Freitag, 14. Dezember 2018

Der Neanderthaler in deinem Kopf.

aus derStandard.at,13. Dezember 2018, 17:43                                               Neanderthaler lks., moderner Mensch r.

Wie Neandertaler-Gene unser Gehirn beeinflussen
Zwei bis vier Prozent der DNA heutiger Europäer und Asiaten stammen von Neandertalern. Forscher entdeckten darunter Gene, die Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung haben 

von David Rennert 

Zu den einzigartigen biologischen Merkmalen des modernen Menschen zählt definitiv sein Kopf: Im Vergleich zu früheren Menschenarten wie den Neandertalern haben wir eine ungewöhnlich runde Schädelform. Wissenschafter nehmen an, dass sich der "Rundkopf" bei unseren Vorfahren erst langsam entwickelte und er bedeutende Veränderungen in der Gehirnorganisation widerspiegelt. Womöglich hängen sogar spezifische Verbindungen verschiedener Gehirnareale und damit auch kognitive Fähigkeiten mit der veränderten Kopfform zusammen.

Ein internationales Forscherteam hat sich nun auf die Suche nach Genen und biologischen Mechanismen gemacht, die bei dieser Formwandlung eine Rolle gespielt haben könnten. Wie die Wissenschafter im Fachblatt "Current Biology" berichten, fanden sie dabei nicht nur bemerkenswerte Unterschiede zwischen heute lebenden Menschen, sie stießen auch auf DNA-Fragmente von Neandertalern, die nach wie vor einen Einfluss auf unsere individuellen Schädelformen haben.

Virtuelle Abdrücke

Dass viele von uns ein bisschen Neandertaler in sich tragen, wissen Genetiker schon länger. Genom-Vergleiche brachten ans Licht, dass zwischen einem und vier Prozent der DNA heutiger Europäer und Asiaten vom Homo neanderthalensis stammen – unsere Vorfahren haben sich vor mehr als 30.000 Jahren mit Neandertalern gepaart. Freilich trägt nicht jeder die gleichen Genfragmente in sich, Forscher schätzen daher, dass sich insgesamt an die 40 Prozent des Neandertaler-Genoms, verteilt über nichtafrikanische Populationen, bis heute erhalten haben.

Diesen Umstand machten sich Forscher um Philipp Gunz vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zunutze. Zunächst erstellten sie aus Fossilien mithilfe computertomografischer Aufnahmen virtuelle Abdrücke des Schädelinneren von Neandertalern und modernen Menschen. Anhand hunderter Messpunkte konnten die Wissenschafter die Gestalt der jeweiligen Gehirnschädel erfassen und vergleichen.
 

Im nächsten Schritt untersuchten sie mittels MRT-Gehirnscans auch die innere Schädelform mehrerer Tausend lebender Menschen. Das Zwischenergebnis: Alle Homo-sapiens-Gehirnschädel unterscheiden sich deutlich von denen der Neandertaler – das war nicht sonderlich überraschend. Allerdings gibt es auch erhebliche Formunterschiede zwischen den heute lebenden modernen Menschen.

Veränderte Genaktivität

Im nächsten Schritt fahndeten die Forscher im Erbgut der Studienteilnehmer nach Neandertaler-DNA, die in diesem Zusammenhang relevant sein könnte. Tatsächlich entdeckten sie auf den Chromosomen 1 und 18 Erbgutfragmente unserer ausgestorbenen Cousins, die mit einer länglicheren Kopfform in Verbindung stehen dürften. Wie sich herausstellte, verändern sie auch die Aktivität der Gene UBR4 und PHLPP1, die wiederum bei der Gehirnentwicklung eine Rolle spielen.

UBR4 ist unter anderem an der Bildung von Nervenzellen in der Großhirnrinde beteiligt. PHLPP1 ist in die Entstehung der sogenannten Myelinscheide, eine Schutzschicht von Nervenzellfortsätzen, involviert. "Die Auswirkungen dieser seltenen Neandertaler-DNA-Fragmente sind subtil, aber aufgrund der Stichprobengröße nachweisbar", sagt Studienkoautor Simon Fisher vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen und fügt hinzu: "Das ist nur der erste Blick auf die molekularen Grundlagen der Gehirngestalt. Wie andere Aspekte der Gehirnstruktur ist auch die rundliche Form ein Merkmal, das wahrscheinlich durch die kombinierten Wirkungen vieler verschiedener genetischer Varianten beeinflusst wird."

Einflussreiches Erbe

Rückschlüsse auf die geistigen Fähigkeiten von Neandertalern lässt die aktuelle Studie aber nicht zu, betonen die Wissenschafter. "Unser Fokus liegt allein auf der Erforschung der ungewöhnlichen Gehirnform des modernen Menschen", sagt Erstautor Gunz und warnt auch noch vor einer anderen Fehlinterpretation: Die Resultate würden nicht bedeuten, dass heutige Menschen mit länglicheren Köpfen genetisch "mehr Neandertaler" sind als andere.

Hinweise darauf, welche Folgen das genetische Erbe der Neandertaler sonst noch für uns hat, liegen inzwischen jedenfalls einige vor: So vermuten Wissenschafter, dass die im Vergleich zu Afrikanern höhere Anfälligkeit der Europäer für Herz-Kreislauf-Probleme ebenso darauf zurückgeht wie ihre effektivere Virenabwehr. Auch bei der hellen Hautpigmentierung und dem Fettstoffwechsel dürfte Homo-neanderthalensis-DNA mitmischen. (David Rennert, 13.12.2018) 

Abstract
Current Biology: "Neandertal introgression sheds light on modern human endocranial globularity"

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