Hirnforschung
Die Ehrlichkeit sitzt gleich hinter der Stirn
Patienten
mit Schäden in einem bestimmten Teil des Stirnhirns handeln in Spielen,
in denen es um Geld geht, eher nach egoistischen Motiven und weniger
ehrlich als andere Menschen.
Ein Bauarbeiter namens Phineas Gage ist ein – tragischer – passiver Held der Hirnforschung: Ihm schoss bei Sprengarbeiten eine Eisenstange durch den Kopf. Dabei wurde sein Stirnhirn schwer verletzt. Zur Verblüffung seiner Kollegen und der Ärzte war er nur kurz benommen und nach wenigen Monaten wieder arbeitsfähig. Doch sein Charakter hatte sich völlig geändert: Vor dem Unfall verantwortungsvoll und sozial, war er danach, so sein Arzt John Harlow, „impulsiv, ordinär, triebhaft und launisch“. Harlows Schluss lag nahe: Im Stirnhirn sitzt die Moral. Und die Fähigkeit, Pläne durchzuführen.
Das war 1848, und das sieht man noch immer so. In den „frontalen Hirnwindungen“ seien die „edelsten Vermögen des Gehirns“ daheim, schrieb der berühmte Hirnforscher Pierre Paul Broca 1861: „das Urteilen, Reflektieren, das Vermögen des Vergleichens und Abstrahierens“.
Weiß man das heute nicht genauer? Das Stirnhirn respektive der Stirnlappen des Großhirns ist doch ziemlich groß. Kann man das nicht exakter spezifizieren? Ja, natürlich. Man nennt heute den vorderen Teil des Stirnlappens den präfrontalen Kortex – im Unterschied zu den Regionen dahinter, in denen vor allem die Steuerung der Bewegungen passiert. Im präfrontalen Kortex sind dann die „wirklich höheren“, typisch menschlichen Fähigkeiten daheim, er teilt sich in den dorsolateralen, den ventrolateralen und den orbitofrontalen Kortex.
Aber es ist doch verblüffend, dass – trotz aller moderner Methoden der Neurologie – eine aktuelle, in Nature Neuroscience erschienene Arbeit im Grunde genauso argumentiert wie John Harlow 1848: Forscher um Ming Hsu (Virginia, USA) verglichen Patienten mit Schäden im dorsolateralen Kortex (DLK) mit Patienten mit Schäden in einem anderen Teil des Stirnhirns (dem orbitofrontalen Kortex) und mit Menschen ohne Hirnschäden.
Lieber lügen und profitieren?
Sie ließen die Teilnehmer ein Spiel spielen, in denen es um wirkliches Geld ging (das ist notwendig, um zu sichern, dass sie das Spiel ernst nehmen). Dabei muss immer eine Person A eine Person B darüber informieren, um wie viel Geld gerade gespielt wird. Person B kann nicht überprüfen, ob Person A die Wahrheit spricht, sie ist von ihr abhängig. So muss sich Person A entscheiden, ob sie lieber ehrlich ist oder Person B falsch informiert, zu ihrem eigenen Vorteil. Sie kann also zwischen Fair Play und der Verfolgung egoistischer Interessen frei wählen, bestraft wird sie nie. Das Ergebnis war eindeutig: Die Patienten mit Schäden im DLK entschieden sich häufiger zur Lüge als die Menschen aus den beiden anderen Gruppen. Daraus schließen die Forscher, dass der DLK dazu notwendig ist, Ehrlichkeit gegen egoistische Motive durchzusetzen. Damit sei eine gegenläufige Theorie widerlegt, schreiben sie. Andere Hirnforscher glaubten nämlich, dass sich umgekehrt in den präfrontalen Regionen (zu denen der DLK gehört) egoistische Motive gegen Ehrlichkeit durchsetzen. Wenn das wahr wäre, müssten Patienten mit Schäden im DLK ehrlicher sein als andere Menschen.
Interessant ist, dass Schäden im orbitofrontalen Cortex keinen Einfluss auf das Verhalten in diesem Spiel hatten: Diese Region sollte schließlich für die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, wichtig sein; manche Autoren sehen sie sogar als Sitz des freien Willens. (Wenn es so etwas in der Welt der Hirnforscher überhaupt geben kann.)
Eine kecke Frage legt diese Arbeit nahe: Die Wirtschaftstheorie definiert doch ihren Homo oeconomicus als einen Akteur, der sich stets für die Handlung entscheidet, die ihm den größten Nutzen bringt. Sind dann Menschen mit Schäden im dorsolateralen Kortex die idealen Homines oeconomici?
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