der dazu neigte, Fragen mit mehr Fragen zu beantworten, begrüßte das.

Für de Broglie erforderte die Deutung des Doppelspaltexperiments hingegen keine abstrakte, geheimnisvoll zusammenbrechende Wellenfunktion. Stattdessen entwickelte der Franzose das Bild eines echten Teilchens, das auf einer realen Pilotwelle surft. Wie Treibholz läuft das Partikel durch den einen oder anderen Schlitz im Doppelspaltsieb, auch wenn die Pilotwelle beide Öffnungen passiert. Auf der anderen Seite des Schirms fliegt das Teilchen dann dorthin, wo die beiden Wellenfronten der Pilotwelle konstruktiv interferieren.

Moderne Tests der De-Broglie-Theorie

De Broglie hat nie wirklich Gleichungen hergeleitet, um dieses komplizierte Zusammenspiel von Welle, Teilchen und Spalt zu beschreiben. Das hielt Couder und seinen Mitarbeiter Emmanuel Fort jedoch nicht davon ab, seine Theorie mit den hüpfenden Öltröpfchen zu überprüfen. 2006 berichteten sie in den »Physical Review Letters« von ihren erstaunlichen Ergebnissen: Nachdem sie die Bahnen von 75 springenden Tröpfchen durch eine Doppelspaltbarriere aufgezeichnet hatten, meinten Couder und Fort grobe Streifen an den Endpositionen der Tröpfchen erkennen zu können – ein interferenzähnliches Muster, das so aussah, als ob es nur von der Pilotwelle stammen könnte. Die Doppelspaltinterferenz, von der es hieß, sie sei »unmöglich auf klassische Weise zu erklären«, schien also ganz deutlich zu Tage zu treten.

Der Fluiddynamiker John Bush baute daraufhin ein eigenes Tropfenlabor am MIT auf und begeisterte andere Forscher für die Sache. Tomas Bohr hörte Couder im Jahr 2011 über seine Ergebnisse sprechen und diskutierte die Experimente später ausführlich mit Bush. Für eigene Studien tat er sich mit dem Experimentalphysiker Anders Andersen zusammen. »Wir waren wirklich fasziniert«, sagt Andersen.

Von da an kam die Sache ins Rollen: Bohrs und Andersens Gruppe in Dänemark, Bushs Team am MIT und eines unter der Leitung des Quantenphysikers Herman Batelaan an der Universität von Nebraska machten sich daran, das Springende-Tropfen-Doppelspaltexperiment zu wiederholen. Sie perfektionierten ihre Versuchsaufbauten, beseitigten Luftströmungen und ließen schließlich Öltröpfchen auf Pilotwellen in Richtung zweier Schlitze hüpfen. Doch keiner sah das von Couder und Fort gemeldete interferenzähnliche Muster. Die Tröpfchen gingen in fast geraden Linien durch die Schlitze, und es bildeten sich keine Streifen auf dem Schirm.

Die spektakuläre Messung des französischen Paars, die de Broglie zu bestätigen schien, gilt damit als fehlerhaft. Vermutlich haben äußere Störungen, fehlerhafte Auswertungsmethoden und zu kleine Stichprobengrößen das Ergebnis verfälscht. »Das Doppelspaltexperiment ist für mich eine Enttäuschung«, erklärt Paul Milewski, der Leiter der Abteilung für mathematische Wissenschaften an der University of Bath.

MIT-Forscher Bush hat seine detaillierten Doppelspaltstudien 2017 veröffentlicht. Sie enthalten keinen Hinweis auf Interferenzen. Aber er glaubt nach wie vor, dass es möglich sein könnte, ein Interferenzmuster mit Pilotwellen zu erzeugen. Man müsse nur die richtige Kombination von Parametern finden, etwa die richtige Frequenz für das vibrierende Flüssigkeitsbad, vielleicht sollte man auch eine Schallquelle hinzuschalten, um Störungen auszugleichen.

Milewski teilt diese Hoffnung. In der Arbeit der dänischen Gruppe, die ebenfalls keine Spuren der Pilotwellen-Effekte nachweisen konnte, präsentierte Tomas Bohr jedoch ein Gedankenexperiment, das de Broglies Pilotwellenbild im Grunde vollständig in sich zusammenstürzen lässt. In dieser hypothetischen »Gedankenversion« des Doppelspaltexperiments müssen die Partikel, bevor sie an der geschlitzten Barriere ankommen, auf die eine oder andere Seite einer zentralen Trennwand gelangen, die senkrecht zum Schirm zwischen den Schlitzen verläuft. Für die Standarddeutung der Quantenmechanik kann diese Wand sehr lang sein, denn die Wellenfunktion, in der die möglichen Pfade eines Teilchens stecken, kann sich auf beiden Seiten der senkrechten Trennwand ausbreiten. Die beiden Wellenzüge durchlaufen die Schlitze unabhängig voneinander und interferieren schließlich.

Trennwand im Doppelspalt 
Thomas Bohrs Variante des Doppelspalt-Experiments geht davon aus, dass man senkrecht zu den Spalten eine Trennwand einfügt. In der Kopenhagener Deutung bereitet sie keine Probleme, in der de-Broglie-Wellentheorie hingegen schon. 

Aber in de Broglies Bild, und ebenso bei den springenden Tröpfchenversuchen, kann sich die treibende Kraft des gesamten Experiments – das Teilchen – nur auf einer Seite der Wand befinden. Dabei verliert es zwangsläufig den Kontakt mit der Pilotwelle auf der anderen Seite der senkrecht zum Schirm angebrachten Barriere. Ohne Kontakt zum Teilchen beziehungsweise Tropfen geht der Wellenfront jedoch rasch die Puste aus; sie kommt lange vor Erreichen des Schlitzes zum Erliegen.

Ein Interferenzmuster kann es dadurch nicht geben. Die dänischen Forscher haben diese Argumente mittlerweile mit Computersimulationen verifiziert. Wieso Bush trotzdem weiter mit hüpfenden Tröpfchen herumprobiert? »Ich mochte Gedankenexperimente nie«, sagt er. »Das Schöne an der Situation ist doch, dass wir echte Experimente durchführen können.«

Dennoch hebt das Gedankenexperiment mit der Trennwand das inhärente Problem der Idee von de Broglie hervor: In einer Quantenrealität, die durch lokale Wechselwirkungen zwischen einem Partikel und einer Pilotwelle angetrieben wird, verliert man die notwendige Symmetrie, die für Doppelspaltinterferenzen und andere nicht-lokale Quantenphänomene benötigt wird. Für beides wird eine ätherartige, nichtlokale Wellenfunktion benötigt, die auf beiden Seiten jeder Wand ungehindert laufen kann. Aber Pilotwellen gäben das schlicht nicht her, so Tomas Bohr: »Da eine der Seiten im Experiment ein Partikel hat und die andere nicht, kommt das einfach nicht hin. Man verletzt zwangsläufig eine sehr wichtige Symmetrie in der Quantenmechanik.«

Eine Frage des Geschmacks

Manche Experten sind der Meinung, dass die einfachste Version von de Broglies Theorie zwangsläufig scheitern musste. Bei der Beschreibung einzelner Partikel, die von Pilotwellen geleitet werden, hatte de Broglie nicht die Möglichkeit berücksichtigt, dass mehrere interagierende Partikel in der Quantenphysik miteinander »verschränkt« werden können. Sie lassen sich dann durch eine einzige gemeinsame nichtlokale Wellenfunktion beschreiben. Ihre Eigenschaften sind in diesem Fall auch korreliert, wenn die Partikel Lichtjahre voneinander entfernt sind.

