Freitag, 28. Dezember 2018

Spekulativer Realismus.


aus derStandard.at, 28. Dezember 2018, 09:00

Philosophie zwischen Fiktion und Fakten
Der Philosoph Graham Harman hat eine launige Einführung über die neue Denkrichtung "Spekulativer Realismus" publiziert

Die zeitgenössische Philosophie ist von einer Kluft zwischen zwei Denkströmungen bestimmt, deren Vertreter nicht nur um tiefreichende, philosophische Fragen ringen, sondern völlig profan auch um Lehrstühle, Forschungsgelder und Prestige. Auf der einen Seite steht da die analytische Philosophie, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts, grob gesprochen mit einem Schwerpunkt auf Logik und Sprachanalyse zunächst vor allem im anglo-amerikanischen Raum an Einfluss gewonnen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks beziehungsweise des Ärmelkanals haben sich hingegen Denktraditionen durchgesetzt, die sich beispielsweise verstärkt auf Erfahrung und Hermeneutik stützen, als die analytischen Philosophen und von diesen abschätzig als "continental philosophy" (der deutsche Begriff Kontinentalphilosophie ist weniger geläufig) bezeichnet worden sind.

Spekulation und wissenschaftliche Fakten

Klarerweise lassen sich diese beiden Lager nicht klar von einander abgrenzen und sind in sich nicht einheitlich zu charakterisieren. Unter den Kontinentalphilosophen hat allerdings im vergangenen Jahrzehnt eine Denkströmung besonders viel Aufmerksamkeit, vor allem weil sie auf Themen gesetzt hat, die üblicherweise vor allem analytische Philosophen bearbeitet haben, der sogenannte Spekulative Realismus.

Dieser Begriff beinhaltet auf den ersten Blick bereits einen Widerspruch in sich und darf durchaus auch als Provokation verstanden werden: Spekulation und Fakten haben ja nicht immer das beste Auskommen miteinander. Freilich schon viel über den Spekulativen Realismus gesagt, geschrieben und publiziert worden, die Neuerscheinung von Graham Harman "Speculative Realism – An Introduction" nimmt dabei aber eine Sonderstellung ein.

Folgenreicher Workshop

Es war ein Philosophie-Workshop am Goldsmiths College der University of London im April 2007, bei dem der Spekulative Realismus gewissermaßen aus der Taufe geworden ist. Die vier Vortragenden des Workshops Ray Brassier, Iain Hamilton Grant, Graham Harman und Quentin Meillassoux gelten folglich als die ursprünglichen Vertreter des Spekulativen Realismus – und das obwohl sich Brassier, der den Begriff einst geschaffen hat, mittlerweile außerhalb der Bewegung positioniert. Harman ist nun der erste des einstigen Quartetts, der der neuen Denkströmung einführendes Buch gewidmet hat.

Darin stellt Harman nicht nur seine eigene Version des Spekulativen Realismus vor, sondern geht im selben Umfang auch jeweils auf die Theorien von Brassier, Grant und Meillassoux ein, wobei er nicht unbedingt zimperlich mit den Gedanken seiner Kollegen umgeht. Das ist freilich etwas unfair, wie Harman auch selbst im Vorwort zugibt, aber für seine Leserinnen und Leser durchaus unterhaltend: Wenn er sich etwa bei Brassier fragt, warum dieser angesichts seiner uneingeschränkten Verehrung für die Kognitionsforschung überhaupt noch als Philosoph betätigt und nicht schon längst Wissenschafter geworden ist.

Harman ist ein mitreißender Autor, nahezu im Plauderton führt er seine Leserschaft in das komplexe Verhältnis der Denker des Spekulativen Realismus mit wissenschaftlichen Fakten und den Naturwissenschaften ein – Bereiche, mit denen sich bislang eher analytische denn kontinentale Philosophen beschäftigt haben. (trat, 28.12.2018)

Graham Harman: "Speculative Realism – An Introduction", € 22 /190 Seiten, Polity, Cambridge 2018



Spekulativer Realismus 

Der Spekulative Realismus ist eine philosophische Strömung, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegen den „KorrelationismusKant und seiner Nachfolger stellt – also gegen die These, dass es nichts Seiendes gibt, zu dem es nicht auch einen subjektiven Zugang gibt – und wieder an Traditionen der klassischen Ontologie und des metaphysischen Realismus anknüpft. Im Zentrum der Arbeiten seiner Protagonisten steht nicht mehr die Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern die Ontologie der Objekte. Die von Kant postulierte Unerkennbarkeit der Dinge ist für den spekulativen Realismus keine epistemologische Begrenzung, sondern eine (zugleich notwendige und kontingente) ontologische Eigenschaft der Dinge selbst. Kontingenz herrscht auch in den Beziehungen zwischen den Dingen; in diesem Zusammenhang stellen die Spekulativen Realisten den Vorrang des Subjekts infrage.

