Was die Naturwissenschaft zu erzählen hätte
Vom Zauber der Entzauberung
Wissenschaft läuft auf eine kalte Weltsicht hinaus: Das scheint schon seit den desillusionierenden Einsichten eines Kopernikus oder Darwin festzustehen. Aber stimmt es noch? Es zeichnen sich Veränderungen ab – und neue, faszinierende Welterzählungen.
Physik ist schwierig, Chemie trocken. Wissenschaft überhaupt entzieht der bunten Wirklichkeit das Leben und reduziert sie auf Formeln und Begriffe: So das verbreitete Bild. Niemand bestreitet die Bedeutung moderner Wissenschaft, aber ihre Sympathiewerte sind durchwachsen. Tatsächlich scheint es, als hätten wissenschaftliche Einsichten häufig eine geradezu phantasiedämpfende Tendenz. Der Blitz, in dessen Urgewalt frühere Zeiten das Wirken der Götter erlebten, ist nur eine elektrische Entladung. Die Sonne, vielgepriesen und vielbesungen, ist nur ein primitiver Reaktor, der Wasserstoff in Helium verwandelt. Das Geheimnis der Vererbung entpuppt sich als ein genetischer Code, der sich als trostlose Buchstabenkolonne wiedergeben lässt. «Entzauberung» nannte der Soziologe Max Weber den ernüchternden Zug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese seien «geeignet, den Glauben daran, dass es so etwas wie einen ‹Sinn› der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen».
Ein Klischee
Und doch: Öffnet die wissenschaftliche Optik nicht zugleich völlig neue Durchblicke? Gewiss ist die Sonne nur ein Fusionsreaktor, der keinen Morgen und Abend kennt; sie kann aber dort, wo es Morgen und Abend gibt, erstaunliche Abläufe in Gang setzen. Auf einem ihrer Planeten jedenfalls haben sich Organismen entwickelt, die die Sonnenstrahlung chemisch nutzen können, um energiereiche Stoffe zu bilden, und andere Organismen, die das zwar nicht können, aber in zweiter Reihe profitieren: Was auf der ersten Stufe durch Fotosynthese erzeugt wird, ernährt – in pflanzlicher Darreichungsform – eine ganze Nahrungskette. Die Sonnenenergie wird auf diesem Weg gleichsam durchgereicht bis zum Menschen. Der nämlich hat, selbst durch extensives Sonnenbaden, bisher nicht die Fähigkeit zur Fotosynthese erlangt.
Dass die alten Geschichten erstaunlicher als die neuen seien – das ist nicht mehr als ein Klischee. Wie phantastisch die neuen Geschichten sein können, zeigte die Entdeckung der Wege der Vererbung. Die uralte Frage, wie die offenkundigen Ähnlichkeiten zwischen Kindern und Eltern zu erklären sind, war über Jahrtausende unbeantwortbar. Klar schien nur, dass in irgendeiner Form ein winziges Stück Leben weitergegeben werden müsse. Als schliesslich im 17. Jahrhundert, nach der Entwicklung des Mikroskops, erstmals Spermien vor ein menschliches Auge kamen, entstand die Hypothese, in ihnen müsse sich ein winziges Menschlein verbergen. Vererbung, so die naheliegende Annahme, bestehe wohl in der Weitergabe von miniaturisiertem Leben.
Die Geschichte, die demgegenüber die moderne Biologie erzählt – dass zwischen dem einen und dem nächsten Leben ein Zwischenschritt völlig anderer Art liegt, dass überhaupt nicht Leben weitergegeben wird, sondern ein scheinbar lebensferner Code, der zudem aus den elterlichen Codes kombiniert und dann ganz neu ausgelesen werden muss, dass sich also jedes Menschlein von der ersten Zelle an vollkommen neu bildet –, diese Geschichte mag auf den ersten Blick enttäuschend wirken; es ist ein bisschen wie der Unterschied zwischen einem Stück Kuchen und einem Zettel mit einem Kuchenrezept. Entzauberung eben. Zugleich aber offenbart sich hier eine «Organisiertheit» der Dinge, die raffinierter und extravaganter als alle Vererbungsspekulationen seit Aristoteles ist. Ja, auf einer gewissen Ebene ist der genetische Code eine Buchstabenkolonne. Auch Homers Odyssee und die Bibel sind, auf einer gewissen Ebene, nur Buchstabenkolonnen. Und ja, Wissenschaft zerstört alte Erzählungen – aber sie bringt auch neue, faszinierende Erzählungen hervor.
Nicht dass dies gar nicht registriert würde. Jedes Kind hat heutzutage vom Urknall gehört. Und auch die Wunder der Biologie, vom Vogelflug bis zu den Wanderungen der Lachse, finden ihr Publikum. Meist aber beschränkt sich das Interesse aufs Verblüffende und Spektakuläre und erreicht nicht das, worauf es eigentlich ankäme: die neuen Geschichten in ihrer eigenen Logik, ja Fremdheit zu erzählen.
Das würde erfordern, auch auf den ersten Blick sperrige, molekulare oder physiologische Zusammenhänge transparent zu machen, überhaupt einen Sinn für das Unscheinbare und Subtile zu entwickeln, das in jedem Lebewesen wirksam ist; vieles ist noch längst nicht in allen Tiefen verstanden. Zugleich hiesse es, sich Herausforderungen anderer Art zu stellen. Die phantastischen Mechanismen der Evolution etwa sind auch von phantastischer Grausamkeit. Die Evolution ist eine Geschichte vom Fressen und Gefressenwerden. Nicht wirklich das, womit man Kinder in eine gute Nacht schickt. Verständlich die Sehnsucht nach den alten Erzählungen, in denen die Welt noch als menschenfreundliche Inszenierung erlebbar war.
