aus NZZ, 19. 2. 2014
Den Stecker ziehen
Über die Sehnsucht nach einem Leben ohne Internet und die falsche Vorstellung von zwei Welten
Über die Sehnsucht nach einem Leben ohne Internet und die falsche Vorstellung von zwei Welten
von Eduard Kaeser
Bereits werden Entgiftungskuren für Netzabhängige auf dem Therapiemarkt angeboten und «Offline»-Tage ausgerufen. Das hat etwas für sich - allerdings nur, wenn darob nicht vergessen geht, dass wir nicht in zwei Welten leben, einer virtuellen und einer echten, sondern in einer einzigen Welt: als Mischwesen.
Paul Miller zum Beispiel, ein junger Technikjournalist, übte sich in einjähriger Internet-Enthaltsamkeit. Er schrieb in geradezu verzückter Tonlage des Illuminierten: «Anfang 2012 war ich 26 Jahre alt und ausgebrannt. Ich wollte eine Auszeit vom modernen Leben - von dem Hamsterrad der E-Mail-Box und der ständigen Flut der WWW-Informationen, die meine Gesundheit ersäuften. Ich wollte fliehen [. . .] Das 'reale Leben' wartete vielleicht auf der anderen Seite des Web-Browsers auf mich. Wie es schien, wurde meine Vermutung in den ersten Monaten bestätigt. Das Internet hatte mich von meinem wahren Selbst zurückgehalten, dem besseren Paul. Ich habe den Stecker herausgezogen und das Licht gefunden.»
«IRL»
Ein Diskurs über digitale
Abstinenz scheint Platz zu greifen. Zum Internet-Slang gehört
beispielsweise das Kürzel «IRL»: In Real Life. Es wird in Online-Chats
gebraucht, um einen Gesprächspartner oder Mitspieler als
realitätsfremden Geek blosszustellen; etwa so: «Ich spreche von meinen
Freunden IRL, nicht von dir, du Loser.» Offenbar gewinnt das Leben
offline gerade in Online-Foren an besonderer Bedeutung und Würde - vor
dem Hintergrund eines «digitalen Dualismus», wie ihn der Mediensoziologe
Nathan Jurgenson nennt: falsches, krankes, unnatürliches Leben im Netz -
wahres, gesundes, natürliches Leben ausserhalb.
Nun ist nicht zu leugnen, dass die
«digitale» Lebensform Entfremdungen, Verkümmerungen, Süchte schafft.
Aber eingedenk des alten medizinischen Wortes, dass eine Krankheit erst
da existiert, wo auch eine Diagnose ist, wäre gerade angesichts der
neuen Netz-Gewohnheiten zu Vorsicht zu raten - es gibt unter Ärzten
vermutlich mehr Kontroversen als Konsens über pathogene Wirkungen des
Netzes. Nichtsdestoweniger verzeichnet die Chronik der laufenden
Pathologisierung Bücher mit suggestiven Titeln wie «Was das Internet mit
unserem Gehirn anstellt» oder «Digitale Demenz»; und die Vereinigung
amerikanischer Psychiater erwägt, infolge von Netzbenutzung entstehende
Gebresten - «internet use disorder» - ins Handbuch psychischer
Krankheiten aufzunehmen. Parallel dazu beginnt ein Wellness- und
Reha-Markt ins Kraut zu schiessen, mit entsprechenden Therapieangeboten.
Unlängst erlangte der englische Kinderpsychiater Richard Graham eine
gewisse Berühmtheit, als er ein vier Jahre altes Mädchen wegen dessen
vermeintlicher Tablet-Abhängigkeit behandelte. «Englands jüngste
iPad-Süchtige», vermeldete eine Schlagzeile.
«Disconnect to reconnect»
Der Internet-Ausstieg nimmt
bereits die Gestalt einer Bewegung an, die unter dem Banner «digitale
Entgiftung» («digital detox») Wind macht. In Artikeln und Blogs blüht
das Genre der Selbsterfahrung und Selbsthilfe: «Wie eine wöchentliche
digitale Entgiftungskur mein Leben änderte» oder «Warum wir so an der
Technik festgehakt sind (und wie wir den Stecker herausziehen können)».