Seit den 1970er Jahren zeigen Experimente mit verschränkten Photonen, dass dieses Phänomen real ist und die Quantenmechanik damit nicht an den lokalen Determinismus gebunden ist. De Broglies Theorie hat jedoch ein Problem: Eine Theorie von Vor-Ort-Wechselwirkungen zwischen einem Partikel und seiner Pilotwelle nimmt eine höchst seltsame Gestalt an, wenn man so mehr als ein Teilchen beschreiben will.

Spektrum Kompakt:  Quantenphysik – Spukhafte Welt zwischen Welle und Teilchen

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Bis zu seinem Tod im Jahr 1987 wies de Broglie derartige Kritik an seiner Theorie zurück. Er war der festen Überzeugung, dass echte Pilotwellen schon irgendwie zur Verschränkung fähig seien. Einige Physiker, die Hüpfende-Tröpfchen-Experimente durchführten, haben diesen Traum lange geteilt. Aber mit Pilotwellen, die nicht einmal Doppelspaltinterferenzen bei einzelnen Partikeln erzeugen können, bricht er in sich zusammen, ganz wie eine Wellenfunktion in der Kopenhagener Deutung.

Schon früh, im Jahr 1952, hatte de Broglie eine Art Kompromiss angeboten: eine Version seiner Theorie, die er zusammen mit dem Physiker David Bohm entwickelt hatte und die heute als bohmische Mechanik oder De-Broglie-Bohm-Theorie bekannt ist. In diesem Bild gibt es eine abstrakte Wellenfunktion, die sich durch den Raum erstreckt und ähnlich mysteriös ist wie die Kopenhagener Variante. Der Theorie zufolge bewegen sich darin aber reale Partikel – und nicht die Welle-Teilchen-Zwitter aus der Kopenhagener Deutung.

Beweise in den 1970er Jahren haben gezeigt, dass die De-Broglie-Bohm-Theorie damit genau die gleichen Vorhersagen macht wie die Standardquantenmechanik. Mit den handfesten Teilchen entstehen jedoch neue Herausforderungen, etwa die, wie und warum die Wellenfunktion an bestimmten Stellen mit physikalischen Partikeln verbunden ist. »Die Quantenmechanik kommt aus dieser Perspektive betrachtet nicht weniger seltsam daher«, sagt Tomas Bohr. Die meisten Physiker sehen das ähnlich. Dennoch ist es bis heute eine Frage des Geschmacks, welche Theorie man besser findet – die experimentellen Vorhersagen sind identisch.

Tomas Bohr führt die Gewissheit seines berühmten Großvaters, dass die Natur auf der Quantenskala zwangsläufig bizarr ist, übrigens auf Niels Bohrs wichtigste physikalische Forschung zurück: 1913 berechnete Bohr die Energieniveaus im Wasserstoffatom. Er erkannte, dass, wenn Elektronen zwischen den Umlaufbahnen springen und quantisierte Lichtpakete freisetzen, kein mechanisches Bild mehr Sinn ergibt. Beispielsweise ließen sich die Energieniveaus der Elektronen nicht mit ihrer Bahnbewegung um den Atomkern in Verbindung bringen. Selbst die Kausalität scheiterte, weil Elektronen scheinbar schon vor einem Sprung wissen, wo sie landen werden, und dadurch ein Photon der richtigen Energie abgeben. »Er hat vermutlich deutlicher als die meisten anderen gesehen, wie komisch das Ganze ist«, erläutert Tomas Bohr. »Anders als die meisten anderen Menschen war er philosophisch veranlagt und daher bereit zu akzeptieren, dass die Natur seltsam ist.«

In den vergangenen Jahren hat sich Tomas Bohr oft gefragt, was sein Großvater über die Springende-Tröpfchen-Versuche gesagt hätte. »Ich denke, er wäre sehr interessiert gewesen«, sagt der Physiker und fügt lachend hinzu: »Er hätte vermutlich viel schneller als ich gewusst, was man davon halten soll. Und wäre sicher begeistert gewesen, dass man solch ein System nachstellen kann – schließlich kommt es dem, wovon de Broglie sprach, schon sehr nahe.«

Von "Spektrum der Wissenschaft" übersetzte und redigierte Fassung des Artikels "Famous Experiment Dooms Alternative to Quantum Weirdness" aus "Quanta Magazine", einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat. 


Nota. - Einen Kommentar mir zu verkneifen fällt mir nicht schwer; ich verstehe es ja nicht wirklich. Doch dass lineare Kausalität und Determination nicht retabliert werden müssen, glaube ich schon als Resümé fest- halten zu dürfen. Dass die Natur "seltsam ist", zeigt sich mit jedem Schritt, den man tiefer in sie eindringt. 

Seltsam nämlich für unser aus natürlicher Auslese und Anpassung in der Mesosphäre, in der allein wir exi- stieren können, erwachsenen Vorstellung. Der Modus unseres Vorstellens ist der analoge, die bildhafte Wie- dergabe. Unser begriffliches Denken dagegen ist digital, indem es in unanschaulichen Symbolen verfährt und bloße Bedeutungen re-präsentieren kann. Wir können daher Dinge begreifen, sie wir uns doch nicht vorstel- len können.
JE

Samstag, 23. Februar 2019

Wie die Elemente zur Welt gekommen sind.

Der planetarische Nebel M 57 ist mit chemischen Elementen angereichert, die einst in einem Stern durch kernphysikalische Prozesse entstanden sind. Gegen Ende seines Lebens blähte sich der Stern zu einem Roten Riesen auf und stiess seine äussere Hülle ab. Zurück blieb ein Weisser Zwerg im Zentrum des Nebels. Ähnlich wird auch die Sonne enden.
aus nzz.ch, 22.2.2019, 

Wie die chemischen Elemente auf die Welt kamen
Die chemische Vielfalt, der wir unsere Existenz verdanken, ist keine Selbstverständlichkeit. Ohne die Vorarbeit diverser Sterngenerationen wäre unser Universum eine ziemlich trostlose Angelegenheit.

von Christian Speicher

Für den Chemiker ist das Periodensystem auch nach 150 Jahren noch ein wichtiger Leitfaden. Es zeigt ihm auf einen Blick, welche chemischen Elemente ähnliche Eigenschaften haben und welche sich am besten miteinander kombinieren lassen. Die spannende Frage, woher die chemischen Elemente kommen, beant- wortet das Periodensystem aber nicht. Würde man die 118 Elemente nicht nach ihren chemischen Eigen- schaften sortieren, sondern nach ihrer Herkunft, so ergäbe sich ein ganz anderes Ordnungsschema. Genauso wenig kann das Periodensystem erklären, warum Elemente wie Sauerstoff, Silizium und Eisen häufig auf der Erde vorkommen, Gold, Platin und andere Edelmetalle hingegen äusserst selten sind. Um das zu ver- stehen, muss man weit ausholen und bis zu den Anfängen unseres Universums zurückgehen. 

Alles begann mit Wasserstoff 

Die Entstehung der chemischen Elemente beginnt mit der Synthese der ersten Atomkerne. Man bezeichnet diesen Prozess auch als Nukleosynthese. Diese setzte bereits wenige Augenblicke nach dem Urknall ein. Nach einer Hundertstelsekunde hatte sich das Universum so weit abgekühlt, dass aus der heissen Ursuppe Protonen und Neutronen (die Bausteine der Atomkerne) auskondensieren konnten. In der Folge verbanden sich die Neutronen und ein Teil der Protonen zu Helium- und sehr wenigen Lithiumatomkernen. Doch nach drei Minuten war Schluss. Die abnehmende Teilchendichte und die sinkende Temperatur im expandieren- den Universum verhinderten, dass durch Kernfusion schwerere Atomkerne entstehen konnten.

