aus NZZ, 15. 2. 2014 Philippe Pinel at the Salpêtrière, 1795 by Tony Robert-Fleury.
Erfasst der Blick ins Hirn die Psyche?
Wie ein Psychiater und ein Neuroinformatiker die Chancen neuer Technologien zur Krankheitserkennung beurteilen
Die Invalidenversicherung Luzern setzt
Hirntests ein, auch in der Psychiatrie hält die Neurologie Einzug. Der
in Zürich forschende Neuroinformatiker Klaas Enno Stephan und Psychiater
Michael Rufer warnen vor übertriebenen Erwartungen.
Herr Rufer, mit welchen psychischen Störungen sind Sie in Ihrer Klinik häufig konfrontiert?
Michael Rufer: Da unsere
Klinik zum Universitätsspital gehört, ist die Psychosomatik ein
Schwerpunkt. Oft geht es also darum, herauszufinden, welche Leiden
körperlich und welche psychisch bedingt sind. Daneben haben wir
häufig mit Angst- und Zwangsstörungen, mit Depressionen oder Folgen von
Traumatisierungen zu tun. Eher selten sind klassische psychiatrische
Erkrankungen wie die Schizophrenie.
Wie zeigt sich krankhaftes Verhalten?
Rufer: Depressive Patienten
zum Beispiel fühlen sich niedergeschlagen und antriebslos. Auch
Menschen mit Angst- oder Zwangsstörungen leiden unter ihrer Krankheit.
Ängste und Zwänge schränken ihr Leben ein.
Herr Stephan, Sie analysieren solches Verhalten im Hirn. Wie soll man sich das vorstellen?
Klaas Enno Stephan: Nein,
und es ist auch nicht unser Ziel, subjektiv erlebte Gefühlszustände
biologisch eins zu eins abzubilden. Unsere Ambitionen sind viel simpler:
Wir wollen die wahrscheinlichsten Mechanismen entschlüsseln, die zu
bestimmten Symptomen führen. Dazu entwickeln wir Messverfahren, die wir
zum Beispiel bei Schizophrenie-Patienten anwenden.
Was meinen Sie mit «Mechanismen»?
Stephan: Uns interessiert
die Übertragung von Informationen zwischen Neuronen und wie diese sich
bei Interaktionen mit der Umwelt ändert; wir konzentrieren uns also auf
die Plastizität. Solche Interaktionen lassen sich biologisch
beschreiben, die Plastizität lässt sich messen. Zudem können wir aus
Verhaltensmessungen die Algorithmen 'ablesen', die ein Mensch für
die Informationsverarbeitung einsetzt. Unser Ziel ist es, den Ärzten
präzisere Diagnose- und gezielte Therapiemöglichkeiten zu liefern, indem
wir solche Mechanismen messbar machen.
Sind Ihre Methoden vergleichbar
mit denjenigen der Invalidenversicherung Luzern, die mit Hirntests die
Arbeitsunfähigkeit gewisser Gesuchsteller überprüft?
Stephan: Meines Wissens
nicht - wobei ich nur die Berichte aus der Presse kenne. Ich wäre
allerdings erstaunt, wenn die IV-Stelle wirklich versuchen würde, mit
Hirnstrommessungen ganz allgemein kranke von gesunden Menschen zu
unterscheiden.
Weshalb zweifeln Sie?
Stephan: Es gibt dazu keine
seriös validierte Grundlage, hingegen gibt es viele Studien zu
Veränderungen der Hirnaktivität bei psychischen Krankheiten. Wir wissen,
dass sich verschiedene psychische Störungen markant voneinander in den
Hirnaktivitäten unterscheiden und dass diese Unterschiede sich bei
unterschiedlichen psychischen Prozessen anders darstellen. Es ist
abwegig, alle psychischen Erkrankungen über einen Leisten schlagen zu
wollen.
Rufer: Die IV Luzern will
meines Wissens damit keine Diagnose stellen, benutzt aber sogenannte
ereigniskorrelierten Potenziale im EEG, um festzustellen, ob bestimmte
Defizite und Beschwerden tatsächlich vorhanden sind.
Die IV will damit beweisen, ob jemand simuliert oder nicht. Ist das möglich?
Rufer: Nein, das ist
wissenschaftlich absolut unhaltbar. Im Einzelfall kann man nie sicher
sagen, wie das Ergebnis zu bewerten ist. Und ausserdem müsste bei
der Interpretation das ganze Setting mit einbezogen werden: Lässt jemand
freiwillig seine Hirnströme messen, wie beispielsweise im Rahmen von
Forschungsprojekten, funktioniert das Gehirn ganz anders als in einer
Stresssituation. Steht jemand unter Druck und ist nervös, verändert das
die biologischen Reaktionen des Gehirns.
Beim Traumapatienten sind Lebensereignisse der Grund für die Krankheit. Solche Ereignisse lassen sich doch nicht visualisieren.
Stephan: Nein, natürlich
nicht. Aber die Erlebnisse eines Menschen prägen sein Hirn, und
umgekehrt bestimmt die sich stetig ändernde Struktur eines Hirns zu
einem gewissen Teil, wie ein Mensch soziale Erlebnisse sucht. Die
Prinzipien dieses Wechselspiels und dessen Ausprägung auf zellulärer
Ebene sind inzwischen gut bekannt. Die Ursache eines Traumas ist uns
aber nicht zugänglich, alles, was wir darüber wissen, entnehmen wir dem
Bericht des Patienten. Wir können das, was der Patient erlebt hat, nicht
rückgängig machen. Aber wir können den Ist-Zustand des Gehirns ändern,
entweder durch Psychotherapie oder mit Medikamenten.