Zwar kam auch das vormoderne Denken um die Zumutungen des Daseins nicht herum. Wovon handelt das Buch Hiob? Womit plagte sich die europäische Geisteselite nach dem Erdbeben und Tsunami von Lissabon 1755 ab? Immer ging es darum, die Schrecken der Welt mental zu integrieren, letztlich das Erleben von Ungerechtigkeit und Kontingenz mit der Vorstellung eines guten Schöpfers vereinbar zu machen. Die ungeheuerliche, geradezu menschenfressende Wirklichkeit der Welt war immer auch Thema der Religionen.
Nur lassen sie, im Unterschied zur Wissenschaft, den Menschen mit diesen Bildern nicht allein. Sie glauben diese Bilder durch ein tieferes Bild grundieren zu können, in dem das vorläufig Unverständliche seine Auflösung findet. Oder wie es Hölderlin beschwor: «Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen.» Solche «Finalität» hat die Wissenschaft in der Tat nicht zu bieten. Diese vermeintliche Schwäche aber ist zugleich eine Stärke. Sie ist das geistige Billett für ein Forschen mit offenem Ausgang, für – immer noch schwer erkämpfte – Paradigmenwechsel, für den Einspruch der Wirklichkeit gegen die Erwartung.
Kuriose Evolution
Auch die Evolution ist, aus dem gehörigen Abstand betrachtet, eine kuriose Veranstaltung. Einerseits sprühend vor Innovationen, andererseits konservativ bis ins Mark. Frühe «Lösungen», etwa biochemische Mechanismen, die sich bei den ersten Einzellern bewährten, sind noch bei den komplexesten Lebewesen im Kern dieselben. Festgehalten wird andererseits auch manches, das seine ursprüngliche Funktion verloren hat. Das beginnt mit den männlichen Brustwarzen, wohl ein Relikt aus Zeiten, in denen Säugetiere als glückliche Zwitter lebten. Und es geht bis hinunter ins Genom: Bestimmte Abschnitte haben eine scharf definierte Funktion, deren Ausfall schwerste Leiden auslöst; andere wirken eher indirekt, als Schalter und Steuerungselemente; wiederum andere gleichen einem genetischen Trümmerfeld, auch wenn dieses, biologisch korrekt, nicht mehr als «Junk-DNA» denunziert wird, weil sich auch darin manch unerkannte Bedeutung verbergen dürfte.
Die Evolution verfährt sozusagen «very British»: Im Lauf der Jahrhunderte wurde das politische System auf der Insel von Grund auf verändert, und doch ist da noch die Queen, und die Parteien im Unterhaus sitzen bis heute zwei Schwertlängen auseinander. So bieten auch die wissenschaftlichen Erzählungen das ganze Spektrum: grundlegend Neues und Umbau früherer Modelle, Eleganz und wüste Bastelei. Lebensfern und abgehoben, wie das Klischee behauptet, ist nichts daran. Im Gegenteil, Wissenschaft erzählt die realen, die ungeraden, merkwürdigen Geschichten. Die frisierten Geschichten überlässt sie Hollywood. Und sie erzählt Geschichten mit offenen Enden, so unkalkulierbar, als walte darin die unpädagogische Spannung des Lebens selbst.
Dies allerdings sichtbar zu machen, erfordert dann doch ein wenig Pädagogik. Jedenfalls geht es nicht im Routine-Modus der Schulen, wo das fertige Wissen, vom Atommodell bis zu den mendelschen Regeln, kopflos ausgeschüttet wird. Und es geht auch nicht im angeberischen Modus vieler Wissenschafts-Shows. Hier wie dort werden staunenswerte, unter grösstem Einsatz errungene Einsichten banalisiert und ins gegebene Format gepresst. Während es in Wahrheit aufs Gegenteil ankäme: sie in ihrer Eigenart, ja Kostbarkeit fühlbar zu machen. Dass sich Wissenschaft auf solche Weise zu erzählen lernt – dieser Prozess hat gerade erst begonnen.
Wolfgang Müller ist Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg.
N. N.
Nota.
Bemerkenswert an diesem Beitrag ist etwas, das gar nicht darinsteht. Dass nämlich das furiose Raumgreifen des Ästhetischen in der Neuzeit eine Kompensation sei für den verlorenen Zauber der Mythen und frommen Mären, verliert hier an Plausibilität. Es unterstellt, dass die metaphysischen Verkleidungen, in die die Welt vor der epochalen Säkularisierung gewandet war, deren Rätsel für die große Masse der Menschen gelöst hätten, und dass nach deren Fortfall ein Fehlbedarf entstanden sei, der mit schönem Schein ausgeglichen werden musste.
Für die große Masse der Menschen hatten die metaphysischen Bauwerke nie eine Bedeutung gehabt, und dass sie die Rätsel der Welt gelöst hätten, haben die Gelehrten, denen sie bekannt waren, selber nicht geglaubt. Für die große Masse der Menschen sind die Rätsel des Daseins bis heute so ungelöst wie je, und sie haben sich darin eingerichtet wie je. Und auch für die Wenigen, die daraus ein Problem machen, blieb alles beim Alten.
Bleibt als Ergebnis nur dies: Das Vordringen des Ästhetischen in die alltägliche Lebenswelt der großen Masse muss seinen eigenen Grund gehabt haben.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen