Freitag, 27. Juli 2018

Zählen in der Steinzeit.

Diese Reihen von Ritzspuren auf einer 35.000 bis 30.000 Jahre alten Mammutrippe könnten steinzeitliche Zählmarken sein - aber wofür?
aus scinexx                                            Reihen von Ritzspuren auf einer 35.000 bis 30.000 Jahre alten Mammutrippe

Steinzeit-Fund gibt Rätsel auf
Schwäbische Alb: Ritzreihen auf einer Mammutrippe ähneln Zählmarken – aber wofür? 

Kalender, Spielstände oder rituelles Muster? In einer Höhle der Schwäbischen Alb haben Forscher eine Mammutrippe entdeckt, die ihnen Rätsel aufgibt. Denn der gut 30.000 Jahre alte Fund trägt Reihen von Ritzungen, die von Steinzeitmenschen stammen müssen. Das Muster der Ritzmarken spricht dafür, dass mit ihnen etwas gezählt wurde – aber was? Noch ist unklar, ob es sich bei diesem Fund um einen Steinzeit-Kalender, um Spielstände oder Notizen zu bestimmten Tätigkeiten handelte.

Die Höhlen der Schwäbischen Alb waren bereits vor 40.000 Jahren wichtige Rückzugsorte für unsere Vorfahren. Davon zeugen einzigartige Funde aus der Altsteinzeit, darunter die Venus vom Hohle Fels, die älteste Menschenfigur der Welt. Aber auch kunstvolle Tierfiguren und FlötenVogelknochen wurden in den inzwischen zum UNESCO-Welterbe erklärten Höhlen entdeckt. 

Zwei Reihen paralleler Kerben

Jetzt jedoch gibt ein neuer Fund selbst den erfahrene Archäologen Rätsel auf. Nicholas Conard von der Universität Tübingen und sein Team haben in der Hohle Fels-Höhle eine Mammutrippe gefunden, die 30.000 bis 35.000 Jahre alt ist. Das Besondere an ihr: Das rund 44 Zentimeter lange Fundstück ist von Steinzeit-Menschen bearbeitet worden. An der dickeren Kante der Rippe sind zwei Reihen von Markierungen erkennbar.

Die parallelen Ritzspuren bilden zwei Blöcke von einmal 83 und einmal 90 Kerben. An anderer Stelle weist die Rippe weitere 13 schwächere und längere Einschnitte auf, wie die Forscher berichten. Alle Markierungen sind ihren Angaben nach gut erkennbare, saubere Einschnitte, die mit Sicherheit gezielt platziert wurden. Sie unterscheiden sich in Länge und Tiefe und wurden daher wahrscheinlich nicht in einem Durchgang eingeritzt.


Die Mammutrippe an ihrem Fundort in der Hohle-Fels-Höhle
Die Mammutrippe an ihrem Fundort in der Hohle-Fels-Höhle
Zählmarken, Spielstände oder Kalender?

"Die entscheidende Frage ist nun, welche Funktion dieser Fund besaß", sagt Conard. Denn passende Vergleichsstücke gebe es weder aus Süddeutschland noch aus anderen Regionen der Welt. Die Archäologen vermuten, dass die Steinzeitmenschen mit diesen Ritzmarken etwas zählten. "Wir vermuten stark, dass die Rippe als Informationsträger diente", so Conrad.
 

Aber was wurde gezählt? "Es ist unbekannt, ob es hier um Jagdbeute, Menschen, Tage, Mondzyklen oder etwas anderes ging", so Conard. "Eine Art von Kalender ist zwar naheliegend, aber die Zahlen 83, 90 und 13 ergeben für uns kein klares System." Die Ritzmarken könnten auch Notizstriche von komplizierten Arbeitsschritten oder Spielstände von einem altsteinzeitlichen Spiel sein.

Funktion bleibt rätselhaft 

"Diese Mammutrippe steht in ihrer Interpretation zwischen komplexer symbolischer Bedeutung und einer ganz praktisch orientierten Nutzung im Alltag", sagt Stefanie Kölbl vom Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren (urmu). Doch die genaue Funktion dieses Funds bleibt vorerst rätselhaft. Ideen zur Funktion sind daher durchaus willkommen – sowohl im urmu als auch auf der Facebook-Seite des Museums. "Wir freuen uns darauf, mit unseren Besuchern eine spannende Diskussion darüber zu führen, wofür die Reihen aus 13, 83 und 90 Strichen wohl stehen könnten", so Kölbl.

