Sonntag, 20. September 2015

Ob der Mensch sich selbst entwirft?


 aus nzz.ch, 20. 9. 2015

Bilden, optimieren, perfektionieren
Über neue Menschen, Bioingenieure und Transhumanisten
Wollen wir überhaupt noch Menschen sein? – Diese Frage drängt sich angesichts einiger wissenschaftlich-technischer Bestrebungen und Visionen der Gegenwart auf.

von Konrad Paul Liessmann

Alles wird besser. Auch der Mensch. Schon vor der Geburt beginnen die Optimierungsprogramme, die dafür sorgen sollen, dass später umfassend Kompetenzen angeeignet, Begabungen erkannt und Höchstleistungen erbracht werden können. Der Körper wird trainiert und modelliert, richtige Ernährung, leistungssteigernde Nahrungsergänzungsmittel und eine langfristigeAnti-Aging-Strategiesorgen für effiziente Nutzung der physischen Ressourcen, kleine Defizite und Verfallserscheinungen werden durch die ästhetische Chirurgie, grössere durch künstliche Implantate und intelligente Prothesen korrigiert. Das Hirn wird umfassend gefördert, mit chemischen Substanzen gedopt, mit digitalen Informations- und Kommunikationsmedien kurzgeschlossen, die Seele wird durch Psychopharmaka von allen Irritationen befreit und durch permanente Kontrolle im Gleichgewicht gehalten. Am Ende solcher Optimierungsprozesse steht die Version eines perfekten, transhumanen Wesens, das reibungslos funktioniert und dem alles Menschliche fremd geworden ist.

Giovanni Pico della Mirandola

Noch sind wir nicht so weit. Aber unser Bild vom Menschen hat sich grundlegend gewandelt. Was der Mensch ist, wissen wir in einem ontologischen oder anthropologischen Sinn heute weniger denn je. Begriffe wie «Exzentrizität» oder «Mängelwesen» haben ihre Plausibilität verloren, im Grunde lässt sich Menschsein nur als offenes Projekt beschreiben. An die Stelle vermeintlicher anthropologischer Gewissheiten treten Modelle und Konzepte, die den Menschen immer wieder neu denken. Aktuell arbeiten wir am Entwurf des perfekten Menschen. Es geht um die Verbesserung und Veränderbarkeit des Menschen in einem neuen Sinn: Nicht durch Erziehung und Bildung, nicht durch Moral, Aufklärung und eine humanistische Kultur soll die Verbesserung des Menschengeschlechts erreicht werden, wohl aber durch Technik und Genetik.


Am Beginn jener Bilderkette, die den Menschen als das Wesen zeigt, das sich selbst überhaupt erst entwerfen und gestalten muss, steht die Renaissance-Anthropologie des Humanisten Giovanni Pico della Mirandola, der die universelle Autoplastizität des Menschen gelehrt hatte. In seiner grandiosen Rede über die Würde des Menschen aus dem Jahre 1486 lässt Pico della Mirandola Gottvater zu seinem Geschöpf sagen: «Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen.»

Man mag das als Beginn der neuzeitlichen Hybris des Menschen zur Selbstermächtigung und auch Selbstschöpfung deuten oder als vertiefte Reflexion jenes Verdachts, der den Menschen umtreibt, seit er über sich nachdenkt: dass er dasjenige Wesen ist, das sich selbst immer erst herstellen muss. Zumindest seit Nietzsches Bemerkung, dass der Mensch das «nicht festgestellte Tier» sei, gehört die Annahme einer fundamentalen Plastizität und Weltoffenheit des Menschen zu den Grundüberlegungen der modernen philosophischen Anthropologie. Vergessen wird, dass Nietzsche diese Offenheit als Symptom einer «krankhaften Entwicklung» gewertet hat. Günther Anders allerdings, der Autor der «Antiquiertheit des Menschen» und einer der schärfsten Kritiker der technischen Zivilisation, hatte diesen Befund in jungen Jahren auf den Punkt gebracht, als er von der «Pathologie der Freiheit» des Menschen sprach und diese mit dem eleganten Satz charakterisierte: «Künstlichkeit ist die Natur des Menschen, und sein Wesen ist Unbeständigkeit.»*

Die Möglichkeiten des Menschen, sich selbst immer wieder neu zu bestimmen und zu entwerfen, das nicht zuletzt von Nietzsche propagierte Pathos der Selbstschöpfung – «Wir sind die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden» – hatte nicht nur eine stark ästhetische Ausrichtung, sondern fand im Ich auch den entscheidenden Massstab: «Wir aber wollen die werden, die wir sind.» Man kann diesen Anspruch des modernen Menschen auf permanente «Selbsterfindung» als ein Projekt der «Autoinvenienz» bezeichnen; der Akzent läge dabei aber auf dem poetisch-kreativen Umgang mit den Möglichkeiten der Selbstgestaltung.

