Montag, 14. September 2015

Keine Angst vor Intuition und Einfachheit.

Tatiana Trouvé, Untitled 2007

Sybille Anderl berichtet in der gestrigen FAZ (13. 9. 15) über eine wissenschaftliche Tagung zum Andenken des unlängst verstorbenen Nobelpreisträgers für Physik Charles H. Townes. Sie schreibt:

...Der Eröffnungsvortrag der Tagung lieferte einen Überblick sowohl über die wissenschaftlichen Errungenschaften als auch über die menschliche Seite dieses Ausnahmewissenschaftlers. Paul F. Goldsmith vom Jet Propulsion Laboratory beschrieb seinen verstorbenen Doktorvater als inspirierenden, ungewöhnlich vielseitigen Wissenschaftler mit erstaunlichem Verständnis für plausible Fragestellungen und mögliche Lösungen. Goldsmith endete seinen Vortrag mit einer Aufzählung von drei Dingen, die er aus der Arbeit mit Townes gelernt hatte. Neben den Fähigkeiten, andere mit eigenen Ideen wissenschaftlich zu inspirieren (“bounce ideas off other people”) und wissenschaftlichen Problemen mit Optimismus zu begegnen, stolperte ich beim Zuhören über folgende Lektion Townes:

„Always try to find the simplest model or picture of the problem on which you are working. Don’t be embarrassed by having a simple idea. But don’t be intimidated if you have to go to something more complicated, as long as you understand what is going on and why the simple model does not work.“  

Man sollte nach Townes also immer versuchen, das einfachste funktionierende Modell oder Bild für das Problem zu finden, an dem man grade arbeitet. Heißt das also mit anderen Worten, dass das einfachste Modell meist das beste ist? Ist es nicht vielmehr so, dass die einfachsten Modelle diejenigen sind, die sich am meisten von der komplexen Realität unterscheiden? Je einfacher das Bild, desto mehr Vereinfachungen und Idealisierungen sind schließlich am Werk, desto “falscher” ist in diesem Sinne das Modell. Mit der sprichwörtlich für ein zu einfaches Modell stehenden “sphärischen Kuh” kommt man bekanntlich nicht weit, wenn man wissen will wie man eine Kuh melkt. Ist man in unseren heutigen Zeiten der leistungsstarken Großrechner wirklich noch darauf angewiesen, einfache Modelle zu finden, wenn man auf der anderen Seite physikalische Systeme in aufwändigen Simulationen im Detail modellieren kann?

Charles Townes und der erste Maser
Im obigen Zitat ist allerdings gleich auch der Hinweis darauf enthalten, warum die Dinge vielleicht nicht ganz so einfach sind, und warum komplexere Modelle nicht automatisch immer besser sein müssen als einfache: es hat mit dem Anspruch zu tun, verstehen zu wollen, “was los ist”. Damit ist zunächst natürlich gemeint, dass man versteht, warum sich ein physikalisches System in einer bestimmten Weise verhält. Es ist aber auch gemeint, dass man versteht, wann welches Modell angemessen ist, was ein Modell leisten kann und was nicht, wann ein Modell an seine Grenzen stößt und warum. Dass man zum Beispiel die Kuh vielleicht noch als Kugel modellieren kann, wenn man allgemein an Herden-Bewegungen interessiert ist, aber eben nicht, wenn es darum geht, einen Kuhstall zu planen. Ein Grund, warum Charles Townes ein so außergewöhnlicher Physiker war, scheint zu sein, dass er dieses Verständnis in hohem Maße besaß. Paul Goldsmith bezog sich in seinem Vortrag wiederholt auf Townes besondere physikalische Intuition. So hatte Townes beispielsweise ein untrügliches Gefühl dafür, wann das Verhalten quantenmechanischer Systeme in einem klassischen Formalismus beschrieben werden kann, und wann dieser Formalismus an seine Grenzen stößt und eine volle quantenmechanische Rechnung notwendig ist.



...Als ich Goldsmith in der Kaffeepause auf die Verwendung einfacher Modelle ansprach, bestätigte er, dass er als ein Merkmal physikalischer Intuition genau dieses tiefe Verständnis eines Physikers ansieht, zu wissen wann ein einfaches Modell anwendbar ist und wann nicht. 

...Das besondere Talent Townes, das so viele große Physiker besaßen und besitzen, scheint also weniger ein explizites, in Worte fassbares Wissen zu sein, als vielmehr eine Fähigkeit, eine Intuition im eigentlichen Wortsinn. Was ist also physikalische Intuition und woher kommt sie? Diese Frage ist alles andere als trivial und Goldsmith schlug in unserer Pausenkonversation vor, diese Frage empirisch zu klären, indem man die Physiker selber fragt. 

Leider war die Konferenz zu kurz, um die Kollegen in wissenschaftstheoretische Gespräche zu verwickeln. In jedem Fall scheint physikalische Intuition aber zumindest teilweise ein Talent wie viele andere zu sein, ein Talent, das man haben kann oder auch nicht. Trotzdem scheint es Wege zu geben, diese Intuition zu trainieren. Tatsächlich macht dieses Training einen großen Teil des Physikstudiums aus. Mit jedem Experiment das man macht, mit jeder Übungsaufgabe, die man rechnet, bekommt man ein besseres Gefühl dafür, wie sich unsere Welt physikalisch verhält und welchen Gesetzen sie folgt. ...

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Dieser Beitrag ist, wie eigentlich alles von Frau Anderl, dringend zu empfehlen, und hätte es mir die FAZ nicht seinerzeit ausdrücklich untersagt, würde ich nicht zögern, ihn hier vollständig wiederzugeben. So kann ich Ihnen leider nur diesen Link ans Herz legen:




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