Herr Rufer, ist man sich darin auch unter Psychiatern einig?
Rufer: Ja, absolut. Vor
etwa zwanzig Jahren zeigten zwei bahnbrechende Studien, dass Menschen
mit Zwangsstörungen andere Hirnfunktionen haben als Menschen ohne solche
Störungen. Es stellte sich zudem heraus, dass sich dank einer
erfolgreichen Psychotherapie die Hirnfunktionen normalisieren.
Inzwischen wurden solche Nachweise schon x-mal erbracht.
Eine psychologische Intervention ist also dann erfolgreich, wenn sich dadurch das Hirn verändert.
Rufer: Ja, solche
Erkenntnisse der Neurowissenschaften machen klar, dass eine Trennung
zwischen der biologischen, psychologischen und sozialen Sichtweise nicht
mehr sinnvoll ist. Jede psychische Krankheit hat neben einer
psychologischen und sozialen Seite auch eine biologische Komponente.
Keine ist per se richtig oder falsch, sondern man muss die
unterschiedlichen Sichtweisen des gleichen Phänomens zusammenführen.
Noch wissen wir nicht genau, wie die Biologie des Gehirns durch
Psychologie veränderbar ist. Aber es wäre ein riesiger Fortschritt, wenn
wir Untergruppen bestimmter Krankheiten biologisch identifizieren
könnten.
Warum sind psychiatrische Diagnosen so schwierig?
Rufer: Sie sind rein
deskriptiv und entsprechend oberflächlich. Wenn ein Patient sagt, er
habe eine Depression, sagt mir das noch nicht viel. Ich versuche dann in
Gesprächen, unter Einbezug seiner Lebensgeschichte, herauszufinden, wie
die Depression entstanden ist und was sie für ihn bedeutet. Das Ziel
ist jedoch das gleiche wie jenes der Neurobiologen, nämlich die
Depression genauer zu verstehen, um dann eine individualisierte Therapie
anzubieten . . .
. . . und je nachdem ein bestimmtes Medikament auszuprobieren.
Rufer: Das ist bei
Medikamenten die Crux. Wir haben keine Möglichkeiten, die Wirkung im
Einzelfall vorherzusagen. Das wissen wir erst nach einigen Wochen.
Allerdings arbeiten wir in unserer Klinik mehrheitlich
psychotherapeutisch.
Stephan: Den Psychiatern
fehlen auf Prinzipien beruhende Indikatoren. Deshalb sind sie auf
Versuch und Irrtum angewiesen. Diesen Kreislauf möchten wir
durchbrechen, indem wir den Pfad von der Biologie zum Symptom finden,
das je nachdem soziale Ursachen hat. Wir möchten die Ursache eines
Symptoms messbar machen, um zielgerichtete Pfade der Behandlung
aufzuzeigen.
Rufer: Wobei Sie nicht die eigentliche Ursache aufzeigen, sondern das biologische Korrelat.
Stephan: Einverstanden, Ursache im Sinn einer schweren Kindheit können wir nicht präzis auflösen.
Rufer: Wichtig ist mir,
festzuhalten, dass wir über Gespräche individuelle Diagnosen stellen und
Therapieplanungen anbieten, die nicht auf Versuch und Irrtum beruhen.
Könnten wir auch noch ins Hirn schauen, hätten wir aber eine bessere
Diagnostik als heute.
Also spielt das Individuelle,
die Persönlichkeit - auch wenn sie neurologisch nicht fassbar ist - eine
zentrale Rolle für den Erfolg der Therapie.
Rufer: Ja, wir müssen
herausfinden, wie eine Depression individuell zustande gekommen ist und
wie es gelingen kann, sie wieder loszuwerden. Das hängt auch von der
Persönlichkeit des Patienten ab.
Stephan: Im Unterschied zu
anderen Neurowissenschaftern wollen wir nicht grosse Begriffe wie
Persönlichkeit oder Bewusstsein erklären. Als Mediziner möchte ich ganz
spezifische Probleme im Alltag lösen, immer mit der klinischen Anwendung
vor Augen.
Rufer: Eine präzise
Diagnose allein nützt allerdings nichts, wenn der Patient die dafür
geeignete Behandlung nicht mitmachen kann oder will, weil er
beispielsweise Angst davor hat. Der subjektive Aspekt ist genau so
entscheidend wie der objektiv-biologische.
Stephan: Dem stimme ich zu.
Wobei ein Patient, der weiss, dass sich dank einer Psychotherapie seine
Hirnfunktionen verändern wird, motivierter ist. Werden psychische
Erkrankungen biologisch verstanden, nimmt zudem die Last der
Stigmatisierung ab. Denken Sie nur an die Epilepsie. Früher galten
epileptische Menschen als von Dämonen Besessene.
Rufer: Einverstanden. Aber
auch wenn man weiss, dass eine psychische Erkrankung mit
neurobiologischen Veränderungen einhergeht, ist die Erkrankung nicht
wirklich erklärt. Offen bleibt, weshalb gerade diese Person solche
Veränderungen hat und andere nicht. Offen bleibt auch, ob die
Veränderungen die Ursache oder nur der Spiegel der psychischen
Erkrankung sind.
Interview: Dorothee Vögeli