Keine Angst vor der Wahrheit
Der amerikanische Philosoph Paul Boghossian streitet wider Relativismus und Konstruktivismus
Der amerikanische Philosoph Paul Boghossian streitet wider Relativismus und Konstruktivismus
von Andrea Roedig
Relativismus und Konstruktivismus bilden in
weiten Teilen der Kultur- und Sozialwissenschaften eine methodologische
Hintergrundüberzeugung. Der amerikanische Philosoph Paul Boghossian
sieht darin eine «Angst vor der Wahrheit», die er den Lesern seines
Buches gleichen Titels zu nehmen versucht.
In den Kulturwissenschaften, in
den Gender-Studies, aber auch in weiten Zweigen der Sozialforschung
gehört die Annahme einer «sozialen Konstruktion der Wirklichkeit» zur
Geschäftsgrundlage, dem Common Sense jedoch ist diese Weltsicht nur sehr
bedingt zu vermitteln. In diese Situation trifft Paul Boghossians Buch
«Angst vor der Wahrheit». Der an der New York University lehrende
Philosoph will für ein breiteres Publikum die Motive des
Sozialkonstruktivismus benennen und das Für und Wider prüfen.
Boghossian weist auf die tiefe
Kluft hin, die sich in den «science wars» zwischen natur- und
kulturwissenschaftlicher Weltauffassung geöffnet hat, und betont, dass
der postmodern inspirierte Relativismus die gesamten Geistes- und
Sozialwissenschaften ergriffen habe, mit Ausnahme der Bastion der
analytischen Philosophie, in deren Tradition er selber steht. Die
Positionen, mit denen sich das Buch vornehmlich beschäftigt, sind
älteren Datums, vor allem Richard Rorty, aber auch Ludwig Wittgenstein
und Thomas Kuhn dienen als Folie der Auseinandersetzung. Ganz in
analytischer Manier unterscheidet Boghossian drei verschiedene Formen
des Relativismus: Der «Tatsachenrelativismus» behaupte im Geiste Kants,
dass die Gegenstände der Welt nicht an sich, sondern immer nur über
unsere Beschreibung zugänglich seien. Der «Berechtigungsrelativismus»
bestreite, dass eine Information notwendig zu einer bestimmten Meinung
berechtige. Und eine dritte Form des Relativismus stelle die Möglichkeit
rationaler Begründung generell in Abrede. Alle drei Positionen
präsentiert Boghossian ausführlich, um sie dann mittels logischer
Operationen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Dem
Tatsachenrelativismus weist er einen infiniten Regress nach. Die beiden
anderen Formen des Relativismus überführt er der
Selbstwidersprüchlichkeit und der Inkohärenz.
Interessant an Boghossians
Vorgehen ist, dass er der Gegenseite zuweilen viel Kredit einräumt. Vor
allem die Auffassung, es könne zwischen zwei einander widersprechenden
«epistemischen Systemen» keine letzte Entscheidung zugunsten einer
Wahrheit geben, führt Boghossian so plausibel aus, dass man immer nur
nicken möchte, mit Wittgensteins Satz im Kopf: «Wo sich wirklich zwei
Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen können, da
erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.» Letztlich läuft
jede von Boghossians Argumentationen darauf hinaus, zu zeigen, dass
relativistische Annahmen, wenn man sie nur sorgfältig genug
auseinandernimmt, Inkohärenzen aufweisen. Wir kämen nicht umhin, von
absoluten Tatsachen und objektivem Wissen auszugehen, so lautet die
Botschaft. Epistemische Grundsätze und logische Schlussfolgerungen
gälten universal, und so kann Boghossian mit ihrer Hilfe fleissig alle
möglichen Relativismen als Scheingebilde entlarven. Das Problem ist
allerdings, dass «Angst vor der Wahrheit» zwischen den Traditionen bzw.
Strömungen nicht vermitteln kann. Das Laienpublikum, an das sich das
Buch - wie es behauptet - auch wendet, wird den mitunter ermüdenden
analytischen Begriffsbaukasten-Spielen vielleicht über weite Strecken
folgen, doch dann womöglich stutzen, weil die Widerlegung der einzelnen
Relativismen immer sehr knapp ausfällt und mitunter wenig einleuchtet.
Boghossian kämpft mit altbekanntem
Geschütz in altbekannten Gräben, seine Argumente werden das Publikum
ausserhalb der sprachanalytischen Bastion daher kaum überzeugen. Dabei
stimmt aber durchaus etwas an seinem Verdacht, die Annahme, alles sei
«konstruiert», lasse eine «Angst vor der Wahrheit» erkennen. Es wäre für
den Konstruktivismus an der Zeit, feiner zu differenzieren, und
vielleicht ist auch eine «unaufgeregte Aufklärung», wie sie Markus
Gabriel in seinem instruktiven Nachwort fordert, an der Zeit. Gabriel
geht das Problem wesentlich stärker gegenwartsbezogen und pointierter an
als Paul Boghossian.
Die These von der sozialen
Konstruktion war nur interessant und als Provokation wirksam in ihrer
vernunftwidrigen Radikalität. Nur so konnte sie auch die Bedeutung
erlangen, die sie noch immer hat. Jetzt aber müssten die Verfechter
eines Sozialkonstruktivismus sich den Argumenten eines erstarkenden
Realismus stellen und selbst fragen, wie weit denn ihr Relativismus
reicht. Dies wäre allein deshalb schon notwendig, um nicht in der
nächsten Runde unreflektiert und der Abwechslung halber - im Nachvollzug
des «material turn» - ins andere Extrem zu kippen und nun von den
Dingen, der «Dingkultur» und einer Materie zu schwärmen, die ohne den
Menschen auskomme.
Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch. Mit einem Nachwort von Markus Gabriel. Suhrkamp, Berlin 2013. 164 S., Fr. 22.90.
Nota.
Dass sich ohne die Prämisse, dass Wahrheit sei, nichts Vernünftiges denken läst, bedeutet noch nicht, dass es sie wirklich gibt.
JE
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