Wäre es dabei geblieben, wäre das Universum heute eine ziemlich eintönige Angelegenheit. Es bestünde vorwiegend aus Wasserstoff und Helium sowie Spuren von Lithium. Ein Planet wie die Erde hätte unter solchen Umständen nicht entstehen können – geschweige denn Leben. Doch mit der Geburt der ersten Sterne blühte das Universum auf.

Die ersten Sterne entstanden vermutlich 200 Millionen Jahre nach dem Urknall, als sich Wolken aus Wasserstoff und Helium unter dem Einfluss der Gravitationskraft zusammenballten. Vermutlich waren die Sterne der ersten Generation sehr massereich. In ihrem Inneren wurde die Materie so stark komprimiert und erhitzt, dass Wasserstoff- und Heliumatomkerne zu schwereren Atomkernen verschmelzen konnten. Als die Sterne am Ende ihres kurzen Lebens durch eine Supernovaexplosion in Stücke gerissen wurden, reicherte sich das bis dahin nur aus Wasserstoff und Helium bestehende Medium zwischen den Sternen mit relativ leichten Elementen wie Sauerstoff und Kohlenstoff und auch schon mit einigen schwereren Elementen an. Der erste Schritt zur chemischen Vielfalt war getan.

Cassiopeia A ist der Überrest eines massereichen Sterns, der vor 300 Jahren als Supernova explodierte. Dabei wurden auch jene Elemente ins All geschleudert, die der Stern zuvor erbrütet hatte
Die neu geschaffenen Elemente fanden Eingang in die Sterne der nächsten Generation, in denen dann durch Kernfusion weitere Elemente erbrütet wurden. Diese gelangten entweder durch eine Supernovaexplosion oder – bei masseärmeren Sternen – durch Sternwinde in den interstellaren Raum, und der nächste Sternzyklus begann. So wurde das Universum nach und nach mit immer mehr chemischen Elementen angereichert.

Auch das kann allerdings noch nicht die ganze Geschichte gewesen sein. Sonst gäbe es heute im Universum keine schwereren Elemente als Nickel und Eisen. Von allen Atomkernen haben Nickel und Eisen nämlich die grösste Bindungsenergie. Aus energetischen Gründen ist es deshalb unmöglich, durch Kernfusion noch schwerere Atomkerne in Sternen zu erbrüten. 

Die Leiter zu schweren Elementen 

Doch die Kernphysik kennt noch weitere Möglichkeiten der Nukleosynthese. In Sternen, die ihren Wasserstoffvorrat verbraucht und sich zu einem roten Riesen aufgebläht haben, können Atomkerne einzelne Neutronen einfangen, die bei vorherigen Kernreaktionen freigesetzt wurden. In der Regel werden die Atomkerne dadurch instabil. Das eingefangene Neutron wandelt sich durch einen Betazerfall in ein Proton um, wodurch sich die Ordnungszahl des Atomkerns um 1 erhöht. Auf diese Weise kann man sich Sprosse für Sprosse zu schwereren Elementen emporhangeln. Etwa die Hälfte aller Elemente jenseits des Eisens (bis Blei und Wismut) gehen auf das Konto dieses sogenannten s-Prozesses (s steht für slow). Dieser findet hauptsächlich in massearmen Sternen statt.

Um Edelmetalle wie Silber und Gold sowie Uran oder Plutonium zu synthetisieren, müssen sich Atomkerne jedoch sehr schnell sehr viele Neutronen einverleiben, bevor sie zerfallen. Dieser r-Prozess (r steht für rapid) erfordert viel höhere Neutronendichten, als man sie in roten Riesen vorfindet. Auch heute ist noch nicht restlos geklärt, wo dieser eher seltene Prozess stattfindet.

Wenn zwei Neutronensterne miteinander verschmelzen, werden durch den sogenannten r-Prozess radioaktive Atomkerne erzeugt, die anschliessend zerfallen und zu einem Helligkeitsausbruch führen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Kilonova.
Friedrich-Karl Thielemann von der Universität Basel tippt aufgrund von eigenen Computersimulationen auf verschmelzende Neutronensterne. Bestätigt sieht er sich durch eine Beobachtung, die vor knapp zwei Jahren für Furore sorgte. Damals hatten Astronomen gleichzeitig die Gravitationswellen und die elektromagnetische Strahlung von zwei verschmelzenden Neutronensternen aufgefangen. Die Auswertung der Daten zeige, dass bei diesem Ereignis mehr als 50 Erdmassen Gold entstanden sein könnten, so Thielemann. Nicht ausschliessen möchte er, dass der r-Prozess auch noch in anderen astrophysikalischen Objekten abläuft. 

Ungerechte Verteilung 

Als sich vor 4,5 Milliarden Jahren aus einer interstellaren Gaswolke unser Sonnensystem zusammenballte, war die gesamte Palette der chemischen Elemente bereits vorhanden. Auch ihr Mengenverhältnis war durch die kernphysikalischen Prozesse vorgegeben. Allerdings wurden die Elemente nicht «gerecht» auf die Sonne und die Planeten verteilt. So haben die Gasplaneten sehr viel Wasserstoff und Helium abbekommen. Auf der Erde sind diese flüchtigen Elemente hingegen unterrepräsentiert. Dafür dominieren hier Elemente wie Sauerstoff und Silizium, die auf anderen Planeten rar sind.

Auch mit Gold und anderen Edelmetallen ist die Erdkruste nicht gesegnet. Hingegen weiss man von einigen Asteroiden, dass sie reich an Edelmetallen und Metallen der Seltenen Erden sind. Der Grund dafür sei, dass die schweren Metalle aus der heissen Schmelze in den Erdkern abgesunken seien, bevor sich die Erdkruste gebildet habe, erklärt die Geochemikerin Maria Schönbächler von der ETH Zürich. Mehr als 99 Prozent des ursprünglich vorhandenen Goldes befänden sich heute im Erdkern. In kleineren und weniger heissen Protoplaneten habe diese Trennung von Metallen und Gestein hingegen nicht stattgefunden.

Bricht ein solcher Kleinplanet nach einer Kollision auseinander, bleiben metallreiche Asteroiden zurück. In ihnen kann die Konzentration von Edelmetallen so hoch sein, dass sogar ein Abbau in Erwägung gezogen wird. Den wenigsten Schatzjägern dürfte bewusst sein, welche Vorgeschichte diese Edelmetalle haben.

Freitag, 22. Februar 2019

Paarbildung im Atomkern.

Atomkern
aus scinexx

Paarbildung im Atomkern
Kurzlebige Überlappung von Proton und Neutron könnte 35 Jahre altes Rätsel lösen
 
Verborgene Wechselwirkung: Eine kurzlebige Paarbildung von Proton und Neutron im Atomkern könnte eine lange rätselhafte Diskrepanz klären. Denn Messungen zeigen, dass sich die Quarks solcher Kernbausteine anders verhalten als in ungebundenen Protonen und Neutronen. Dass dieser sogenannte EMC-Effekt durch starke Interaktion nur einiger weniger Kernbausteine zustande kommt, könnten Physiker nun in einem Experiment enthüllt haben. 

Sie bilden die Grundbausteine der Materie: Alle Atomkerne sind aus positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen zusammengesetzt. Diese Kernbausteine wiederum bestehen aus jeweils drei Quarks, die von den Gluonen der starken Kernkraft zusammengehalten werden. Soweit, so bekannt. Doch dieser Teilchenzoo zeigt einige überraschende Eigenheiten. So können einige Protonen im Kern zu „Ausreißern“ werden: Sie bilden gemeinsam mit einem Neutron ein kurzlebiges Paar, das mit hohem Impuls durch den Atomkern rast.

