Mittwoch, 5. Dezember 2018

Ein früh Gescheiterter.


aus derStandard.at, 5.12.2018

Späte Anerkennung für einen früh Gescheiterten
Edgar Zilsel war der wichtigste Wissenschaftshistoriker Österreichs. Ein Symposium erinnert an ein Hauptwerk des 1938 Vertriebenen

von Klaus Taschwer

Es kommt selten vor, dass eine französische Zeitschrift nach einem österreichischen Wissenschafter benannt wird. Noch sehr viel seltener passiert das mehr als 70 Jahre nach dessen tragischem Tod. Dennoch heißt ein halbjährlich erscheinendes Magazin für Wissenschaft, Technik und Gesellschaft seit 2017 schlicht "Zilsel". Das noch Erstaunlichere daran: Der Namensgeber ist auch in Österreich eher nur Spezialisten geläufig, obwohl Edgar Zilsel fraglos zu den originelleren Denkern Wiens in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis 1938 gehört – zu einer Zeit also, als die Konkurrenz an klugen Köpfen nicht gerade gering war.

Österreichs Hauptstadt war damals eines der führenden Zentren gerade auch der Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit der Psychoanalyse Freuds, der Entwicklungspsychologie von Charlotte und Karl Bühler, den pionierhaften Beiträgen zur Sozialforschung von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld oder der Philosophie des Wiener Kreises entstanden in der Stadt – wenn auch meist außeruniversitär – internationale wissenschaftliche Exportschlager.

Über das Gesetz der großen Zahlen

In diesem kreativen Milieu – genauer: im Umfeld des Wiener Kreises – war auch Edgar Zilsel tätig, der 1891 als Sohn eines Wiener Rechtsanwalts geboren wurde. Nach dem Gymnasium studierte der begabte junge Mann Philosophie, Mathematik und Physik, ehe er 1915 mit einem philosophischen Versuch über das Gesetz der großen Zahlen und die Induktion promovierte, der unter dem Titel "Das Anwendungsproblem" 1916 als Buch erschien.

Nach dem Studium begann Zilsel zunächst als Versicherungsmathematiker zu arbeiten, war aber von der "untheoretischen Beschäftigung wenig befriedigt", wie er in seinem Lebenslauf schrieb. Er arbeitete fortan als Mittelschullehrer. Die Lehramtsprüfungen für Mathematik, Philosophie und Physik holte er nach dem Krieg nach. Daneben arbeitete Zilsel seit seiner Promotion an einem mehrteiligen Buchprojekt zum Thema "Genie".

Kritik der rechten Massenverachtung

Der erste Band erschien 1918 unter dem Titel Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal. Zilsel rechnete darin philosophisch und psychologisch – sowie im Ton recht polemisch – mit der Anbetung großer Persönlichkeiten ab, die zu einem prominenten Topos rechter Denker geworden war. Deren Kult um "Ausnahmemenschen" wie Richard Wagner oder Friedrich Nietzsche ging mit einer Verachtung der Massen und die Demokratie einher.

Dieses zweite Buch des damals gerade 27-Jährigen fand damals zwar nicht allzu viel Resonanz. Genau hundert Jahre nach dem Erscheinen sind seine Diagnosen angesichts heutiger autoritärer Tendenzen und der Bewunderung für den "starken Mann" aber wieder höchst aktuell, wie Thomas Macho, Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK), und der Politikwissenschafter Günther Sandner (Institut Wiener Kreis, Uni Wien) befinden. Die beiden haben deshalb eine Tagung über Zilsel und die "Geniereligion" organisiert, die am Mittwochabend beginnt und Leben und Werk aus verschiedenen Perspektiven in den Blick nehmen wird.

Die Geniethematik ließ Zilsel, der 1918 der Sozialdemokratie beitrat, noch einige Jahre nicht los: 1923 beendete er dann die zweibändige Studie Die Entstehung des Geniebegriffs, mit der er sich an der Universität Wien für das Fach Philosophie habilitieren wollte. Doch als jüdischer und linker Forscher hatte er bereits zu dieser Zeit keine Chance mehr auf eine universitäre Karriere.

Skandalöse Uni-Zustände

Unmittelbar vor Zilsel scheiterte der Physiker Karl Horovitz ebenfalls mit seinem Antrag auf Habilitation. Die Art und Weise, wie das geschah, wirf ein bezeichnendes Bild auf die damals längst korrumpierten akademischen Zustände der Uni Wien: Horovitz wurde zwar von der Fachkommission einstimmig für bestens geeignet befunden. Am Tag vor der Abstimmung im Professorenkollegium, die für den 7. Dezember 1923 angesetzt war, erschien in der rechtsextremen "Deutschösterreichischen Tages-Zeitung" (DÖTZ) ein Artikel, in dem an die "arische Mehrheit" der Professorenschaft appelliert wurde, die Habilitation des "kommunistischen Juden" zu verhindern.

