Sonntag, 3. August 2014

Das Domestikationssyndrom.

aus Die Presse, Wien, 3. 8. 2014

Hund, woher dein Babyface? 
Im Zuge der Domestizierung verändert sich bei Tieren nicht nur das Verhalten, sondern auch das Äußere, obwohl darauf nicht gezüchtet wird.
 

Das wildeste Experiment in der Biologie, es läuft bis zum heutigen Tag, begann 1959 weit hinten in der Sowjetunion, im sibirischen Nowosibirsk. Dorthin hatte sich Dimitrij Beljajew zurückgezogen, früherer Chef des sowjetischen Amts für Pelztierzucht und Darwinist. Als solcher wurde er unerwünscht in Moskau, dort regierte unter den Biologen Stalins Liebling Trofim Denissowitsch Lyssenko. Für ihn gab es keine Mutation und Selektion, sondern alles war Umwelt und Erziehung. Das brachte dem Land Hungersnöte, weil auf Geheiß Lyssenkos Getreide auch dort angebaut werden musste – es würde sich schon dreinschicken! –, wo es von der Natur her nicht gedeihen konnte.

Er hielt sich trotzdem an der Macht, Beljajew hingegen bekam Berufsverbot. Er zog sich in die ferne Provinz zurück und konnte noch froh sein, dass es ihm nicht ärger erging: „Was, es gibt noch Genetiker? Sind die nicht alle beseitigt worden?“, wunderte sich Stalins Nachfolger Chruschtschow bei einem Besuch in Nowosibirsk. Da war seit Jahren das Experiment in Gang, mit dem Beljajew eine Frage klären wollte, die schon Darwin umgetrieben hatte: Was steht hinter der Verwandlung der Körper, vor allem des Gesichts, im Zuge der Domestizierung wilder Tiere zu Haustieren? Dabei wird das Gesicht runder – zum Babyface –, die Schnauze kürzer, und die Ohren hängen schlapp herab. Am meisten sticht das bei Hunden ins Auge, aber es ist bei allen domestizierten Tieren so, von den Pferden über die Schweine bis zu den Katzen.

Nur: Kein Züchter hat je auf diese Eigenschaften hin ausgelesen. In der Zuchtwahl ging es immer um viele Eigenschaften – Fleisch, Milch etc. – und im Kern um eine: Zahm und zutraulich mussten die Tiere werden, weniger furchtsam gegenüber Menschen und weniger aggressiv natürlich auch – nur solche Tiere durften Gene in die nächste Generation bringen. So hielt es auch Beljajew, als er 1959 begann, Füchse zu domestizieren, Silberfüchse aus der Pelztierzucht. Sie waren an Menschen gewöhnt, aber noch wild. Nach 35 Generationen waren sie zahm und hatten ihr Verhalten geändert: Sie bellten und wedelten mit den Schwänzen, wenn die Forscher Futter brachten. Zudem hatten sie ihr Äußeres geändert: Die Gesichter waren gerundet, in den Pelzen zeigten sich helle Flecken, vor allem auf der Stirn. Auch das ist ein generelles Zeichen der Domestikation.

Woher das alles?
 


Darwin hatte vermutet, dass es an den Lebensbedingungen der Gefangenschaft liegt, in der es immer genug zu fressen und fast nie etwas zu fürchten gibt. Aber das ist eher unwahrscheinlich, zumindest deuten verwilderte Hauskatzen darauf: Sie müssten wieder die Physiognomie wilder Katzen annehmen, tun es aber auch nach vielen Generationen nicht. Auch ihre Gehirne bleiben so klein, wie sie durch die Domestikation geworden sind. Beljajew hatte eine andere Idee, seine Nachfolgerin Lyudmila Trut formulierte sie aus: Sie vermuteten ein großes Gennetzwerk, das mit einem Schlag alle Veränderungen initiiert (Bioessays 31, S.349). Aber dieser Schlag hätte wohl so viele Nebenfolgen, dass er eher letal wäre.

Man hat auch nie „Zahmheitsgene“ gefunden, und bei den ganz normalen Genen und ihren Aktivitäten erwiesen sich die Differenzen zwischen domestizierten Füchsen und undomestiziert gefangen gehaltenen – in der Pelztierzucht – als minimal (Current Biology 15, pR915). Wo kommen sie dann her, die Zutraulichkeit und die vielen körperlichen Merkmale, die das sogenannte Domestikationssyndrom bilden? Zur Klärung haben sich ein Theoretischer Biologe, ein Evolutionsbiologe und ein Kognitionsbiologe zusammengetan: Adam Wilkins (Berlin), Richard Wrangham (Harvard) und Tecumseh Fitch (Uni Wien), bisher bekannt als Spezialist für die Entstehung der Sprache. Nach ihrer Hypothese kommt alles von der frühen Entwicklung eines besonderen Körpergewebes, der Neuralleiste. Diese zieht sich am Rückgrat von Wirbeltierembryos hin. Aber manche ihrer Zellen bleiben nicht an Ort und Stelle, sondern sie wandern in den ganzen Körper aus und sorgen dort, direkt und indirekt, für viele Entwicklungen.

Direkt etwa wirken sie sich auf die Fellfarbe bzw. -musterung aus, die Pigmentzellen der Haare entstehen aus Zellen der Neuralleiste. Auch bei der Bildung der Zähne spielen sie mit: Domestizierte Tiere haben kleinere als wilde Tiere. Zudem passt die Gesichtsform zur Hypothese, denn die Zellen der Neuralleiste tragen zum Wuchs des Ober- und Unterkiefers – also der Schnauze – bei. Was auch zentral ist: Sie beeinflussen die Nebennieren, die Hormone produzieren, welche unter anderem Aggression und Reaktion auf Stress beeinflussen. Sind die Nebennieren kleiner oder produzieren sie weniger, verringern sich Angriffslust und Furchtsamkeit der Tiere – eben die Eigenschaften, die bei der Domestizierung selektiert werden.

Aber warum sind manche Nebennieren größer und andere kleiner? Es liegt vermutlich daran, wie viele Zellen aus der Neuralleiste in den restlichen Körper wandern. Bei der Domestikation könnten die Tiere zur Zucht gewählt worden sein, bei denen weniger Zellen unterwegs waren. Sie hätten das Verhalten gemildert – und ganz nebenher alle anderen Effekte hervorgebracht: „Als unsere Vorfahren gezielt auf Zahmheit hin züchteten, könnten sie unabsichtlich diejenigen ausgewählt haben, die leichte Defekte in der Neuralleiste hatten“, schließt Wilkins. „Das hat den Tieren kleinere und langsamer reifende Nebennieren gebracht und sie zutraulicher gemacht“ (Genetics, 197, S.795).

All das ist Hypothese – nach Bekunden der Forscher teilweise Spekulation. Auch ein möglicher Einfluss der Hormone der Nebenniere auf das Gehirn gehört dazu, irgendwie hängt seine Verkleinerung mit der Domestizierung zusammen. Aber die Hypothese deckt fast alle Aspekte ab – nur die Schlappohren bleiben schwierig, obwohl Zellen der Neuralleiste auch bei ihren stützenden Knorpeln mitspielen –, und sie ist in Tscheljabinsk überprüfbar. Dort hat man inzwischen mit der Domestikation von Nerzen und Ratten begonnen.


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