Rätselhafte Unterschiede

Noch seltsamer aber ist eine Beobachtung, die Physiker schon 1983 am Forschungszentrum CERN machten: Misst man die Impulsverteilung der Quarks in frei umherfliegenden Protonen und Neutronen, unterscheidet sie sich von der der Nukleonen im Atomkern. Dieser sogenannte EMC-Effekt widersprach der gängigen Theorie: „Man hatte erwartet, dass die Quark-Gluon-Unterstruktur der Kernbausteine unabhängig von ihrer Umgebung sein müsse“, erklären Barack Schmookler vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und seine Kollegen.

SRC-Paar
Proton-Neutron-Paare wie hier könnten das abweichende Verhalten der Quarks beim EMC-Effekt erklären.

Doch das ist nicht so, wie seitdem zahlreiche Versuche bestätigt haben. Stattdessen reagieren freie Protonen und Neutronen offenbar anders als im Kern gebundene. Aber warum? „Dafür gibt es zurzeit zwei Modelle“, erklärt Koautor Douglas Higinbotham von der Thomas Jefferson National Accelerator Facility. „Dem einen Modell nach sind alle im Atomkern gebundenen Nukleonen leicht modifiziert. Das andere besagt, dass die meisten Kernbausteine unverändert bleiben, aber einige dafür stark verändert sind.“

Bei dieser Veränderung bilden jeweils ein Proton und ein Neutron vorübergehend eine sogenannte Short-Range-Korrelation (SRC). Dabei interagieren die beiden Nukleonen so stark miteinander, dass ihre Strukturen kurzzeitig überlappen. Diese Wechselwirkung soll der Theorie nach ausreichen, um das Verhalten aller Nukleonen im Kern leicht zu verändern.

Atomkerne unter Beschuss

Doch welches der beiden Modelle trifft zu? „Bisher gibt es noch immer keine allgemein akzeptierte Erklärung für den EMC-Effekt“, sagen die Forscher. Sie haben deshalb mithilfe des Elektronenstrahls am Jefferson Lab erneut das Verhalten der Kernbausteine untersucht. Für ihr Experiment ermittelten sie die Elektronenstreuung der Atomkerne von Deuterium, Kohlenstoff, Aluminium, Eisen und Blei und rekonstruierten daraus Verhalten und Zustand der Kernbausteine.

Das Ergebnis: Offenbar liegen die Nukleonen im Atomkern nicht alle im gleichen Zustand vor, was das erste Erklärungsmodell widerlegt. „Denn dieses Modell besagte, dass die Quarks aller Protonen und Neutronen durch die Bindung im Atomkern langsamer werden“, sagt Schmookler. Doch das ist nicht der Fall: Zwar ist der größte Teil der Protonen und Neutronen unverändert, aber rund 20 Prozent der Nukleonen bilden kurzlebige SRC-Paare aus jeweils einem Proton und einem Neutron, wie die Physiker feststellten.

Paare schaffen mehr Platz für Quarks

Damit scheint klar, dass es die kurzlebigen SRC-Paare tatsächlich gibt – und dass sie offenbar in allen Atomkernen vorkommen. Denn die Physiker konnten Indizien dafür in allen getesteten Kernen nachweisen. Ihrer Ansicht nach bestätigt dies das zweite Erklärungsmodell des EMC-Effekts. „Wenn sich Protonen und Neutronen als SRC-Paare überlappen, haben die Quarks in ihnen mehr Platz“, erklärt Schmookler. „Deshalb bewegen sie sich langsamer als in einem freien Proton oder Neutron.“

Doch kann diese Paarung einiger Kernbausteine tatsächlich den EMC-Effekt erklären? Um das herauszufinden, entwickelten die Forscher aus ihren Beobachtungsdaten eine Gleichung, die den EMC-Effekt und die Zahl der möglichen SRC-Paare mit wachsender Atomkerngröße beschreibt. Es zeigte sich: Die errechneten Werte stimmten mit den im Experiment gemessenen überein. Wie vorhergesagt erhöhten sich mit steigender Kerngröße die Wahrscheinlichkeit für SRC-Paare und der EMC-Effekt.

Rätsel gelöst?

Nach Ansicht der Forscher könnte damit das 35 Jahre alte Rätsel um den EMC-Effekt gelöst sein. „Wir können nun mit einem physikalischen Prozess sowohl den EMC-Effekt erklären, als auch die Short-Range-Korrelationen“, sagt Higinbotham. Die von ihm und seinen Kollegen aufgestellte Gleichung verbinde alle Elemente des Rätsels auf schlüssige Weise. Sollte dieses Modell stimmen, hätte dies weitreichende Auswirkungen auf viele klassische Experimente in der Teilchenphysik – unter anderem zum Verhalten der Quarks.

Noch allerdings muss dies in weiteren Experimenten bestätigt werden, wie auch Koautor Lawrence Weinstein von der Old Dominion University in Norfolk einräumt: „Dies sind starke Hinweise auf eine Antwort, aber noch ist sie nicht definitiv.“ Die Physiker haben jedoch bereits damit begonnen, die nächsten Versuche vorzubereiten. Dabei wollen sie unter anderem die Quarkstruktur von ungebundenen Protonen mit der von Protonen in SRC-Paaren vergleichen. (Nature, 2019; doi: 10.1038/s41586-019-0925-9)

Quelle: DOE/Thomas Jefferson National Accelerator Facility

Donnerstag, 21. Februar 2019

Optische Täuschung durch Verzögerungs-Effekt.

Pinna-Brelstaff-Illusion
aus scinexx

Gehirn verarbeitet Scheinbewegungen bestimmter Illusionen verzögert 

Wahrnehmung auf Irrwegen: Warum sieht unser Gehirn mitunter Bewegungen, wo keine sind? Offenbar ist ein neuronaler Verzögerungseffekt verantwortlich dafür, wie Forscher nun am Beispiel der sogenannten Pinna-Brelstaff-Illusion herausgefunden haben. Demnach benötigen bestimmte Neuronen im visuellen Cortex für die Verarbeitung von Scheinbewegungen länger als für reale. Dies führt dazu, dass die Bewegung zunächst nicht als Illusion enttarnt werden kann.  

Unsere visuelle Wahrnehmung täuscht uns immer wieder Tatsachen vor, die nicht der Realität entsprechen. Dies lässt sich anhand von optischen Illusionen eindrücklich demonstrieren. Schauen wir uns zum Beispiel das oben gezeigte statische Bild an: Fixieren wir den Punkt in der Mitte und bewegen unseren Kopf langsam auf das Bild zu, scheinen die Kreise plötzlich zu rotieren. Doch welche neuronalen Prozesse liegen diesem als Pinna-Brelstaff-Illusion bekannten Täuschungsphänomen zugrunde?

Um dies herauszufinden, hat ein Forscherteam um Junxiang Luo von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Shanghai nun Versuche mit Makaken durchgeführt. Denn die Affen verfügen über ein ähnliches visuelles Verarbeitungssystem wie wir. Für ihre Studie trainierten die Wissenschaftler die Tiere zunächst darauf, ein Zeichen zu geben, wenn sie Rotationen in sich tatsächlich bewegenden Bildern wahrnahmen. Anschließend konfrontierten sie sie mit der Pinna-Brelstaff-Illusion – und auch hier sahen die Affen offenbar Rotationsbewegungen.

Dieselben neuronalen Muster

Damit war klar: Auch bei Makaken funktioniert diese optische Täuschung. Was aber passiert dabei in ihrem Gehirn? Dies konnten die Forscher im Detail beobachten, weil sie den Affen Elektroden implantiert hatten. Es zeigte sich: Genau jene Neuronen im visuellen Cortex, die reale Fließbewegungen wie Rotationen repräsentieren, feuern auch bei der Bewegungsillusion. Das heißt: Die Illusion wird im Gehirn zunächst wie eine echte Bewegung dargestellt.

