aus nzz.ch, 1.9.2015, 05:30 Uhr
Ein philosophisches Gedankenexperiment
Ohne Zukunft keine Gegenwart
In einem nun ins Deutsche übersetzten Buch stellt der in New York arbeitende Philosoph Samuel Scheffler ein Gedankenexperiment an, das aufs Ganze geht: «Der Tod und das Leben danach».
von Uwe Justus Wenzel
Gedankenexperimente sparen Materialkosten und schonen die Gesundheit der Versuchspersonen. Mit ihnen versetzen die Experimentatoren die Probanden bisweilen in extreme Situationen, von denen her Licht auf das normale Leben fällt. Und – das ist ein weiterer Vorzug – die Versuchskaninchen können die Gedanken im Selbstversuch testen. Samuel Scheffler sinnt den Lesern seines nun ins Deutsche übersetzten Buches «Death and the Afterlife» ein solches Experiment an; es geht wahrlich aufs Ganze. Der an der New York University lehrende Philosoph nennt die Versuchsanordnung, nicht unzutreffend, «ein wenig morbid».
Ein Asteroid
Vorstellen sollen die Leser sich, sie wüssten, dass dreissig Tage nach ihrem Tod – ihr Leben würde von «normaler Dauer» gewesen sein – die Erde «durch eine Kollision mit einem riesigen Asteroiden vollständig zerstört» werde. Welchen Einfluss, so die Frage, hätte ein solches Wissen auf die Einstellungen der Betroffenen? Würden sie weiterhin wie gewohnt tun, denken und fühlen, was sie bisher taten, dachten und fühlten? Scheffler – das verwundert nicht – lässt die Leser (zunächst waren es die Hörer seiner Tanner Lectures in Berkeley) nicht selbst antworten oder Rückfragen stellen. (Eine – zwar nebensächliche – Frage wäre: Wieso ausgerechnet dreissig Tage?) Was er ihnen zu denken nahelegt, ist unter anderem dies: Kaum jemanden werde das Wissen vom Untergang der Welt gleichgültig lassen, obschon die eigene Lebensspanne ja nicht verkürzt werde. Anders gesagt: Nur wenige würden nach dem Motto «Nach mir die Sintflut!» leben.
Eine andere Reaktion hält Scheffler für ebenso unwahrscheinlich, die des Homo oeconomicus. Fast niemand werde Kosten und Nutzen zu kalkulieren versuchen, um zu ermitteln, ob der Weltuntergang eine schlechte oder eine gute Sache sei – und dies, obgleich nicht von vornherein ausgemacht sei, dass das Negative das Positive überwiege, da es schliesslich nach dem Ende von allem auch kein Leid, kein Elend, keinen Schmerz mehr geben werde. Die meisten, so ist sich der Experimentator sicher, wären unversehens tief betroffen, entsetzt, verzweifelt, bestürzt.
Das düstere Licht, in das das Szenario die Menschenwelt taucht, zeigt deren Bewohner, wie sie – auch emotional – nicht mehr bei der Sache sind, wie ihnen insbesondere die Gründe und Motive ausgehen, um sich in langfristigen Projekten zu engagieren, wie ihnen aber auch die Lust vergeht, Dinge um ihrer selbst willen zu tun . . . Umso heller jedoch hebt sich allmählich das wirkliche Leben ausserhalb des Gedankenlaboratoriums ab. Es wird deutlich, wie sehr Menschen ganz selbstverständlich in Aktivitäten involviert sind, die die Grenzen des unmittelbaren Eigennutzes überschreiten; Scheffler erwähnt mehr als einmal die Krebsforschung, aber auch andere Unternehmungen, deren Früchte die jeweils Beteiligten selbst kaum ernten werden (wie etwa den Klimaschutz).
Zudem konturiert sich eine Art allgemeiner Wertkonservatismus als Wesensmerkmal: Menschen möchten, so der Autor, dass das, woran ihnen liegt, auch nach ihrem Tod fortexistiere und fortgeführt werde. Mehr noch: Wir verlassen uns normalerweise allenthalben und unausgesprochen darauf, dass nach uns keine Sintflut kommt – und wir müssen es können. Könnten wir uns darauf nämlich nicht mehr verlassen, verlören wir das Vertrauen in den Wert von sehr vielem, was wir tun – und wir täten es nicht mehr. Das wiederum bedeutet: Mindestens ebenso sehr wie die, die nach uns kommen oder noch da sein werden, von dem abhängen, was wir tun, sind wir – jetzt und immer schon – darauf angewiesen, dass das Leben nach unserem Tod ohne uns weitergeht. Dies kollektive Weiterleben der Menschheit ist das «Leben nach dem Tod», von dem das Buch handelt und das Scheffler gewissermassen zur notwendigen Bedingung der Möglichkeit eines – sinnhaften und guten – Lebens vor dem Tode erhebt.