Geschichte

Zu den Begründern der mehrere Denkansätze umfassenden Strömung, die sich auf einer Konferenz des Goldsmiths College der University of London im April 2007 öffentlich präsentierte, gehören Ray Brassier (damals Middlesex University, heute Amerikanische Universität Beirut), der sich allerdings selbst außerhalb der Bewegung sieht, Iain Hamilton Grant (University of the West of England), Graham Harman (American University in Cairo) und Quentin Meillassoux von der École normale supérieure in Paris.

Während Meillassoux zunächst den Begriff Spekulativer Materialismus (matérialisme spéculatif) präferierte, um seine Position zu kennzeichnen, verwendete Ray Brassier wohl in provokativer Absicht zuerst den Begriff Spekulativer Realismus.

Ausgangspunkt

Ein Ausgangspunkt des Spekulativen Realismus ist die Diagnose, dass sich auch die moderne Philosophie gegenüber den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften weitgehend ignorant verhielt und diese nicht als Ressource betrachtete. Der Konstruktivismus und die Linguistische Wende der Philosophie seit den 1960er Jahren hätten keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn mehr gebracht und seien der Beliebigkeit und Selbstrefenzialität anheimgefallen. Daher fordern die Vertreter des Spekulativen Realismus eine Anerkennung einer autonomen Realität, die vom Menschen und seinem Bewusstsein unabhängig ist. Die Philosophie müsse aufhören, sich nur für die Sicht des Menschen auf die Welt zu interessieren.
Vertreter und Positionen

Die Vertreter des Spekulativen Realismus beziehen im Einzelnen sehr unterschiedliche Positionen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Notwendigkeit des Denkens jenseits des Menschen postulieren.

Radikale Kontingenzlehre

Quentin Meillassoux von der École normale supérieure in Paris geht in seiner radikalen Kontingenzlehre davon aus, das nichts auf der Welt einen Grund hat. Während die materielle Natur auf den ersten Blick von bestimmten Gesetzen beherrscht werde (die sich aber ändern könnten), sei das Sein kontingent. Die Welt sei kein Rationalitätskontinuum; sie müsse keinen logischen Grund haben, nur weil die kognitive Struktur des Menschen es so fordere. Meillassoux verwirft damit nicht nur den Satz vom zureichenden Grund, sondern die Notwendigkeit der Existenz aller logischen Gesetze mit Ausnahme des Satzes vom Widerspruch (etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein).

Ein Ausgangspunkt seines Philosophierens ist das Paradox der arche-fossils, die für die moderne instrumentelle Wissenschaft zeigen, dass es ein Universum, eine Erde und organisches Leben lange vor dem menschlichen Bewusstsein gegeben habe; davor verschließe die Philosophie in der Nachfolge Kants immer noch die Augen. Für Meillassoux ist ein Grundzug der Transzendentalphilosophie Kants ihr Korrelationismus, eine Art des zirkulären Denkens, das die Unmöglichkeit eines gedanklichen Zuganges zu einem vom Denken unabhängigen Sein behaupte. 

Eine Implikation des Korrelationismus sei die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die besagt, dass die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und der Sache, auf die er sich bezieht, Wahrheit garantiere. Dieser Ansatz führe zu einer anthropozentrischen Sicht der Dinge, zu einer Weltsicht, die durch die menschlichen Vorstellungen kontaminiert werde. Demgegenüber postuliert Meillassoux die Existenz einer Realität, die ohne jeden Bezug zum menschlichen Denken und grundlos existiere. Daher kritisiert er auch eine weitere Implikation des Korrelationismus, nämlich die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die besagt, dass die a priori Übereinstimmung von erkennendem Verstand und der Sache, auf die er sich bezieht, Wahrheit garantiere.