Schuld daran ist ein Verzögerungseffekt, wie Luos Team herausfand. Bewegen wir unseren Kopf auf das Bild zu oder weg von ihm, nimmt unsere Retina lokale Bewegungsreize wahr. Diese Informationen werden von bestimmten Neuronen isoliert verarbeitet und an einen anderen Hirnbereich weitergeleitet. Die Neuronen im Empfänger-Areal müssen erst die einzelnen Bewegungssignale kombinieren, um schließlich das große Ganze zu erkennen – zum Beispiel, dass sich das Bild selbst nicht bewegt.

Verzögerte Verarbeitung

Dafür benötigen die Neuronen bei Scheinbewegungen jedoch deutlich mehr Zeit als normalerweise – die Verarbeitung der Reize dauert in diesem Fall rund 15 Millisekunden länger. Genau diese Verzögerung könnte den Forschern zufolge dazu führen, dass das Gehirn die scheinbare Bewegung des Bildes als reale Tatsache wahrnimmt und sie nicht als Illusion enttarnt.

Warum es zu dieser Verzögerung kommt, ist zwar noch unklar. Mit der Entschlüsselung dieses Effekts liefert Luos Team jedoch ein neues Puzzleteil, um das Rätsel um unsere visuelle Wahrnehmung – und ihre Schwächen – zu lösen. „Die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität zu erforschen, hilft uns, das visuelle Gehirn besser zu verstehen“, schließen die Forscher. (Journal of Neuroscience, 2019; doi: 10.1523/JNEUROSCI.2112-18.2019)

Quelle: Society for Neuroscience

JE

Mittwoch, 20. Februar 2019

Von der klassischen zur neuen Physik: Ludwig Boltzmann.

aus derStandard.at, 20. Februar 2019

Ludwig Boltzmann und das Ende der alten Physik
Am 20. Februar 1844 wurde mit Ludwig Boltzmann einer der bedeutendsten österreichischen Physiker geboren

von

Am 21. Jänner 1905 hielt der österreichische Physiker und Philosoph Ludwig Boltzmann einen Vortrag in der Wiener Philosophischen Gesellschaft, der schon im Vorfeld für Aufregung gesorgt hatte. Boltzmanndurfte nicht unter dem von ihm gewählten Titel referieren, und so stand in der Ankündigung, er würde "Über eine These Schopenhauers" sprechen.

Natürlich ließ er es sich aber nicht nehmen, seinen ursprünglichen Titel im Vortrag selbst zu nennen: "Beweis, dass Schopenhauer ein geistloser, unwissender, Unsinn schmierender, die Köpfe durch hohlen Wortkram von Grund aus und auf immer degenerierender Philosophaster sei". Entlehnt war dieser Verbalangriff freilich Schopenhauer selbst, der damit einst Hegel attackiert hatte – nicht, dass Boltzmann diesen hätte verteidigen wollen.

Die Reaktionen fielen bestenfalls verhalten aus. Diese Episode steht beispielhaft dafür, wie sehr Boltzmann als Physiker das philosophische Denken liebte, mit den Philosophen allerdings allzu oft in Streit geriet. Der am 20. Februar vor 175 Jahren in Wien geborene Boltzmann war ein Ausnahmephysiker, der nicht nur den Brückenschlag zwischen wissenschaftlichem und philosophischem Denken versuchte, sondern mit seinen Beiträgen als Mittelsmann zwischen klassischer und moderner Physik stand: Boltzmann war der Januskopf, der die klassische Physik mit seinen Arbeiten zur Thermodynamik vollendete.

Triumph und Tragik

Doch in genau dieser Vollendung lag auch der Neuanfang des nächsten Kapitels der Physikgeschichte: Die moderne Physik betrat ab 1900 mit Quantenmechanik und Relativitätstheorie die Bühne. Noch heute erinnert die Adresse der Fakultät der Physik der Uni Wien an ihn – die Boltzmanngasse. Auch die Ludwig Boltzmann Gesellschaft, eine Trägerorganisation für außeruniversitäre Forschung im Bereich Medizin, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, ist nach ihm benannt.

Wie nahe Triumph und Tragik mitunter nebeneinanderliegen, zeigt sich nicht zuletzt auch an Boltzmanns Leben selbst, das von großem Erfolg und Ansehen einerseits, von Krankheit und Depression andererseits geprägt war. 1869 trat er im Alter von nur 25 Jahren seine erste Professur an der Universität Graz an. Für den bald bedeutendsten Physiker des Landes gab es kaum einen Lehrstuhl, den er nicht haben konnte. An die Universität Wien wurde er gleich dreimal berufen: zweimal für Physik (zwischenzeitlich war er einem anderen Ruf gefolgt), schließlich für Naturphilosophie.

Ordnung im Chaos

Bereits als Student hatte Boltzmann 1866 eine Arbeit publiziert, deren Thematik Kernstück seines Lebenswerkes wurde: "Über die mechanische Bedeutung des zweiten Hauptsatzes der Wärmelehre". Einige Jahre zuvor hatte Rudolf Clausius den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik aufgestellt und den Begriff der Entropie geprägt. Anschaulich gesprochen, ist die Entropie ein Maß für die Unordnung. Gemäß dem zweiten Hauptsatz nimmt die Entropie in einem geschlossenen System im Laufe der Zeit zu. Anders gesagt: Wenn man nicht dagegen arbeitet, greift die Unordnung zunehmend um sich.

Boltzmann erkannte, dass er die Entropie eines makroskopischen Systems aus den Wahrscheinlichkeiten der Mikrozustände der Atome ableiten konnte. Dabei führte er statistische Berechnungsmethoden in die Physik ein, was sich später als wegweisend für die Quantenmechanik erweisen sollte.

Fesselnder Forscher

Unter seinen Studenten erfreute sich Boltzmann größter Beliebtheit, war er doch alles andere als ein langweiliger Lehrer. So erinnerte sich die Physikerin Lise Meitner, die als eine der ersten Physikstudentinnen der Universität Wien Boltzmanns berühmten Vorlesungszyklus 1902 bis 1905 hörte, ihr Leben lang gerne daran zurück: "Boltzmann hatte keinerlei Hemmungen, seinen Enthusiasmus zu zeigen; diese Tatsache riss natürlich seine Hörer mit. Es machte ihm auch sehr viel Spaß, Bemerkungen völlig persönlichen Charakters in seine Vorlesungen einzubringen." Für Meitner waren Boltzmanns Vorlesungen "die schönsten und anregendsten, die ich jemals gehört habe".

Boltzmann war glücklich mit einer ebenfalls physikalisch gebildeten Frau verheiratet: Henriette von Aigentler war die erste Frau, der es gegen alle Widerstände gelang, an der Universität Graz Vorlesungen in Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie zu besuchen – als außerordentliche Hörerin. Ein ordentliches Studium blieb ihr verwehrt, denn noch waren Frauen aus den Universitäten ausgeschlossen. Im Juli 1876 heiratete sie Ludwig Boltzmann, in den darauffolgenden Jahren kamen fünf Kinder in der Familie zur Welt.

Klavierstunden bei Bruckner

Boltzmann war ein Universalinteressierter, neben den Naturwissenschaften und der Philosophie widmete er sich auch begeistert der Literatur und Musik. Er verehrte Schillers Werke und nutzte, ganz seiner streitbaren Natur entsprechend, seine eigenen Schriften, um gegen die Rechtschreibreform von 1901 zu protestieren, die eine gemeinsame Orthografie aller deutschsprachigen Staaten festgelegt hatte: "durch schiller bin ich geworden, one in könnte es einen mann mit gleicher bart- und nasenform wi ich, aber nimals mich geben."

