Ein Trend und seine Probleme
Das Zeitalter der «Big Science»
Naturwissenschaftliche Forschung, einst Berufung für wenige, ist heute ein ökonomisch und politisch bedeutsamer Berufszweig. Diese Entwicklung, die nicht nur durch einzelne Grossprojekte vorangetrieben wird, wirft Fragen auf, die dringend einer Antwort harren.
«Ich hab den Job!», rief mein Kollege Ron triumphierend, als er mit einem geöffneten Brief in der Hand in unser Laboratorium stürmte. Der «Job» war eine Assistenzprofessur an der renommierten Princeton University, Grund genug für uns Postdoktoranden, ihm zu gratulieren. Dennoch schien uns sein Erfolg nicht aussergewöhnlich, hatte doch Ron zwei Jahre lang in der berühmten Arbeitsgruppe des Biochemikers Efraim Racker gearbeitet und in dieser Zeit vier wissenschaftliche Arbeiten publiziert. Da Racker ihn überdies seinen Kollegen in Princeton auf das Wärmste empfohlen hatte, war Rons wissenschaftliche Ausbeute mehr als ausreichend. Tatsächlich war er ein hervorragender Wissenschafter, der schon bald darauf ein weltweit führender Forscher wurde.
Der Takt der Verdoppelung
Das war 1965 – Erinnerung für mich, Steinzeit für junge Biologen von heute, denen Rons jour de gloire wie ein Märchen aus «1001 Nacht» erscheinen muss. Um sich gegen die hundert oder mehr Bewerber für eine prestigeträchtige Universitätsstelle durchzusetzen, braucht es heute meist eine mindestens vierjährige Postdoktoranden-Ausbildung und mehr als ein halbes Dutzend Publikationen über «heisse» Themen in «exklusiven» wissenschaftlichen Zeitschriften. Und wer die begehrte Assistenzprofessur dann in der Tasche hat, muss sich auf einen unbarmherzigen Kampf um Forschungsgelder und weltweite Anerkennung gefasst machen. – Dies ist nicht verwunderlich, hat sich doch seit Rons Triumph die Zahl der Wissenschafter mindestens verzehnfacht. Dies bedeutet, dass achtzig bis neunzig Prozent aller Wissenschafter, die je gelebt haben, heute leben – und dass jedes Jahrzehnt so viele Wissenschafter «produziert» wie die gesamte Menschheitsgeschichte zuvor. Eine so dramatische quantitative Veränderung bedingt stets auch eine qualitative, sei dies in der Biosphäre, der Ökonomie – oder der Wissenschaft. «Little Science» – die von Neugier getriebene Forschung Einzelner oder kleiner Gruppen – hat sich zur «Big Science» gemausert.
Diese Entwicklung gründet nicht in bestimmten Ereignissen oder politischen Entscheiden, sondern im Anwachsen der Wissenschaftsgemeinde und wissenschaftlicher Informationen. Wie fast jede Evolution, so verlief auch diese exponentiell, was bedeutet, dass sich die Geschwindigkeit des Wachstums laufend erhöhte. Dieses Wachstum setzte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein und nähert sich seit etwa 1920 mit Verdopplungszeiten von zehn bis fünfzehn Jahren der Präzision eines empirischen Gesetzes. Das Wachstum schien anfangs unbedeutend, hat aber nun das berüchtigte «Knie» der exponentiellen Kurve erreicht, in dem jedes weitere Wachstum nicht nur das Wesen wissenschaftlicher Forschung, sondern auch die öffentlichen Ressourcen vor neue Herausforderungen stellt.
Der Wissenschaftsbetrieb wächst derzeit schneller als die Weltbevölkerung oder die Bruttosozialprodukte, die sich jeweils in fünfzig bzw. zwanzig Jahren verdoppeln. Exponentielles Wachstum schafft neue Probleme meist schneller, als man sie lösen kann, und stösst früher oder später an seine Grenzen. Für viele Bereiche der Naturwissenschaft, besonders für die Biologie, scheint dies nun der Fall zu sein. «Big Science» verschlingt heute einen signifikanten Teil öffentlicher Ressourcen; Wissenschafter schliessen sich zu Berufsverbänden zusammen und kämpfen gegen eine Flut von Regeln und politischen Verordnungen; in manchen Ländern fordern Studierende und Postdoktoranden formale Lehrvereinbarungen; und Universitäten lehren Fakten, Methoden sowie «Berufsethik», aber nur selten, was Wissenschaft ist, was sie von uns fordert und wie sie unsere Sicht der Welt verändert. Ergebnis dieser Entwicklung ist der gut ausgebildete, ungebildete Wissenschafter.
«Big Science» bedroht auch die wissenschaftliche Grundforderung, die eigenen Resultate kritisch zu hinterfragen. Laut einer neueren Untersuchung lassen sich mindestens zwei Drittel aller biomedizinischen Ergebnisse nicht reproduzieren, was nicht nur Zeit und Geld verschwendet, sondern auch den Erfolg klinischer Versuchsserien beeinträchtigt. Der Biologe und Statistiker John P. A. Ioannidis hat behauptet, dass die meisten biomedizinischen Forschungsresultate zumindest teilweise falsch sind. Die Gründe dafür sind vielschichtig: steigende Komplexität der untersuchten biologischen Systeme, mangelnde Sorgfalt wegen des Konkurrenzdrucks; der unbarmherzige Publikationszwang; von Netzwerken geförderter, unbewusster Konformismus; mangelnde statistische Auswertung; finanzielle Interessen – und nicht zuletzt bewusste Fälschung.