Ontologie der Objekte

Im Mittelpunkt der Versuche der Begründung einer neuen realistischen Metaphysik oder Ontologie der Objekte durch von Graham Harman und Markus Gabriel stehen die Objekte innerhalb und außerhalb des Geistes, also auch die Gedanken über Objekte. Die Welt sei nicht gleichzusetzen mit der Natur, sie umfasse materielle und nicht-materielle Objekte.

Gabriel kritisiert Kants Position der Unerkennbarkeit der Welt (das „Ding an sich“) mit dem Argument, dass „die Welt“ als Totalität in Wirklichkeit nicht existiere; es gebe nur unzählige „Sinnfelder“, in denen die Gegenstände in bestimmten Fragestellungen erscheinen (z. B. unter dem Aspekt ihrer physikalischen Beschaffenheit, also in einem naturwissenschaftlichen Sinnfeld). Erkenntnis ist die angemessene Erfassung eines Gegenstandes innerhalb der Regeln eines Sinnfeldes. Alle Phänomene – egal ob materielle oder vorgestellte – werden gleich behandelt. Mit diesem ontologischen Pluralismus werde ein naturwissenschaftlicher Fundamentalismus ebenso wie ein rein konstruktivistischer Ansatz vermieden.

Harman akzeptiert die Position Kants, nach dem wir nur Zugang zu den Dingen haben, wie sie uns erscheinen. Allerdings geht die Wahrnehmung der Dinge für Harman, zu dessen Vorbildern Heidegger, Gilles Deleuze und Bruno Latour gehören, immer mit einem „Übersetzungsfehler“ einher. 

Entitäten oder reale Objekte sind für Harman autonom und können sowohl Tatsachen wie Gedanken über Tatsachen sein. Die Naturwissenschaften hielten es für naiv, reale Objekte als grundlegende Bestandteile der Welt aufzufassen – als Entitäten. In Wahrheit setzten sich die Objekte ihrer Ansicht nach aus Atomen, Molekülen, neuronalen Prozessen usw. zusammen. Genau das aber hält Harman für einen unzulässigen Reduktionismus: Ausgerechnet die Naturwissenschaftler glaubten nicht an die Phänomene, die man sehen könne, sondern nur an das, was man nicht sehen könne: Atome, Elektronen, Quarks, elektromagnetische Strahlung usw. Für Harman stellt das nur eine Regression in Form einer unendlichen Verschiebung dar.

Jedes reale Objekt verfügt nach Harman über zwei Seiten: über eine sinnliche, mit der es mit anderen Entitäten in Kontakt kommt, und über eine reale Seite, die sich allen Beziehungen und Relationen zu entziehen. Die Beziehungen des Menschen zu den ihn umgebenden Objekten sind nicht realer als die Beziehungen zwischen den Objekten. Das Objekt ist Harman zufolge außerdem kein umfassendes Ganzes, sondern weist eine vierfache konfliktreiche Struktur auf: das reale Objekt, das sich der Sichtbarkeit entzieht (die relativ dauerhafte Essenz), mit einem zeitlichen und räumlichen Profil, und das Eidos, das für den Betrachter je nach Entfernung usw. als wechselnde Oberfläche erscheint. Diese vierfache Struktur der Realität erkennt Harman nicht im Sein allgemein, sondern im jeweiligen realen Objekt, das zusammenhanglos neben anderen realen Objekten existiert.

Mit dem Spekulativen Realismus und seiner Ontologie der Objekte (Onticology, ein Term des US-Philosophen Levi Bryant) wird es möglich, über sinnliche Begegnungen zwischen jeglichen Entitäten zu sprechen. So untersucht Levi Bryant in seinem Werk The Democracy of Objects die „Macht“ und das „Potenzial“ von Objekten. Mit dieser Wende entfällt auch der bisherige Fokus der Ästhetik auf die menschliche Wahrnehmung, und die Interaktionen zwischen nichtmenschlichen Instanzen werden auch ästhetisch relevant (z. B. Interaktionen in und Wahrnehmungen von Computernetzwerken).

Auch der Italiener Maurizio Ferraris, der zunächst von Jacques Derrida beeinflusst war, nahm die Realität gegen die von ihm so bezeichnete Willkür des poststrukturalistischen Dekonstruktivismus in Schutz: Dieser würde das ontologische und das epistomologische Denken unzulässig vermengen. Auch den sozialen Objekten komme ein ontologischer Status zu; sie seien immer unabhängiger von den Handlungen einzelner und würden z. B. im Netzen dokumentiert, ohne sich auf „Text“ reduzieren zu lassen.
 
