aus nzz.ch, 6.9.2015, 08:30 Uhr
Hirnforschung
Auf den Spuren des Erinnerns
Den Nobelpreis erhielt er für eine Entdeckung in der Immunologie, nun erforscht Susumu Tonegawa das Gedächtnis. Über seine faszinierenden Erkenntnisse in diesem Bereich berichtet er im Gespräch.
Interview von Nicola von Lutterotti
Was hat Sie dazu bewogen, in die Hirnforschung zu wechseln?
Nach insgesamt 15 Jahren in der Immunologie wollte ich meine molekularbiologischen Kenntnisse dazu nutzen, einige der interessantesten Fragestellungen in den Lebenswissenschaften genauer zu beleuchten. Und was ist faszinierender als das Gehirn? Daher habe ich mich der Hirnforschung zugewandt, obwohl ich davon zunächst keine Ahnung hatte.
Es kann durchaus Vorteile haben, ganz unvoreingenommen an eine neue Fragestellung heranzugehen.
Absolut. Bei mir kommen noch zwei weitere Dinge dazu: Zum einen kann ich mich sehr rasch in neue Gebiete einarbeiten, und zum anderen stört es mich nicht, etwas nicht zu wissen. Wenn man etwas Neues lernt, sind Wissenslücken völlig normal. In der Forschung kommt es ja vor allem darauf an, grosse Zusammenhänge zu verstehen. Wenn meine Studenten mich auf etwas hinweisen, das mir nicht bekannt ist, können sie mich damit nicht in Verlegenheit bringen. Ich sage dann nur: «Erkläre es mir, ich möchte gern dazulernen.»
Zu den faszinierendsten Erkenntnissen Ihrer jüngsten Forschung zählt, dass sich Gedächtnisinhalte manipulieren lassen. Hierzu muss man freilich erst wissen, wo sich diese genau befinden. Kann man Erinnerungen denn lokalisieren?
Ja, jede Art von Erinnerung wird von ganz bestimmten Zellgruppen gespeichert. Erinnerung A in Zellgruppe A, Erinnerung B in Zellgruppe B und so weiter. Dabei handelt es sich um eine Vielzahl von Zellpopulationen, die hintereinander geschaltet sind. Beispielsweise besteht eine bestimmte Erinnerung A aus den Untereinheiten A1, A2, A3 und so weiter. Das Gleiche gilt für andere Erinnerungen, etwa B, C, D und so fort. Die Spezifität des Gedächtnisses wird dabei von den Querverbindungen zwischen den einzelnen Zellpopulationen, in denen die unterschiedlichen Erinnerungen abgespeichert sind, bestimmt. So kann es sein, dass zwischen A1 und B2 eine Verknüpfung besteht, aber nicht zwischen A1 und B1. Im Tierversuch lassen sich solche Querverbindungen gezielt erzeugen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Gut illustrieren lässt sich dies mit der Angstkonditionierung bei Mäusen. In unseren Versuchen setzen wir eine Maus in einen bestimmten Käfig, etwa Käfig A, wo sie frei herumrennen kann. Nach einigen Minuten, wenn sie sich die Charakteristika des Käfigs gemerkt hat, verpassen wir ihr einen leichten elektrischen Schock an einer Pfote. Für die Maus heisst das: Im Käfig A droht Gefahr. Setzen wir das Tier am nächsten Tag wieder in denselben Käfig, verfällt sie sofort in eine Angststarre. In einem anderen Umfeld, etwa Käfig B, legt sie kein ängstliches Verhalten an den Tag.
Wie Ihre Untersuchungen zeigen, lässt sich dies aber ändern.
Das stimmt. Wenn sich eine neue Erinnerung bildet, werden die Synapsen (die Kontaktstellen zwischen den einzelnen Nervenzellen) kräftiger und zahlreicher. Behandelt man die Maus kurz nach der Schmerzerfahrung mit einem Wirkstoff, der die Herstellung neuer Proteine unterdrückt, kommt das Synapsenwachstum nicht in Gang. In der Folge kann sich die Maus das bedrohliche Erlebnis nicht merken und verfällt daher auch nicht in Angststarre, wenn man sie in Käfig A placiert. Entscheidend war für uns dabei Frage: Ist die Erinnerung verschwunden oder lediglich die Fähigkeit, sie wachzurufen? Wie wir entdeckt haben, ist Letzteres der Fall. Nachweisen konnten wir dies mit molekulargenetischen Tricks, die es erlauben, das verlorene Gedächtnis zu reaktivieren. Denn damit war es möglich, die Assoziation von Käfig A mit Gefahr wiederherzustellen.