Schritt für Schritt und in analytischem Duktus wird der Grundgedanke angereichert und gegen Einwände verteidigt, die sich mehr oder weniger aufdrängen. Auch wenn manche Details «akademisch» und auf den ersten Blick an den Haaren herbeigezogen anmuten mögen: Beinahe jedes gespaltene Haar hat – sozusagen – eine «existenzielle» Tönung, die das Bild vervollständigt. Einer der Zweifel am Gehalt des Gedankenexperiments spricht sich in der Vermutung aus, es sei gar nicht das angekündigte Verschwinden der Menschheit, das uns entsetze, sondern es sei allein der vorzeitige Tod geliebter Menschen (Partner, Kinder, Kindeskinder, Freunde). Um den Verdacht zu entkräften, es werde da nur eine «partikularistische», mithin letztlich doch egoistische Einstellung sichtbar, variiert Scheffler die Versuchsanordnung – und zwar mithilfe des dystopischen Romans «The Children of Men» von P. D. James (1992). Das Endzeit-Szenario der britischen Autorin verzichtet auf einen Asteroiden: Eine allgemeine Unfruchtbarkeit verdammt das Menschengeschlecht zum Untergang, aber – und darauf kommt es Scheffler an – keiner der geliebten Menschen muss vor der Zeit sterben. Apathie macht sich dennoch breit, die Gesellschaft zerfällt.
Eine Fristerstreckung
Nicht leicht macht Scheffler es sich mit dem Leben nach dem Tod im landläufigen Sinn – mit dem Gedanken, wir lebten nach unserem Tod irgendwie «persönlich» weiter. Zwar ist für ihn ausgemacht, dass die, die das glauben, eine «falsche Überzeugung» hätten. Dennoch aber vermag er die Motive eines entsprechenden Glaubens nachzuvollziehen – wie etwa die Hoffnung, geliebte Personen wiederzusehen, oder das Verlangen nach allgemeiner Wiedergutmachung und Gerechtigkeit. Er erkennt darin manche Gemeinsamkeit mit dem Vertrauen auf das Weiterleben der Menschengattung. Überzeugt jedoch ist er davon, dass dieses weltliche Vertrauen in höherem Masse als der «traditionelle» Glaube an ein «jenseitiges» Leben nach dem Tod die Voraussetzung dafür sei, dass uns hier und jetzt etwas überhaupt etwas bedeute.
Warum aber macht uns die Tatsache, dass die Menschheit in the very long run verschwinden und die Erde verglühen wird, in aller Regel weniger aus als die Konfrontation mit einem baldigen Ende allen menschlichen Lebens? Auch dieser Frage weicht Scheffler nicht aus. Seine Antwort indes lässt zu wünschen übrig. Er vermutet, dass wir «ganz einfach nicht wissen, wie wir mit Begriffen wie ‹das Ende des Universums› oder ‹Millionen von Jahren› umgehen sollen oder wie sie zu verstehen sind». – Können wir da wirklich nichts verstehen? Eine Verständnishilfe bietet womöglich eine Überlegung, die Robert Spaemann verschiedentlich vorgebracht hat. Sie ist freilich mit einer Art Gottesbeweis aus dem Futurum exactum verbunden und lässt sich ultrakurz so zusammenfassen: Wenn alles im Nichts endet, wird alles nichts gewesen sein. Wenn aber das, was jetzt und hier ist, dereinst nicht gewesen sein wird, dann ist es bereits jetzt und hier nicht wirklich und nicht wahr. Ohne ein «absolutes Bewusstsein», das auf immer «aufbewahrt», was gewesen sein wird, hätte mithin nichts, was jetzt und hier ist, Bedeutung.
Im Lichte dieses Gedankens erscheint das Argument Samuel Schefflers als Ausdruck der Hoffnung auf eine zwar Jahrmillionen währende, zuletzt aber doch vergebliche Fristerstreckung.
Nota. - "Moral ist Zuordnung eines Augenblickszustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand", sagt Ulrich im Mann ohne Eigenschaften.
Die Erwartung, dass es ewig so weiter geht, ist die profanste Variante von der Vorstellung, dass die Welt - und das Leben in ihr - einen Sinn hat: Wenn an alles, was sich tue, sich eine unendliche Kette von Folgen fügt, dann wird mein Leben am Ende jedenfalls nicht umsonst gewesen sein.
Ergänzen wir die Versuchsanordnung um dieses Partikel: Die Menschheit stirbt zwar aus; aber danach kommen alle Taten und Unterlassungen auf einen Tisch, werden sortiert und gewichtet, und eine höhere Intelligenz außerhalb von Raum und Zeit zieht eine allerletzte Bilanz. Das Szenario ist bekannt, nicht war?
Nur die Fiktion von irgendetwas Absolutem kann meiner kurzen Existenz einen Sinn verleihen, um dessentwillen es sich lohnt, ein Leben lang stets und immer wieder die Wahl zu treffen zwischen dem Richtigen und dem Falschen; denn ohne dies wäre Alles gleich gültig und ich könnte mich meinem Stoffwechsel überlassen und meinen Leibesregungen.
Das könnte immer noch das Leben eines Krämers werden; jedenfalls so lange ich nicht kühlen Bluts der Tatsache ins Aug blicke, dass es doch immer nur eine Fiktion sein kann.
JE
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