Kritik des anthropozentrischen Naturverständnisses

Die spekulativen Realisten kritisieren, dass die neuere europäische Philosophie und Wissenschaft teils von einem anthropomorphen Vitalismus gekennzeichnet sei. Für Meillassoux ist insbesondere der Tod eine vom Denken des Menschen über sich selbst völlig unabhängige Realität. Die von ihm so bezeichneten Vitalisten mit ihren anthropomorphen Projektionen eines verabsolutierten Geistes (wozu er Fichte und Hegel zählt) erkennen nicht an, dass der Mensch nur ein Ding unter vielen ist.

Für Iain Hamilton Grant, der von Gilles Deleuze beeinflusst ist und an Ideen Schellings anknüpft, den er materialistisch interpretiert, hat jedes Ding zwei Seite: eine in ihrer Singularität wahrnehmbare und eine nicht wahrnehmbare. Auch er kritisiert den Anthropozentrismus der Philosophie nach Kant und Fichte und die Verdrängung des Realitätsbegriffs aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Privilegierung des Menschen und die Vernachlässigung der anorganischen Realität in der Philosophie seien durch nichts zu rechtfertigen; die Natur entziehe sich der Erklärung durch menschliche Modellvorstellungen. Sie sei durch ihren material vitalism das eigentliche Subjekt, nicht der Mensch (sog. Neovitalismus).

Ray Brassier kritisiert an der modernen Philosophie, dass sie versuche, mit allen Mitteln den Einbruch des Nihilismus in die Welt zu verhindern und ihr Bedeutung zu verleihen. Er sieht sich eher in der Tradition des philosophischen Naturalismus, in der Gesetze herrschen, deren Sinn wir nicht erkennen können, und bestreitet, dass es sich beim Spekulativen Realismus um eine einheitliche Strömung handle.


Nota. - Das Kernpoblem ist bis heute, dass an den Universitäten die Transzendentalphilosophie allenfalls in ihrer beschränkten Kantschen Halbheit bekannt ist - zuzüglich mancher epigonaler Subtilisierungen, denen unversehens immer wieder dogmatische Rückfälle unterlaufen.

Es ist wahr, dass Fichte seinen Plan, die Kritische Philosophie radikal zu Ende zu führen, auf den letzten Metern aufgegben hat, so dass er heute selbst von Kennern in die Nachbarschaft Hegels gerückt wird wie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Doch da liegen sie schon bald zweihundert Jahre beieinander, die akademische Zunft hatte genug Zeit, die Mystifikation aufzulösen.

Die Transzendentalphilosophie bestreitet die Existenz der wirklichen Welt so wenig, wie sie sie behauptet. Das ist gar nicht ihr Thema, denn davon kann sie nichts wissen. Ihr Thema ist allerdings, warum es vernünf- tig ist - weshalb der Vernünftige gut daran tut -, in der realen (nicht der transzendentalen!) Erkenntnis ihre Existenz vorauszusetzen. Dass die "kontinentalen" Philosophierer wenig Notiz von den Resultaten der al- lerjüngsten Naturwissenschaften nehmen, mag wohl sein. Doch für die Philosophie haben deren Ergebnisse so wenig Relevanz, wie philosophisches Räsonnement für die Naturwissenschaften - es sei denn, im nega- tiven, regulativen Gebrauch.

Unterm Titel Die Wissenschaftslehre ist materialistisch und sensualistisch habe ich vor Jahren geschrieben: "Die Wissenschaftslehre verträgt sich nur mit einer Realwissenschaft, die streng materialistisch ist, das be- deutet aber nichts weiter als: die nichts anderes gelten lässt, als was sich in Raum und Zeit beobachten lässt. Doch weder sind die Realwissenschaften Metaphysik, noch ist es die Wissenschaftslehre."

Jedes Unternehmen, das geeignet ist, die selbstfällige Borniertheit der sogenannten Systematiker aus der sprachanalytischen Ecke in Verlegenheit zu bringen, kann man nur begrüßen. In positiver Hinsicht wird diese neue Richtung aber wohl mehr zu den reellen Wissenschaften beitragen können, als zur Philosophie. Zum Beispiel, wenn sie den Zufall rehabilitiert und die Naturgesetze als ein spiritualistische Überbleibsel entlarvt...
JE

 

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