Als Schüler in Linz hatte Boltzmann Klavierunterricht von einem damals noch unbekannten Musikpädagogen erhalten, der später berühmt werden sollte: Anton Bruckner. Die Musik begleitete ihn auch im Alter, später musizierte Boltzmann gerne mit seinen Kindern.

Suizid in Duino

Doch Boltzmann war die meiste Zeit seines Lebens sehr unglücklich, er litt bisweilen unter schweren Depressionen, extremen Stimmungsschwankungen und verschiedenen körperlichen Leiden wie Migräne, Asthma, Nieren- und Blasenproblemen und Nasenpolypen. Im Mai 1906 wurde er wegen "schwerer Neurasthenie" beurlaubt und reiste nach Duino bei Triest, wo er den Sommer verbrachte. Am 5. September 1906, dem Tag vor der geplanten Heimreise, erhängte sich Ludwig Boltzmann im Alter von 62 Jahren im Hotelzimmer. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief.

Umso tragischer mag es erscheinen, dass Boltzmanns Suizid just in jene Zeit fiel, in der sich die moderne Physik zum Durchbruch anschickte. Auf so vielfache Weise hatte Boltzmann sie in seinem Denken vorweggenommen, etwa auch als vehementer Fürsprecher der realen Existenz von Atomen. Boltzmann war damit seiner Zeit voraus und verwickelte sich häufig in bitterste Auseinandersetzungen mit Kollegen, die ihm psychisch zusetzten, wie etwa auch die lapidaren Worte, mit denen sein Lehrstuhl-Vorgänger Ernst Mach Boltzmanns Plädoyer für die Existenz von Atomen wegzuwischen pflegte: "Ham S' ans g'sehen?" Erst durch die Entwicklung des Rastertunnelmikroskops 1981 hätte diese Frage endgültig mit Ja beantwortet werden können. 



Dienstag, 19. Februar 2019

Können Bienen rechnen?

Bienen können rechnen lernen
aus welt.de, 19. 2. 2019

Bienen können addieren und subtrahieren wie Erstklässler
Wer glaubt, Bienen summen nur herum und machen Honig, der irrt. Die Insekten erweisen sich als wahre Rechenkünstler und können tatsächlich Zahlen addieren und subtrahieren. Damit stechen sie sogar Vorschulkinder aus.

 

Von Schimpansen, Tauben und sogar Küken wusste man bereits, dass sie ein Verständnis für Zahlen, Mengen und bisweilen sogar einfache Mathematik haben. Vermeintlich primitiven Insekten hat man solche komplexen Fähigkeiten zunächst nicht zugetraut. Doch falsch gedacht! Honigbienen können Mengen von bis zu vier Objekten unterscheiden und verstehen sogar das abstrakte Konzept von Null als leere Menge – eine Fähigkeit, die wir Menschen erst ab dem Vorschulalter beherrschen. < Dasselbe Forscherteam von der RMIT-Universität in Melbourne, das Letzteres nachweisen konnte, ließ die kleinen Brummer nun erneut die Schulbank drücken und zeigte:

Nach etwas Training beherrschen Honigbienen einfache Mathematik wie subtrahieren und addieren.
Auch wenn fast jedes Kind weiß, dass 2+1=3 und 4-1=3 ergibt, erfordern solch einfache Rechenaufgaben kognitive Höchstleistungen. Denn sie beruhen auf zwei mentalen Prozessen.  

"Dazu muss man in der Lage sein, die Regeln für das Addieren und Subtrahieren im Langzeitgedächtnis bereitzustellen, während man eine Reihe vorgegebener Zahlen im Kurzzeitgedächtnis mental bearbeitet."
Adrian Dyer, erforscht visuelle Prozesse und Wahrnehmungen an der RMIT Universität
 
Für die Studie – veröffentlicht im Fachblatt „Science Advances“ – haben die Forscher 14 Honigbienen beigebracht, sich durch einen Parcours zu navigieren, bei dem sie eine Farbe mit einer Rechenaufgabe gleichsetzten und schließlich die Lösung durch das Fliegen durch ein bestimmtes Loch angeben mussten.


Konkret: Sahen die Bienen am Eingang blaue Quadrate, bedeutete das, sie sollten eins hinzurechnen. Waren die Quadrate gelb, mussten sie eins abziehen. Blau stand also für Addition, Gelb für Subtraktion. Die Anzahl der Quadrate variierte von eins bis fünf.

Nach dem Eingang gelangten die kleinen Rechenkünstler in eine Kammer, in der sie sich dann entscheiden mussten: An einem Ausgang stand die richtige Lösung, am anderen die falsche. Also beispielsweise drei Quadrate, wenn am Eingang zwei blaue hingen, zu denen laut der Regeln eins addiert werden musste. Lagen die Bienen richtig, bekamen sie zur Belohnung eine leckere Zuckerlösung. Hatten sie falsch gerechnet, gab es eine weniger schmackhafte, bittere Variante. 

So sah der Versuchsaufbau aus:

Bienen können rechnen lernen  
Quelle: RMIT University
 
Zunächst wählten die tierischen Probanden zufällig, durch welchen Ausgang sie fliegen würden. Doch ein Lerneffekt war im Laufe des Experiments erkennbar. Wie die Forscher in ihrer Studie schreiben, entschieden sich die Bienen zunehmend häufiger richtig. Nach 100 Durchgängen lag ihre Trefferquote bei 60 bis 75 Prozent – also weit mehr als reiner Zufall.

Die Versuche zeigen, dass Bienen lernen können zu rechnen. Die schlauen Brummer können verschiedene Mengen addieren und subtrahieren – und das sogar aus dem Gedächtnis, da sie die Rechenaufgabe nicht mehr sehen konnten, sondern nur noch die zwei möglichen Lösungen.

Die Forscher vermuten, dass die Rechenkünste den Bienen bei der Nahrungssuche hilft. Mengen abschätzen zu können helfe ihnen wahrscheinlich beim Sammeln von Futter.

Wie die Insekten diese enormen kognitiven Leistungen mit ihrem vergleichsweise kleinen Gehirn anstellen, wissen die Forscher bisher nicht. Ihre Studienergebnisse deuten aber darauf hin, dass numerische Fähigkeiten im Tierreich viel weiter verbreitet sein könnten als bisher vermutet.


Nota. - Dass die Bienen lernen können, mit anschaulischen Größen Denkoperationen vorzunehmen und sie sich sogar im Gedächtnis 'merken', ist bemerkenswert genug. Doch die Frage, ob sie einen 'Begriff' der Zahl 'entwerfen', liegt auf einer anderen wissenslogischen Ebene. Dieses ergibt sich nicht unmittelbar aus jenem.

Wir wissen ja nicht einmal, ob es im Bienenhirn eine Scheidung von Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis überhaupt gibt. Wir wissen nicht, ob es im Bienenhirn neben einem analogen auch einen digitalen Erinnerungsmodus gibt, usw. Dieses sprachliche Ungefähr ruiniert die Wissesnschaft. 
JE

Sonntag, 17. Februar 2019

Ist Information der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist?


aus spektrum.de, 7. 2. 2019

Weltbild der Physik
Die Entmaterialisierung der Materie geht zu weit
Physiker halten Information für den Urstoff des Universums. Wer genau darüber nachdenkt, stößt jedoch auf irritierende Widersprüche. Ein Essay.

Richard Feynman bemerkte einmal, auf die Frage, welche physikalische Aussage die größte Information in den wenigsten Wörtern enthalte: »Ich bin davon überzeugt, dass dies die Atomhypothese (…) wäre, die besagt, dass alle Dinge aus Atomen aufgebaut sind.« Dass materielle Dinge aus Atomen und diese aus weiteren Partikeln bestehen, gehört heute zum Kanon des naturalistischen Weltverständnisses. Nun fällt freilich an diesem Naturalismus zunehmend eine sonderbare erkenntnistheoretische Unschärferelation auf. Je tiefer nämlich das Verständnis der Materie, desto stärker verflüchtigt sich der Materiebegriff.