Der Begriff «digital detox» ist neuestens in den Oxford Dictionary
Online gelangt: «Die Zeitspanne, in der eine Person auf den Gebrauch von
elektronischen Smartphones oder Computer verzichtet, um Stress zu
vermindern oder sich auf soziale Begegnungen in der physischen Welt zu
konzentrieren.» In der Schweiz ist im letzten Dezember ein «Offline-Day»
erprobt worden. In den USA findet ein «National Day of Unplugging»
statt. Das Esalen-Institut an der Pazifikküste, berühmt geworden als
Abflugrampe für spirituelle Raumflüge, bietet den «Digital Detox
Retreat» an unter dem Motto «Disconnect to reconnect». In eingeweihten
Ohren klingt das alte Hippie-Motto «Turn on, tune in, drop out» nach,
nun in seiner Internetversion: «Log out!» Man mag hinter der Suche nach
dem wahren Leben einen modischen Hype vermuten - eine «Fetischisierung
des IRL», wie Jurgenson das nennt. Aber solche Sorgen und Anstrengungen
drücken ein uraltes und ernstes Problem aus, das jede Person auf ganz
individuelle Weise heimsucht.
Menschen haben den mehr oder
weniger starken Drang, jemand zu sein, eine Person eben - jemand
Unverwechselbares. Wir lernen von klein auf, uns darzustellen, eine
Rolle zu spielen, uns selbst als diese oder jenen zu erfinden. «Persona» heisst auch «Maske». Masken und Rollen auszuprobieren, gehört zum
Heranwachsen und In-die-Gesellschaft-Hineinwachsen. Früher gaben - etwas
vereinfacht gesagt - Familie, Schule, Kirche, Beruf vor, wer man war.
Heute ist das soziale Netz viel offener, dadurch auch haltloser. Man
sucht Identität über soziale «Performance» und flüchtige
Zugehörigkeiten: zur Firma, zum Fanklub, zum Facebook-Freundeskreis. Es
gibt nicht «das» Selbst, es gibt Angebote des Selbst-Seins. Es gibt
Ich-Rollen, Ich-Futterale, Ich-Surrogate.
Mischexistenz
Sollen wir also, da doch ohnehin
alles Fake ist, die Idee eines wahren Lebens aufgeben? Nein. Aber die
Gleichung «offline = real» ist grundfalsch. Der eingangs erwähnte Paul
Miller entdeckte nach einem Jahr, dass die Abstinenz ihn nicht realer
oder wahrer gemacht hatte, als er es ohnehin schon war. Diese Einsicht
ist so umwerfend neu nicht, aber dennoch aufschlussreich. Denn sie
unterstreicht den fundamentalen Punkt: Es gibt nicht eine Welt des
Physischen und eine Welt des Digitalen. Es gibt eine einzige Welt, in
der Atome und Bits Platz haben. Das ist nicht erst so, seit wir unsere
Alltagswahrnehmung mit Netz-Anschlussgeräten erweitern. Das Virtuelle -
Imaginäre oder Fiktive - ist dem Physischen immer schon beigemischt. Der
schottische Philosoph David Hume gibt einmal, in etwas anderem
Zusammenhang, das Beispiel des Mannes in einem Eisenkäfig, der in
luftiger Höhe an einem Turm sicher befestigt ist. Trotz der Sicherheit
könne sich dieser Mann des Zitterns nicht erwehren. Warum nicht? Weil er
sich durchaus vorstellen kann, hinunterzufallen. Imagination übersteigt
stets die Grenzen der gegebenen Situation. Das kann wunderbar sein oder
auch angsteinflössend. Sind wir dabei, zu vergessen, dass es die
«augmented reality» immer schon gegeben hat, in Gestalt von Kunst,
Literatur, Theater, Musik?
