Freitag, 8. August 2014

Bewusst sein und die Sprache der Bilder.

aus Die Welt, 25.04.08
 
Warum wir uns gern falsch erinnern
Das Vergessen und Uminterpretieren sind wichtige Funktionen des Gehirns: Ein gutes Gedächtnis für sich allein bedeutet noch gar nichts. Menschen, die nicht vergessen können, sind praktisch nicht überlebensfähig. Hirnforscher Ernst Pöppel erklärt im Gespräch mit WELT ONLINE, warum das so ist.  

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WELT ONLINE: Mitunter fällt es leicht, sich präzise an Dinge zu erinnern, die wir als Kinder erlebt haben, während wir Ereignisse von vorgestern bereits wieder vergessen haben. Warum ist das so?

Ernst Pöppel: Viele Erinnerungen an Ereignisse in Kindheitstagen sind mit starken Emotionen verbunden. Diese Kopplung erhöht die Chance, dass Erinnerungen langfristig im Gedächtnis bleiben.

WELT ONLINE: Gilt das auch für Erfahrungen, die man später als Erwachsener macht – je stärker die emotionale Tönung, umso besser die Erinnerung?

Pöppel: Genau. Und ich behaupte sogar: ohne emotionale Bewertung kann man überhaupt nichts im Gehirn speichern.

WELT ONLINE: Warum vergessen wir Dinge?

Pöppel: Eine der wichtigsten Fähigkeiten unseres Gehirns ist das kreative Vergessen. Ein gutes Gedächtnis für sich allein bedeutet noch gar nichts. Nur das, was wichtig ist, müssen wir behalten. Die wichtigsten Erfahrungen, die ein ganzes Leben lang gültig bleiben, haben wir häufig in der frühen Phase der Biografie gemacht. Das Vergessen ist eine kreative Funktion des Gehirns, die Abstraktionsleistungen erst möglich macht. Es schützt uns davor, Informationsmüll mit uns herumzuschleppen. Es gibt Patienten, die nicht vergessen können. Die sind, auf sich allein gestellt, praktisch nicht lebensfähig.
 
Gehirnforscher Pöppel
Der Hirnforscher Ernst Pöppel

WELT ONLINE: Aber bei vielen alten Menschen erreicht das Vergessen ein ungutes Maß. Sie werden dement.

Pöppel: Das Älterwerden bringt eine Reihe von Risiken mit sich – unter anderem Alzheimer, Parkinson, Schlaganfälle, altersbedingte Depressionen und Schmerz. Doch es sind bei weitem nicht alle Menschen betroffen. Beim Alzheimer beklagt man ein schlechteres Gedächtnis. Das wirkliche Problem ist hier aber ein anderes. Forschungsergebnisse meines Teams weisen darauf hin, das in dem sogenannten episodischen Gedächtnis Bilder unserer persönlichen Vergangenheit vorkommen, wobei ich selber als Erlebender in meinem eigenen Bild erscheine. Das heißt, ich bin mein eigener Doppelgänger. Unsere persönliche Identität wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, dass ich mich im Bild meiner eigenen Vergangenheit auf mich selbst beziehen kann. Dadurch erhalte und stabilisiere ich meine Identität.* Das eigentlich Tragische beim Alzheimer-Patienten besteht nun darin, dass diese Möglichkeit zum Selbstbezug nicht mehr gegeben ist. Damit geht die persönliche Identität und auch der geistige Zugriff zur Vergangenheit und zur Zukunft verloren.

WELT ONLINE: Ab welchem Alter ist denn umgekehrt bei einem Kind diese Leistung der eigenen Identität möglich?

Pöppel: Da streiten sich die Gelehrten. Viele Hirnforscher gehen aber davon aus, dass dieser Selbstbezug ungefähr ab einem Alter von drei oder vier Jahren möglich ist. Das heißt aber keinesfalls, dass nicht auch zuvor gemachte, auch pränatale Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen können. Die Traumforschung gibt jedenfalls klare Hinweise darauf.