«Human Enhancement»

Die aktuellen Debatten, die weniger das ästhetische Potenzial als vielmehr die technischen Möglichkeiten der Veränderung des Menschen sehen, sprechen denn auch lieber von «Human Enhancement» und zielen ebenso auf die Optimierung des menschlichen Körpers und seiner Leistungsfähigkeit wie auf die Möglichkeiten, geistige und emotionale Dispositionen zu verbessern. Mithilfe technischer, chemischer, chirurgischer oder auch genetischer Veränderungen, Eingriffe und Ergänzungen sollen vorhandene Fähigkeiten verbessert und vor allem beschleunigt werden: Das Gedächtnis soll leistungsfähiger werden, mehr Informationen sollen in kürzerer Zeit verarbeitet werden, der Mensch soll sich schneller bewegen und ausdauernder werden, er soll seine Gesundheit, das heisst die entsprechenden Werte – Puls, Blutdruck, Fettablagerungen usw. – optimieren, er soll überhaupt länger leben, weniger schlafen und sich richtig ernähren.

Während Nietzsches Prozess der Selbstschaffung noch den kreativen Überschuss, die Verausgabung, die Verschwendung und den dionysischen Rausch kannte, dominieren im Konzept der Selbstoptimierung das rational verbrämte Kalkül der Effizienz und der olympische Gedanke: citius, altius, fortius – schneller, höher, stärker. Es wundert so wenig, dass der Sport auch als Experimentierfeld für die Möglichkeiten des Human Enhancement betrachtet werden kann. Doping in all seinen Varianten zeigt, wie weit wir es bringen können.

Geht es um die Verbesserung des Menschengeschlechts, sind unserer Phantasie schon seit langem wenig Grenzen gesetzt. Den meisten dieser Konzeptionen liegt die Überzeugung zugrunde: Der Mensch, wie er ist, soll oder wird verschwinden. Wie dies zu bewerkstelligen ist – darüber gehen die Phantasien allerdings auseinander. Grob lassen sich zwei «Denkschulen» unterscheiden: Einmal die der Bioingenieure, denen es um die Verbesserung des genetischen Ausgangsmaterials des Menschen geht, zum anderen die der Transhumanisten, die vor allem mithilfe der künstlichen Intelligenz den Menschen überhaupt durch Maschinen ablösen wollen.

Die Konzeptionen einer biologischen und genetischen Optimierung des Menschen erinnern natürlich an die eugenischen Projekte der jüngeren Vergangenheit. Anders als in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts setzt eine moderne liberale Eugenik allerdings nicht auf zentrale Steuerung und gewaltsame Durchsetzung genetischer Züchtungsutopien, sondern der Einzelne, vor allem also die Eltern, sollen nach dem Modell eines freien Marktes jene Optionen ergreifen und zur Optimierung ihrer Kinder nutzen, die durch die biomedizinischen Technologien schon bereitgestellt worden sind bzw. in naher Zukunft noch bereitgestellt werden könnten. Die Medizin hört auf, in erster Linie Krankheiten zu therapieren und Defizite oder Mängel auszugleichen, sondern wird zu einer Technik, der es wesentlich um die Optimierung des gesunden Menschen geht, um die Steigerung seiner Fähigkeiten: Das gesunde Auge wird nun geschärft, das gesunde Gehirn gedopt, der gesunde Körper perfektioniert, die gesunde Seele auf zusätzliche Belastbarkeit programmiert, das gesunde Leben verlängert, weit über bisher bekannte Lebensspannen hinaus, vielleicht bis zur physischen Unsterblichkeit.

Funktionale Unsterblichkeit

Die andere Fraktion setzt demgegenüber auf die Ablösung der biologischen Evolution durch die Weiterentwicklung der Maschinen. Das Konzept des Cyborgs, des durch implantierte komplexe Technologien optimierten Mensch-Maschine-Mischwesens, wird dabei zunehmend überboten von der Vision transhumaner Wesen, die entweder aus den von Menschen entwickelten Robotern entstehen sollen oder aus der Möglichkeit, Bewusstsein und damit die Identität des Menschen vollständig digital abzubilden, zu speichern und so einer neuen Existenzform zuzuführen, die, ganz nebenbei, das Malaise der Leiblichkeit und die damit verbundene Endlichkeit des Menschen überwinden soll.