 Unser gewöhnliches Materieverständnis beruht auf einer Art Legomodell. Wenn wir ein Gebilde aus Legosteinen bauen, dann ist die Gesamtmasse die Summe der Legosteinmassen. Aber dieses lineare Modell erleidet bei der Anwendung auf Mikroobjekte Schiffbruch. Betrachten wir ein Zuckerstück (Monosaccharose) von einem Gramm Masse. Es besteht aus über 1021 »Legosteinen« oder Molekülen. Sie setzen sich aus Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasserstoffatomen zusammen, diese aus Elektronen, Protonen und Neutronen und die Protonen und Neutronen wiederum je aus drei Quarks. Der Hauptanteil der Zuckerstückmasse stammt von den Protonen und Neutronen. Aber die Quarkmasse beträgt etwa ein Prozent der Protonen- beziehungsweise Neutronenmasse. Woher kommen also die restlichen 99 Prozent?

Eine elegante und zugleich irritierende Lösung

Die Physik hat darauf seit Einsteins spezieller Relativitätstheorie eine Patentantwort: die Äquivalenz von Masse und Energie, eingefangen in der Ikonenformel: E = mc2. Deshalb kann die restliche Masse als Manifestation der Wechselwirkungsenergie der Quarks (und den Teilchen ihrer Wechselwirkung, den so genannten Gluonen) betrachtet werden. Eine elegante physikalische Lösung des Problems und eine irritierende zugleich: Das Stück Zucker besteht zum Großteil aus lokalisierter Energie.

Die Antwort irritiert, weil sie sofort die Frage provoziert: Energie von was? Darauf lässt sich ja nicht erwidern: Energie des Zuckerstücks. Denn so würden wir uns im tautologischen Kreis drehen. Wir lernten im Physikunterricht, dass eine Masse Energie »hat«, potenzielle etwa dann, wenn wir sie in eine erhöhte Lage heben; oder kinetische, wenn wir sie werfen. Genau diese Redewendung kehrt die Quantentheorie um, wenn sie sagt: Die Masse »ist« Energie, und zwar Energie eines zu Grunde liegenden »Etwas«, das den Raum erfüllt, zeitlich veränderbar ist und nur unter besonderen Bedingungen als lokalisiertes Teilchen in Erscheinung tritt. Dieses Etwas ist das Quantenfeld – ein Mischwesen aus Relativitätstheorie und Quantentheorie –, die wohl bizarrste Entität in der Geschichte der Physik.

Felder statt Teilchen

Die Geschichte des Feldbegriffs beginnt bereits bei Isaac Newton. Er stellte eine mathematische Theorie der Gravitation auf, basierend auf einem einzigen einfachen Gesetz. Es beschreibt die Stärke der Anziehungskraft zwischen zwei Massen, und zwar über beliebige Distanzen hinweg. Das Vertrackte an der Sache war für Newton, dass er eine mathematische Beschreibung von etwas fand, dessen Natur ihm zutiefst rätselhaft – letztlich absurd – erschien.

Das Gleiche erfuhren Michael Faraday und James Clerk Maxwell zwei Jahrhunderte später mit dem Elektromagnetismus. Faraday führte zum Verständnis dieser Wechselwirkung zwischen Ladungen Kraftfeldlinien als veranschaulichende Hilfsmittel ein, und Maxwell formulierte für die Dynamik dieser Feldlinien einen Satz von Gleichungen – ein Juwel der mathematischen Physik. Mit ihm lässt sich die ganze Fülle elektromagnetischer Phänomene berechnen. Aber wie bei Newton stellte sich die Frage: Was ist eigentlich Elektromagnetismus?

Die theoretischen Physiker neigen dazu, ihre Abstraktionen für die Realität zu halten

Physiker nach Maxwell suchten sie mit dem Vokabular der klassischen Physik zu beantworten, in der Sprache eines materiellen Substrats, des Äthers. Es gelang ihnen nicht, der Äther entpuppte sich als Phantom. Das war sehr verwirrend. Denn das elektromagnetische Feld ist etwas Reales, wir können es indirekt durch seine Wirkung auf geladene Körper nachweisen; oder auch dadurch, dass wir über Radio oder Handy Nachrichten empfangen.

Und wieder stellt sich die Frage: Schön und gut, aber was ist denn nun dieses »Etwas«, das allem zu Grunde liegt? Auf die Frage hatten die Physiker keine befriedigende Antwort. Sie sagten in ihrer Verlegenheit: Nun, Elektromagnetismus ist das, was die maxwellschen Gleichungen beschreiben.

Auf diese Weise konzipiert die moderne Physik die Materie. Sie setzt ontologisch an erster Stelle das Feld und nicht das Teilchen. Oder vielmehr: Felder und Teilchen sind identisch. Teilchen, auch ihre Eigenschaften wie Masse, Ladung oder Spin sind Manifestationen von Feldern, dem grundlegenden Substrat der Materie – letztlich einem mathematisch beschreibbaren Je-ne-sais-quoi.

Die kryptisch-geniale Formel »It from Bit«

Alle Dinge bestehen aus Atomen. In diesem Satz, schreibt Feynman, »werden Sie mit ein wenig Fantasie und Nachdenken eine Menge Informationen über die Welt entdecken«. John Archibald Wheeler, Doktorvater von Feynman, hatte viel Fantasie und nahm diese Aussage wörtlich. Information stellt für ihn nicht nur ein Mittel dar, die Welt zu entdecken, Information schafft überhaupt erst die Welt. Wheeler prägte die kryptisch-geniale Formel »It from Bit«: Etwas aus Information.

Was bedeutet das? Wheeler ließ sich von einem bekannten Gesellschaftsspiel inspirieren, dem »Twenty Questions«. Ein Spieler, der Fragesteller, verlässt den Raum und die restlichen Teilnehmer, die Beantworter, einigen sich auf einen Begriff, zum Beispiel »Rabe«. Der Fragesteller hat die Gelegenheit, den Begriff aus den Ja-oder-Nein-Antworten der Mitspieler zu deduzieren, und zwar hat er 20 Fragen zur Verfügung, etwa »Ist es lebend?«, »Fliegt es?«, und so weiter.

Wheeler ersann nun eine Variation dieses Spiels, deren Pointe darin besteht, dass sich die Beantworter gar nicht auf einen Begriff einigen, sondern ihre Antworten auf die vorgängigen Fragen und Antworten abstimmen. Sie dürfen nur nicht widersprüchlich sein. Aus maximal 20 Bits können also die Spieler durch fortgesetztes Fragen einen Begriff konstruieren, der am Anfang noch gar nicht feststeht. Aus den binären Fragen – den Bits – entsteht die definitive Antwort – das It.

Das entspricht recht genau der Situation in der Quantentheorie. Ihr zentrales theoretisches Element ist die Zustands- oder Wellenfunktion. Sie beschreibt das Spektrum der möglichen Werte beobachtbarer Größen – etwa Position, Energie, Spin. Nach einer heute mehrheitlich akzeptierten Interpretation, der Kopenhagener Deutung, enthält die Zustandsfunktion die vollständige Information – die Bits – über das betreffende Quantensystem: das It.

Quantentheoretisch existiert ein solches It erst nach der Messung – also nach der Interaktion mit einer Apparatur – in einem eindeutigen Zustand, so wie bei der wheelerschen Variante des Zwanzig-Fragen-Spiels der Begriff erst am Schluss feststeht. Klassisch sagen wir: Da ist ein Ding (ein Teilchen oder ein Objekt) in einem bestimmten Zustand – ein It –, und wir messen an ihm bestimmte Größen: Erst kommt die Realität, dann die Information. Bit from It.