Das gelingt doch nur mit bereits vorhandenen Gedächtnisinhalten – oder lassen sich auch neue Erinnerungen erzeugen?
Nein, das ist richtig, das geht nicht.
Sind Ihre Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar?
Ein vergleichbares Phänomen beim Menschen sind falsche Erinnerungen: Wenn eine Person ein erschütterndes Erlebnis mit etwas kurz vorher Gesehenem oder Gehörtem assoziiert und die Ereignisse fälschlicherweise miteinander verknüpft – ähnlich wie die Maus den Elektroschock mit dem falschen Käfig verbindet. Ein solches Phänomen beobachtet man etwa im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen. Bevor es DNA-Tests gab, haben auf falschen Erinnerungen beruhende Zeugenaussagen viele Unschuldige ins Gefängnis gebracht.
Vielleicht haben die Zeugen ja gelogen?
Das lässt sich natürlich schwer ermitteln. An der Existenz von falschen Erinnerungen besteht allerdings kein Zweifel. In den USA gab es einmal einen berühmten Fall: Eine Frau, die in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt wurde, belastete vor Gericht einen bekannten Psychologen. Dieser hatte zur Tatzeit allerdings eine bekannte Fernsehsendung moderiert, und das in weiter Entfernung zum Tatort. Wie sich später herausstellte, hatte die Frau diese Sendung zum Zeitpunkt der Attacke gesehen – eine Tatsache, die zu der Verwechslung führte.
Wie kommt es zu solchen falschen Erinnerungen?
Sie entstehen vornehmlich in Situationen, in denen etwas Dramatisches passiert. Bei Tieren kommen falsche Erinnerungen natürlicherweise übrigens nicht vor. Dieses Phänomen scheint etwas typisch Menschliches zu sein. Anders als bei Tieren laufen im menschlichen Gehirn unzählige Aktivitäten ab, die keine unmittelbare Reaktion auf die Aussenwelt darstellen. Menschen besitzen ein hohes Mass an Imagination und denken beständig über vieles nach. Wir gehen als einzige Lebewesen Tätigkeiten nach, die auf Vorstellungskraft und Kreativität beruhen. Die Kehrseite dieser Gabe ist, dass sich Einbildung und Wirklichkeit mitunter vermischen.
Falsche Erinnerungen sind das eine, ein Gedächtnisschwund das andere. Sehen Sie denn Möglichkeiten, den alters- oder auch demenzbedingten Verlust des Erinnerungsvermögens aufzuhalten?
Dazu kann ich momentan noch nichts Genaues sagen. Denn wir haben gerade eine wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema bei einem hochrangigen Wissenschaftsjournal eingereicht. Was jedoch schon bekannt ist: Mit dem Alter werden unsere Synapsen immer schwächer und zahlenmässig spärlicher. Daher fällt es uns zunehmend schwer, Erinnerungen abzurufen. Das beobachte ich auch bei mir. Manchmal fällt mir der Name einer Person, die ich schon seit 30 Jahren kenne, einfach nicht mehr ein. Erhalte ich dann weitere Gedächtnishilfen, kommt er plötzlich zurück. Er ist also noch im Gehirn gespeichert, für mich aber schwerer erreichbar. Ähnliches, nur weitaus schlimmer, spielt vermutlich bei der Demenz eine wichtige Rolle. Die von uns demnächst publizierte Arbeit dürfte hier für ein Umdenken sorgen.
Das Gedächtnis ist andererseits nicht die einzige Körperfunktion, die mit dem Alter nachlässt?
Ja, unser Körper ist wie eine Maschine, die sich mit den Jahren immer mehr abnutzt: Das Gehör, die Augen, der Geruchssinn, alles wird schlechter. Wenn Sie älter werden, realisieren Sie überdies nicht mehr alles, was um Sie herum geschieht. Meiner Meinung nach ist das von der Natur so gewollt. Denn der Übergang vom aktiven Leben zum Tod ist auf diese Weise sanfter. Mit dem Alter lösen wir uns immer mehr von der Wirklichkeit und leiden daher weniger, wenn wir am Lebensende angekommen sind.
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