WELT ONLINE: Es ist doch auch so, dass man sich nicht an Dinge erinnern kann, die man als Ein- oder Zweijähriger erlebt hat. Hängt dies mit der noch fehlenden Identität zusammen?

Pöppel: Ich zumindest gehe davon aus. Die Fähigkeit, sich bewusst an Dinge zu erinnern, setzt voraus, dass ich ein Selbstbild von mir habe. Man muss zunächst die Außenperspektive von sich selber entdeckt haben und wissen, dass man ein Bewusstsein hat. Dann kann man sich auch bewusst auf seine Erinnerungen beziehen. Das, was vorher passierte, formt durchaus auch das Gedächtnis, nur kann ich eben nicht bewusst darauf Bezug nehmen.

WELT ONLINE: Welche Bedeutung kommt denn Erfahrungen zu, die ein Mensch bereits vorgeburtlich macht?

Pöppel: Ich vertrete die These, dass die vorgeburtliche Phase des Menschen entscheidend ist für die Prägung des visuellen Systems. Das Sehsystem ist das einzige, das vor der Geburt nicht gereizt wird. Damit es aber gleich nach der Geburt funktionieren kann, wird das visuelle System im Gehirn mit Hilfe von Träumen gleichsam eingefahren. Mehr als 50 Prozent der Zeit verbringen Kinder im Mutterleib in der Traumphase. Es hat dann keinen evolutionären Grund gegeben, die Träume nach der Geburt wieder abzuschaffen.

WELT ONLINE: Und die Bedeutung der Träume beim Erwachsenen haben uns dann die Psychoanalytiker erklärt?

Pöppel: Träume kann man so interpretieren, aber sie sind von der Natur nicht erfunden worden, um interpretiert zu werden. Es mag ja der Fall sein, dass im Traum Inhalte ins Bewusstsein gelangen, die normalerweise unterdrückt werden. Doch für uns ist es wichtiger, die Bildhaftigkeit des episodischen Gedächtnisses zu nutzen – für Kreativität oder zur Problemlösung. Viele Wissenschaftler und Künstler beziehen ihre wunderbaren Inspirationen doch gerade aus Träumen.

WELT ONLINE: Sind Träume immer farbig?

Pöppel: Ich gehe davon aus, dass Träume immer farbig sind, wobei diese häufig aber keine besondere Bedeutung hat. Die in unserem Gehirn gespeicherten Bilder sind halt farbig – im Wachbewusstsein genauso wie im Traum.

WELT ONLINE: Ist es möglich, dass ein Mensch die im Traum aufgerufenen Bilder oder auch die im episodischen Gedächtnis gespeicherten Bilder uminterpretiert, falsch abspeichert und sich deshalb falsch erinnert?

Pöppel: Das kann man nicht ausschließen. Wir haben überhaupt keine Kontrolle darüber, wie diese Bilder abgespeichert werden.

WELT ONLINE: Wie verlässlich sind vor diesem Hintergrund Aussagen von Zeugen, die über Dinge berichten sollen, die sehr lange zurückliegen? Die in ihren Köpfen gespeicherten Bilder könnten ja im Laufe der Zeit unbemerkt verändert worden sein.

Pöppel: Eine wesentliche Erkenntnis meiner Arbeit ist, dass zurückliegende Bilder uminterpretiert und uminszeniert werden, um für die persönliche Identität des Einzelnen passend gemacht zu werden. Das zeigt sich schon daran, dass der Erlebende selber als Handelnder in dem eigenen episodischen Gedächtnis vorkommt. Wenn ich mich zum Beispiel an eine Situation erinnere, in der ich zehn Jahre alt gewesen bin, dann sehe ich mich als Person in der Szene. Das ist physikalisch unmöglich und ein klarer Hinweis darauf, dass eine Umdeutung stattgefunden haben muss. Insofern ist es natürlich völlig unmöglich, sich auf Zeugenaussagen zu verlassen, die sich auf die bildliche Repräsentation allein beziehen.