Dass gerade unter Vertretern der sogenannten Zukunftstechnologie die ganz alte Vorstellung einer möglichen Trennung von Geist und Körper wieder in den Vordergrund rückt, mag verwundern, entspricht aber nur der Beobachtung, dass wir auch mit avanciertesten technischen Möglichkeiten immer wieder auf historisch verbürgte Konzeptionen zurückgreifen. Die Idee, Bewusstsein lasse sich maschinell reproduzieren und einer funktionalen Unsterblichkeit zuführen, wie sie von dem aus Österreich stammenden amerikanischen Computerwissenschafter Hans Moravec formuliert wurde, liesse sich auch als säkularisierte gnostische Erlösungssehnsucht lesen. Hinter den Träumen vom Cyborg, gar von der reinen Maschine, der virtuellen «Superintelligenz», steht womöglich dieselbe Leibfeindlichkeit, für die das Christentum – zu Recht oder zu Unrecht – gegeisselt worden war.

Am Ende dieser Optimierungsphantasien steht also die Ablösung des Menschen durch von ihm geschaffene perfekte Entitäten, von denen nicht gesagt werden kann, ob sie als Vollendung oder Überwindung des Projektes «Mensch» gedacht werden sollen. Die von Ray Kurzweil, zurzeit Forschungsdirektor bei Google, propagierte «Menschheit 2.0» deutet nicht nur durch die modisch gewordene Versionsnummer an, dass der Mensch in seiner durch die Evolution hervorgebrachten Form als ein fehlerhaftes Programm gedeutet wird, das seine Optimierung erst im transhumanen Raum erfahren wird.

Schöpfungsphantasien

Das Warten der technophilen Transhumanisten auf die «Singularität», also jenen Moment, in dem der rasante technische Fortschritt vor allem im Bereich der Computer- und Nanotechnologie zum Entstehen von «nichtbiologischen, dem Menschen überlegenen Intelligenzformen» führen wird – Formen einer Intelligenz, die schliesslich das ganze Weltall durchdringen und «Gott ziemlich nahe» kommen werden –, demonstriert allerdings weniger technischen Sachverstand als eine naive Allmachtsphantasie. Dass manch einem Verkünder solch einer strahlenden transhumanen Zukunft dann dabei doch etwas mulmig zumute wird, zeigt sich an jener Konzeption der «Superintelligenz», die der schwedische Philosoph und Enhancement-Theoretiker Nick Bostrom mit Angstlust entworfen hat und zu deren Eigenschaften es durchaus zählen könnte, unter der Perspektive der eigenen Selbstoptimierung alle dabei störenden Faktoren wie etwa die Menschen auszurotten.

Abgesehen von der Frage, wie realistisch in einem technischen Sinn diese Szenarien sind, verbergen sich, wenn auch im Gewand einer technizistischen Rhetorik, dahinter mitunter uralte Sehnsüchte des Menschen: nicht nur im Sinne Pico della Mirandolas zum Schöpfer seiner selbst zu werden, sondern zum Schöpfer eines anderen, überlegenen Wesens. Von den belebten Statuen der Antike über die Automaten des mechanischen Zeitalters bis zur Kreatur, die der junge Frankenstein schuf, reichen die mythischen und literarischen Antizipationen, die den Menschen in zutiefst ambivalenten Situationen zeigen: Schöpfer eines Geschöpfs zu sein, dessen er nicht mehr Herr wird.

Wer heute nach dem Menschen fragt, fragt immer auch danach, ob wir überhaupt noch Menschen sein wollen. Sein Glück, so liesse sich pointiert formulieren, findet der rezente Mensch nur in den Bildern seines Nichtmenschseins. Das Bild, das der moderne Mensch von sich zeichnet, ist also immer schon durchgestrichen. Die zeitgenössische Antwort auf die Frage «Was ist der Mensch?» lautet: «Das, was nicht sein soll.» – Vielleicht ist es an der Zeit, den Menschen, dieses fragile und fragliche Wesen, das nach älteren Lesarten immer zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Geist und Körper, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Natur und Kultur schwanken muss, zumindest gegenüber den Gebildeten unter seinen Verächtern zu verteidigen.

Konrad Paul Liessmann hat eine Professur am Institut für Philosophie der Universität Wien inne. Beim vorliegenden Text handelt es sich um das gekürzte Manuskript des Vortrags, den der Autor zur Eröffnung des 19. Philosophicum Lech am 17. September 2015 in Lech am Arlberg gehalten hat.

*) "La nature de L'homme est l'artificiel." Emmanuel Mounier


Nota. - Alles richtig, nur leider auf den Kopf gestellt. Human enhancement ist keine historische Fortent-wicklung des Selbsterfindungs-Plans von Pico, Fichte, Nietzsche und den Existenzialisten, sondern der Gegenentwurf dazu. Was immer die Enhancer ihren Homunculis einbauen mögen - das spezifische Huma-num, das poietische Vermögen, wird nicht darunter sein. Ihr technokratisches Menschenbild wird nicht scheitern an Liessmanns heimlich resignierendem Modell vom zu-voll-geschriebenen Blatt, sondern, wenn überhaupt, am Bild des Homo poieticus.
JE



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