Unmittelbar vor der Abstimmung erinnerte der Dekan noch einmal an die "kommunistische Parteirichtung" von Horovitz, was von den anwesenden Physikern umgehend korrigiert wurde: Denn Horovitz war wie Zilsel Sozialdemokrat. Dennoch stimmte eine satte Mehrheit der Professoren (34 zu 20) gegen den Physiker. Horovitz' Proteste bei der Uni und im Ministerium blieben ohne Erfolg. Und bei der DÖTZ konterte man auf seinen Hinweis, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, höhnisch: "Der Herr Assistent und Doktor wird doch nicht im Ernste behaupten wollen, dass er aufgehört hat, Jude zu sein, weil er, obwohl als Jude geboren, konfessionslos geworden ist."

Mafiöse Machenschaften

Verantwortlich für diese mafiösen Machenschaften war eine geheime antisemitische Professorenclique namens "Bärenhöhle", die fast ausschließlich aus Geisteswissenschaftern bestand und an der Philosophischen Fakultät die Fäden zog. Zwei Mitglieder dieser Clique saßen auch in Zilsels Habilitationskommission und opponierten heftig gegen seine eingereichte Arbeit. Auf Drängen seines Lehrers Heinrich Gomperz sah sich der Habilitationswerber schließlich im Herbst 1924 genötigt, sein Ansuchen zurückzuziehen – es hätte im Professorenkollegium nie und nimmer eine Mehrheit gefunden. Damit endete eine weitere universitäre Karriere, ehe sie beginnen konnte.

Während etliche andere Opfer der antisemitischen Zustände an der Uni Wien bereits in den 1920er-Jahren emigrierten, widmete der damals 33-jährige Zilsel einen Gutteil seiner Energie den damals wissenschaftlich höchst innovativen Volkshochschulen, wo er der erste hauptberufliche Lehrer wurde. 

In den kaum 15 Jahren seiner Tätigkeit als Erwachsenenbildner hielt er mindestens 139 Semesterkurse aus verschiedensten Bereichen der Philosophie, Physik und Wissenschaftsgeschichte sowie mehr als 200 Einzelvorträge. Zilsel muss ein beeindruckender Redner gewesen sein: Nach einem Vortrag in Warschau meinte der Logiker und kurzzeitige polnische Bildungsminister Jan Łukasiewicz überwältigt: "Was für ein Intellekt!"

Ein weiteres Großprojekt

Dennoch fand Zilsel die Zeit, das Zeitgeschehen in einigen hellsichtigen Essays zu kommentieren und sich in ein weiteres Großprojekt zu vertiefen: Er wollte erklären, warum es ausgerechnet in Europa rund um 1600 zur Entstehung der modernen Naturwissenschaften kam. Doch noch vor der Publikation der wichtigsten Ergebnisse seiner jahrelangen Recherchen musste Zilsel 1938 mit seiner Frau und seinem Sohn aus Wien flüchten – zunächst nach England und von dort weiter in die USA.

Zilsel erhielt über die ebenfalls emigrierten Forscher des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Unterstützung, und im Laufe weniger Jahre erschienen in US-Fachzeitschriften zahlreiche Aufsätze, die Zilsel einen festen Platz in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung sicherten: In sowohl theoretisch wie auch empirisch fundierten Analysen, die später als "Zilsel-These" bekannt wurden, zeigte er, wie um 1600 zwei bis dahin getrennte Gruppen in Kontakt kamen: die Handwerker und die Schriftgelehrten der Universität. Und genau durch diese Verbindung von Hand- und Kopfarbeit konnten laut Zilsel die Methode des Experiments und damit die modernen Naturwissenschaften entstehen.

Späte Zilsel-Renaissance

Diese Texte fanden in den 1950er-Jahren einige einflussreiche Leser wie Joseph Needham. In den 1970er-Jahren setzte dann so etwas wie eine Zilsel-Renaissance ein: Seine Aufsätze zur Wissenschaftsgeschichte erschienen unter dem Titel Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft 1976 auch auf Deutsch. Und während in den folgenden Jahren auch noch seine Genie-Bücher neu aufgelegt wurden und zumindest zwei seiner Werke auch heute noch lieferbar sind (von der französischen Zeitschrift "Zilsel" einmal ganz abgesehen), sind die Verhinderer seiner Uni-Karriere wissenschaftlich längst in völliger Bedeutungslosigkeit entschwunden.

Zilsel selbst erlebte diese Anerkennungen freilich nicht mehr. Als entwurzelter akademischer Außenseiter und aus privater Verzweiflung – seine Frau litt an schweren Depressionen – beging Zilsel 1944 in Kalifornien Selbstmord. Sein durch und durch soziales Denken zeigte sich noch im Abschiedsbrief, den er auf dem Schreibtisch hinterließ: Falls der Hausmeister seine Leiche finden sollte, dann möge er bitte die beigelegten zehn Dollar als Entschädigung für den Schock behalten. 


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