Man fühlt sich an das 18.
Jahrhundert erinnert, als Rousseau die Vorstellung eines natürlichen
Lebens vor dem Kontrasthintergrund des gekünstelten nährte. Damals waren
es die verderbten Sitten, die den Wunsch nach dem Natürlichen weckten,
heute ist es das Internet, das die Vision eines Lebens «unplugged»
wachruft. Nicht, dass die zahlreichen verstörenden, entfremdenden, krank
machenden Phänomene im Umgang mit den neuen Medien zu verharmlosen
wären. Aber indem man dem Online-Offline-Paar den Dualismus von krank -
gesund, anormal - normal, unecht - echt aufprägt, verschärft man eher
die Probleme.
Anders gesagt: Wer von «krank»,
«unecht», «anormal» spricht, führt stets ein Vorverständnis des
Gesunden, Echten, Normalen ins Treffen. Und ein solches Vorverständnis
bevorzugt den Status quo, verteidigt ihn gegebenenfalls mit dem
normativen Knüppel. Hat nicht unlängst ein von pastoraler Sorge um die
Normalität getriebener Kirchenmann die Gender-Forschung hirtenbrieflich
als wider Natur und Gottesordnung abgekanzelt? Michel Foucault
sensibilisierte für das repressive Potenzial, das im Echten, Gesunden
und Normalen steckt - und heute erscheint nichts dringender, als mit
kritischer Sensibilität der Mischexistenz innezuwerden, die wir im
Umgang mit den neuen Medien führen.
Die Mischexistenz ist der
Normalzustand. Wer am Morgen zu Kaffee und Gipfeli auf dem Tablet liest,
exemplifiziert diesen Normalzustand in seiner vollen Banalität: Er
nimmt sowohl Atome als auch Bits zu sich. Makroskopisch gesehen verhält
es sich mit Online und Offline so, wie wenn wir in einer Salatsauce
lebten, in der sich Öl und Essig nur schwer, falls überhaupt, scheiden
lassen. Aber gerade deshalb sollten wir ein kulturelles Trennverfahren
pflegen, in Form einer medialen Mikrokompetenz, über die wir alle
verfügen. Sie lässt sich mit einem einfachen, unprätentiösen Wort
charakterisieren: Unterscheidungsvermögen. Es gilt entscheiden zu
lernen, wann ich das Gerät gebrauchen will und wann nicht; wann ich ihm
trauen soll und wann nicht. Genau dieses Vermögen überbrückt den
vermeintlichen Dualismus.
Augen, Ohren, Nerven verpachten?
«Augmented reality» ist ein
Euphemismus für das Suchtpotenzial all der schönen smarten Dinge, die
optimiert werden, uns zu sagen, was wir tun und lassen sollen. Dahinter
stecken natürlich die Entwickler. Höchste Zeit, deren Menschenbild zu
durchleuchten, das sie in ihre Gadgets zum alleinigen Zweck der
Wertschöpfung verpacken. Zu vermuten steht, dass der eigenständige, der
«echt» unterscheidungsfähige Mensch darin kaum noch Platz findet. Und
genau das ist die Katastrophe, die sich still und flächendeckend in
Gestalt des entfesselten Elektronikmarktes ereignet. Wie schrieb
Marshall McLuhan vor fast fünfzig Jahren: «Unsere Augen, Ohren und
Nerven an kommerzielle Interessen zu verpachten, ist fast das gleiche,
wie wenn man die menschliche Sprache einem Privatunternehmen übergäbe,
oder die Erdatmosphäre zu einem Monopol einer Firma machte.» - Sind wir
auf dem besten Weg in diese schlechteste aller möglichen Welten?
Dr. Eduard Kaeser, ehemals Gymnasiallehrer für Physik und Philosophie an der Kantonsschule Olten, ist als freier Publizist tätig. 2012 ist im Basler Schwabe-Verlag «Multikulturalismus revisited. Ein philosophischer Essay über Zivilisiertheit» erschienen.
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