WELT ONLINE: Wenn ich aber aus einer frischen bildlichen Erinnerung heraus Dinge ableite und diese dann sprachlich im Gehirn abspeichere, ist dann die Gefahr der Uminterpretation gebannt?

Pöppel: Nein. Es gibt keine eindeutige sprachliche Abbildung von Erlebnissen im Gehirn. Ich kann immer nur sprachlich das Bild beschreiben, das sich in meinem Gedächtnis befindet. Damit ist die Sprache genauso vergiftet wie das Bild selber.

WELT ONLINE: Kann ein Gutachter die Qualität einer Zeugenaussage anhand von bestimmten Indizien erkennen?

Pöppel: Es wird ja oft gefordert, dass Zeugenaussagen stimmig sein müssen. Aufgrund der Uminterpretationen sind Zeugenaussagen aber eher dann verlässlich, wenn sie nicht ganz stimmig sind. Eine Aussage, die völlig klar und logisch ist, ist vermutlich gelogen. Denn unser Gedächtnis funktioniert so, dass wir bestimmte Sachen einfach nicht mehr erinnern können.

WELT ONLINE: Wissen das auch die Gerichtspsychologen?

Pöppel: Da bin ich mir nicht sicher.

WELT ONLINE: Beim Abspeichern von Bildern muss ja vermutlich auch eine gewaltige Datenreduktion stattfinden. Können dadurch Informationen verfälscht werden?

Pöppel: Es wird in der Tat eine sehr große Komplexitätsreduktion vorgenommen. Das kann man schon daran erkennen, dass die Bilder, die in unserem episodischen Gedächtnis gespeichert sind, üblicherweise Standbilder und keine bewegten Bilder sind. Darüber hinaus gibt es auch eine hohe inhaltliche Reduktion. Nur das Wichtigste wird festgehalten, Details gehen verloren, und man sieht nur Bildausschnitte mit einem Radius von etwa zehn Grad Öffnungswinkel. Die Peripherie des Gesichtsfeldes wird im episodischen Gedächtnis kaum oder gar nicht repräsentiert. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung von Zeugenaussagen.

WELT ONLINE: Welchen gesellschaftlichen Nutzen haben die Erkenntnisse, die Sie als Gehirnforscher machen?

Pöppel: Bleiben wir beim Gedächtnis, das ja neben der Wahrnehmung, den Gefühlen und dem Handeln ein ganz zentraler Aspekt unseres mentalen Haushalts ist. Die Erkenntnisse der Hirnforschung können Antworten auf die Frage geben: Wie lade und wie nutze ich dieses Gedächtnis am besten? Geistige Aktivität ist die beste Prävention für Gedächtnisprobleme. Ich sage: Lerne jeden Tag ein Gedicht auswendig. Ein besseres Gedächtnistraining gibt es nicht.

WELT ONLINE: Statt Gedichte lernen – könnte man auch ein Sudoku lösen?

Pöppel: Im Prinzip ja. Doch es geht in jedem Fall um die Eigenaktivität des Einzelnen. Besser noch, wenn es dabei eine emotionale Tönung gibt. Wir dürfen aber nicht glauben, dass das alles ohne Anstrengung möglich ist. Für Jung wie Alt gilt: Wir müssen uns konzentrieren, damit unser Gedächtnis richtig funktionieren kann. Wenn ich den Reichtum des Lebens genießen will, muss ich dem Gehirn eine Chance geben. Auch wenn man älter ist, sollte man versuchen, immer neue Erfahrungen in das Gehirn einzuspeichern. Wenn ich aber jeden Tag immer das gleiche mache, dann verliere ich die Zeit. Wenn nichts passiert, speichert man auch nichts mehr ein. Jeder Tag sollte vielmehr als eine Einheit inszeniert werden. Viele Menschen neigen aber leider dazu, vorwiegend in der Vergangenheit oder Zukunft zu leben. Aus dieser Gegenwartsverlorenheit sollten wir uns befreien.