Warum sollte die Enträtselung der Materie in einer ungeheuer langen Kette von Bits liegen?

Quantentheoretisch ist es umgekehrt. Hier sagen wir: Wir messen bestimmte Größen und schließen daraus, dass sich da ein Teilchen in einem bestimmten Zustand befindet. Erst kommt also die Information, dann die Realität. It from Bit.

Mit den Worten Wheelers: »Jedes Teilchen, jedes Kraftfeld, sogar das Kontinuum der Raumzeit leitet seine Funktion und Bedeutung, eigentlich seine ganze Existenz von den Antworten her, die der Apparat auf Ja-oder-Nein-Fragen gibt: binäre Entscheide, Bits.« Ein Lichtpunkt auf dem Bildschirm, ein elektrischer Puls, ein Klick im Detektor: Das sind die Antworten des Apparats, die Bits, die demnach die informationellen Atome der Realität darstellen. Schließlich sind sie die Basis, auf der wir den mutmaßlichen Kern der Dinge rekonstruieren.

Schwebt die Realität auf immaterieller Information?

Heißt das, dass die physikalische Realität auf fundamentalstem Niveau in der Existenzform immaterieller Information schwebt? Mitnichten. Es heißt in erster Linie, dass die theoretischen Physiker dazu neigen, ihre Abstraktionen für die Realität zu halten. Es stimmt durchaus, dass Physiker nicht Elektronen oder Photonen »beobachten«, sondern an Apparaten bestimmte Daten ablesen. Und zweifellos lassen sich solche Daten – zum Beispiel Punkte auf einem Bildschirm – als Bits auffassen. Aber Bits ohne Its – ohne irgendwelche materiellen Träger – sind nichts. Es gibt nur Bits-plus-Its.

Wenn wir die Punkte auf dem Bildschirm als die »letzten« immateriellen Informationsatome interpretieren, machen wir die Rechnung buchstäblich ohne die ganze materielle Welt des experimentellen Arrangements, das an der Entstehung der Punkte beteiligt ist. Wer »It from Bit« behauptet, müsste also erstmal erläutern, welche kausale Potenz denn in der immateriellen Information steckt, etwas Materielles zu erzeugen.

Diese Denkspur ließe sich weiter verfolgen ins Transzendente, nämlich dann, wenn man davon ausgeht, dass Fragen einen Fragenden, also ein Bewusstsein, voraussetzen. Der Apparat selbst stellt keine Fragen, ohne Beobachtung gibt es keine Realität. Also müsste am Anfang des Fragens, des Beobachtens, bereits »etwas« da sein, das Bewusstsein hat. Geist als Ursprung der Materie? Hier läuft die Formel »It from Bit« auf etwas hinaus, das beinahe wie das Johannesevangelium klingt: Am Anfang war das Bit. Und das Bit war bei Gott.

Die Bifurkation im naturphilosophischen Denken

Die Geschichte der modernen Physik ist eine Geschichte der Entmaterialisierung der Materie. Sie begann mit einer folgenreichen Bifurkation im naturphilosophischen Denken des 17. Jahrhunderts. Die ersten modernen Theoretiker der Materie – Galilei, Newton, Locke, Boyle – unterschieden zwischen primären und sekundären Eigenschaften der Körper, also zwischen quantifizierbaren und »bloß« qualitativen, auf die Sinne bezogenen Eigenschaften.

Wissenschaft könne nur von primären Eigenschaften handeln, weil allein sie die wirklichen, die »intrinsischen« Merkmale der Materie seien. Damit war die Geschichte der modernen Materie vorgezeichnet als die Geschichte der mathematischen »Vergeistigung« des Stoffs, schließlich kann man als Mensch mit den Sinnen nur die qualitativen Eigenschaften erfassen, nicht die quantitativen.

Dieser »Vergeistigung« begegnet der interessierte Laie heutzutage regelmäßig, wenn er sich über den neuesten Stand der Erkenntnis orientieren möchte. Er liest von seltsamen Gebilden wie Strings und p-Branen, von 26-dimensionalen Räumen und Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten mit exotischen Topologien, sogar von »It from Qubit«, was den Gedanken Wheelers noch weiter treibt. Ein Schwindel ergreift ihn: Was hat das noch mit der Materie zu tun, die wir aus dem Umgang mit den Alltagsdingen kennen?

Ist die Realität wirklich so losgelöst von dem, was wir Menschen logisch finden? Verstehen wir hier etwas ganz Grundsätzliches nicht? Jedenfalls fällt auf, dass die Theoretiker den Materiebegriff von seinem körperlich-sinnlichen Bezug so sehr »gereinigt« haben, dass sie nun offenbar glauben, die Fundamente des Universums in den abstraktesten Höhen irgendeiner »letzten« Theorie zu finden.

Aber warum eigentlich soll die Enträtselung der Materie in einer Hand voll mathematischer Gleichungen oder in einer ungeheuer langen Kette von Bits liegen? Das könnte sich als Irrglauben herausstellen, der dann wohl in der Idee des Atoms keimen würde: So wie wir nach allem Teilen schließlich auf das Unteilbare stoßen, so stoßen wir nach allem Fragen auf eine Endantwort? Vielleicht haut uns die Natur an dieser Stelle übers Ohr. Vielleicht liegt im Herz von allem nicht eine Antwort, sondern immer nur eine weitere Frage.

Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig.


Nota. - Die ganze Mystifikation kommt aus dem Wort Information. Wörtlich heißt es nur, dass ein Etwas X einem Etwas Y eine Gestalt (Form, 'Bestimmung', Gehalt?) "eingibt". Das lässt sich auf die mannigfaltigste Weise verstehen. Auf welche Weise - das ist es, worum es im einzelnen immer geht, aber das Etikett I. ver- kleistert alles.

Wenn ich dir was sage, gebe ich die reine Information; z. B. "Es ist halb drei". Du weißt jetzt etwas, was ich vor die wusste und letzt immer noch weiß. Wir teilen eine Information; aber nicht so, wass du einen Teil hast und ich den andern, sondern wir haben beide gleichviel, ohn dass es durch die Verdoppelung mehr geworden wäre.

Man sieht: Hier liegt das Problem, nicht aber in dem rein zufälligen Gehalt 'es ist halb drei'. Ich kann mir nun einbilden, dabei handle es sich um eine Vergeistigung des Gehalts. Es handelt sich aber um eine Mysti- fizierung des Akts: "eingeben".

*

Ich meine, ich redete von der Welt außer mir. Wer dort wem was eingibt, ist mir ebenso unzugänglich, wie die spezifische Bedeutung von eingeben in diesem oder jenem Fall. Ich kann mir höchstens 'ein Bild machen', dann das Geschehen in der Welt außer mir beobachten und prüfen, ob in dem Geschehen etwas vorkommt, was dem Bild, das ich mir gemacht habe, in einer gewissen (recte: weiterer Vergewisserung bedürftigen) Weise meinem Bild 'entspricht'. Zu dem Zweck stelle ich mit den Dingen in der Welt außer mir Versuche an, die mir neue Bilder sichtbar machen.

Information ist auf jeden Fall das Bild, das ich "eingebe". Das ist einziger Gegenstand der Philosophie, denn von ihm allein verstehe ich etwas: Ich habe es nämlich selber gemacht; verum et factum convertuntur. 

Die Naturwissenschaft will und kann auch gar nichts verstehen. Sie will wissen, ob ihre Modelle zutreffen, und das entscheidet sie daran, ob ihre Gleichungen aufgehen. (Dies als Nachtrag zum spekulativen Realis- mus.)
JE