Fragwürdige Masszahlen sind ein weiteres Problem. Die jährlich publizierte Rangordnung von Universitäten, die Häufigkeit, mit der Publikationen eines Autors von Fachkollegen zitiert werden, sowie der «Impaktfaktor» einer wissenschaftlichen Zeitschrift überschatten zunehmend den Forscheralltag. Der Impaktfaktor – die Häufigkeit, mit der die Artikel einer Zeitschrift von anderen durchschnittlich zitiert werden – gilt weithin als Qualitätsmassstab für die wissenschaftliche Zeitschrift und sogar für die darin publizierenden Wissenschafter. Wissenschaftssoziologen haben dies von Anfang an angeprangert, doch der Bürokratie liefert der Faktor eine willkommene Zahl, um Wissenschaft zu organisieren und zu koordinieren. Organisation ist jedoch der Feind von Innovation – und Koordination der von Motivation. Vor zwei Jahren blies die Wissenschaftsgemeinde endlich zum Gegenangriff und erklärte den Impaktfaktor als ungeeignet, um über Anstellung, Beförderung oder finanzielle Unterstützung eines Forschers zu entscheiden. Alte Gewohnheiten halten sich jedoch hartnäckig, und so wird es wohl eine Weile dauern, bis diese pseudowissenschaftliche Messzahl im Abfallkorb der Geschichte landet.
Wissenschaft braucht nicht nur Kooperation, sondern auch Konkurrenz. Diese ist jedoch heute so mörderisch, dass manche Forschungsgebiete Kriegsschauplätzen gleichen. In meiner Tätigkeit als Redaktor für «prominente» wissenschaftliche Zeitschriften entsetzt mich immer die Feindseligkeit, mit der viele Gutachter die zur Veröffentlichung eingereichten Manuskripte ihrer Kollegen in Grund und Boden verdammen. Anstatt hilfreiche Vorschläge zu unterbreiten, scheinen sie alles daranzusetzen, dem Manuskript ihres Konkurrenten den Todesstoss zu versetzen. Noch dazu fordern einige Zeitschriften von ihren Redaktoren, mindestens zwei Drittel der eingereichten Manuskripte abzulehnen, ohne sie von Experten begutachten zu lassen. Die Hektik des heutigen Wissenschaftsbetriebs lässt Forschern nur selten genügend Zeit, um ein Manuskript mit der nötigen Sorgfalt durchzukämmen, so dass laut neueren Studien anonyme Begutachtungen weder die Qualität noch die Reproduzierbarkeit publizierter wissenschaftlicher Resultate gewährleisten. Der Siegeszug elektronischer Zeitschriften eröffnet aber nun die Möglichkeit, wissenschaftliche Arbeiten nicht vor, sondern nach der Veröffentlichung zu kommentieren. Dies schüfe auch eine Plattform, um über erfolglose Experimente zu berichten, die für den Fortschritt der Wissenschaft ebenfalls wichtig sind.
Erfreuliche Aspekte
Manche Forschungsprojekte, wie die Entwicklung neuer Technologien aufgrund bereits vorhandener Erkenntnisse oder die Suche nach den Grundteilchen der Materie, erfordern den Einsatz grosser Gruppen, doch dies gilt nur sehr begrenzt für viele der Grossforschungsprojekte und organisierten Netzwerke der heutigen biomedizinischen Grundlagenforschung, die bis zu einer Milliarde Euro in ein einziges Forschungsziel investieren. Dieser Gigantismus übersieht, dass grundlegende Entdeckungen meist nicht organisierten Gruppen, sondern einzelnen Querdenkern zu verdanken sind. Um dieser Entwicklung die Stirn zu bieten, brauchte es eine Persönlichkeit, die als «Stimme der Wissenschaft» den politischen und bürokratischen Entscheidungsträgern das Wesen und die Anliegen langfristiger Grundlagenforschung nahebringt. Europa fehlt eine solche Stimme.
«Big Science» hat auch ein freundliches Antlitz. Zu ihren Geschenken zählen wirksame nationale Institutionen zur Forschungsförderung, Auslandsstipendien für junge Wissenschafter, fairere akademische Karrierestrukturen, vermehrte Beachtung von Geschlechtergleichheit sowie Kommunikationsmöglichkeiten, von denen ich als junger Forscher nur träumen konnte. Zudem scheint sich das exponentielle Wachstum der biologischen Forschung zu verlangsamen. Wissenschaftliche Evolutionen haben ihre eigenen Gesetze, die wir nur unvollständig kennen. Wir müssen sie besser verstehen, wenn wir «Big Science» in den Griff bekommen wollen.
Der Biochemiker Gottfried Schatz ist emeritierter Professor der Universität Basel. Bei NZZ-Libro sind erschienen: «Jenseits der Gene», «Zaubergarten Biologie» und «Feuersucher. Die Jagd nach den Rätseln der Lebensenergie».
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