WELT ONLINE: Ist es nicht so, dass gerade junge Leute sich nicht mehr richtig konzentrieren können.

Pöppel: Ja, ich beobachte an jungen Menschen einen Verlust der Fähigkeit, sich länger auf Dinge zu konzentrieren. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass gerade auch ein intensives kindliches Lernen ein guter Schutz vor Demenz im Alter ist. Wir treten in die Welt hinein mit genetischen Programmen von Möglichkeiten. Das ist ein Angebot der Natur an die Kultur. Durch Informationsverarbeitung wird dann das Gehirn geprägt und die Basis für Kreativität gelegt. Aber auch später kann man noch etwas für sein Gedächtnis tun. Die Wissenschaft legt nahe: Wenn man jeden Tag nur eine Viertelstunde in sein eigenes episodisches Gedächtnis schaut und gleichsam eine Zeitreise in seine eigene Vergangenheit macht, dann hat das einen sehr großen fördernden Effekt. Man fühlt sich dann wie befreit. Das kann jeder für sich machen, aber es erfordert Konzentration und ist anstrengend.

WELT ONLINE: Ist dies möglicherweise auch der Ansatz für eine neue Art der psychologischen Behandlung?

Pöppel: Ja, das denke ich durchaus. Man muss gar nicht im Unbewussten herumkramen, um Effekte zu erzielen. Es ist schon viel erreicht, wenn man in seiner eigenen Vergangenheit herumwandert. Das reinigt das Gehirn, und man lernt dabei auch, sich besser zu konzentrieren.

WELT ONLINE: Ist das nicht ein Wissen, das Religionen bereits seit Jahrtausenden haben? Dass sich mentale Effekte etwa durch das Beten von Psalmen oder Aufsagen von Mantras erzielen lassen?

Pöppel: Ja, sowohl im Zen-Buddhismus, als auch im Christentum gibt es genau diese Phasen der Konzentration auf Sachverhalte, um sich zu befreien. Damit ist eben nicht Zerstreuung gemeint. Die meisten Menschen leben jedoch heute in einer Zerstreuungswelt.

WELT ONLINE: Im Fernsehen gibt es immer häufiger sehr schnell geschnittene Szenenfolgen zu sehen. Wie wirkt sich dies auf die Gedächtnisfähigkeit aus?

Pöppel: Das Gehirn gibt einen Zeitrhythmus für das Gegenwartsbewusstsein von etwa drei Sekunden vor. Wenn man Bilder schneller schneidet, dann wird im Gehirn nur Erregung erzeugt, aber nichts mehr gespeichert. Wenn das menschliche Maß der Informationsverarbeitung nicht berücksichtigt wird, kann die Aufnahme von Informationen auch zur Verblödung führen.



Das Interview führte Norbert Lossau

Professor Ernst Pöppel ist Vorstand des Instituts für Medizinische Psychologie in München und geschäftsführender Vorstand des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig-Maximilians-Universität. Darüber hinaus wissenschaftlicher Ko-Direktor des "Parmenides-Center for the "Study of Thinking" in Elba und München sowie wissenschaftlicher Leiter des "Generation Research Programs" in Bad Tölz.


*Nota.

Das ist das einzige 'Ich' , von dem der Empiriker reden kann; es ist das Bild von einem Bild - aber eines, das ich mir wirklich mache. Das sogenannte "Ich der Philosophen", über das einige von Ernst Pöppels Kollegen spintisieren, kommt in der Realität gar nicht vor, und das hat auch nie jemand behauptet. Es "kommt vor" in der philosophischen Spekulation, nirgends sonst, und dass die Forscher es in den wirklichen Gehirnen nicht finden würden, hätte man ihnen vorher sagen können; warum haben sie nicht gefragt?
JE

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE      

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