(Eberhard Karls Universität Tübingen, 27.07.2018 - NPO)


Nota. - Am liebsten wär mir ein Kalender. Doch was immer sonst es wäre: Entscheidend ist, dass das Zählen nicht aus dem Vergleichen von Mengen, sondern aus dem Nach Einander entstanden ist: aus der Anschauung der Zeit - während die Mengen im Raume liegen.
JE


 

Montag, 23. Juli 2018

Der Plasmazustand.

via GIPHY

aus welt.de, 23. 7. 2018

So macht uns Plasma Feuer unterm Hinte
Wenn es Elektronen zu heiß wird, trennen sie sich von ihren Lebensgefährten, den Atomkernen. Was dann passiert, ist ziemlich ungesund, sieht aber spektakulär aus. Wir erklären dir, was es mit dem Plasmazustand auf sich hat.

Von Marko Milovanovic 

Wenn du’s heiß magst, bist du hier ganz richtig. Denn wir kümmern uns um den heißesten Aggregatzustand, den es gibt. Nicht fest, nicht flüssig oder gasförmig, heute geht’s um den Plasmazustand. Der wird neben den ersten drei nämlich oft etwas stiefmütterlich behandelt, obwohl er im Universum eine ganz zentrale Rolle spielt.

Der Aggregatzustand eines Stoffes hängt von seiner Temperatur ab.

Denn je höher die Temperatur, desto mehr bewegen sich die Moleküle. Bei -273,15 Grad Celsius, dem absoluten Nullpunkt, wären sie vollkommen regungslos – egal, um welche Moleküle es sich handelt. Je wärmer es wird, desto mehr Bewegung kommt in die Sache. Ist ein Stoff gasförmig, herrscht bereits ziemlich Betrieb unter den Molekülen. Wird er noch heißer, haben die Elektronen genug und verabschieden sich von ihren Atomen, um die sich vorher alles für sie drehte.

Atomkerne sind positiv geladen, Elektronen negativ. In den Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig, gleicht sich die Ladung von Atomen und ihren Elektronen aus, sie sind also nicht elektrisch geladen. Nehmen die Elektronen aber Reißaus, ionisieren sich die Atomkerne.
 
Plasma: Vierter Aggregatzustand kmpkt erklärt

Sie sind positiv geladen und bewegen sich unabhängig von den negativ geladenen Elektronen in einem Teilchengemisch: dem Plasma.

Auf der Erde passiert das glücklicherweise nur selten. Denn wenn es passiert, wird’s ungemütlich. Zum Beispiel bei Gewitter. Ein Blitz entsteht durch die elektrisch aufgeladene Atmosphäre. Sichtbar wird Plasma außerdem beim Polarlicht. Das Leuchten entsteht, wenn der Sonnenwind (ein Plasmastrom geladener Teilchen, der von der Sonne ausgestoßen wird) auf die oberen Schichten der Erdatmosphäre trifft. Im Weltall findet man Plasma sehr häufig.
 


Genau genommen bestehen 99 Prozent der sichtbaren Materie im Universum aus Plasma – alles, was von selbst leuchtet.

Schnell weg...
Sterne bestehen aus Plasma, Gaswolken bestehen aus Plasma. Sehen wir vom Mond und erdnahen Planeten wie der Venus ab, die du nachts mit bloßem Auge erkennen kannst, ist alles, was am Nachthimmel leuchtet, Plasma. Das Universum ist also ziemlich geladen.

Deswegen ist es gut, dass uns das Magnetfeld der Erde vor den Plasmaströmen der Sonne schützt, denn es lenkt die geladenen Teilchen von uns weg, die uns ansonsten die Hölle heiß machen würden. Genauer gesagt würden sie die Molekularstruktur deines Körpers zerschießen.

Noch krasser wäre das bei den Plasmaströmen, die ein Schwarzes Loch erzeugt. Du weißt ja, ein Schwarzes Loch hat so viel Masse, dass es alles um sich herum verschluckt, sogar Licht. Um Schwarze Löcher herum, die sich in Zentren von Galaxien befinden, entstehen rotierende Gasscheiben, die sich, je schneller sie werden, immer mehr erhitzen. Die Elektronen trennen sich von den Atomkernen, das Gas lädt sich auf und wird zu Plasma. Durch die Drehung erzeugt es ein Magnetfeld in der Mitte der Scheibe, über das ein Plasmastrom ins All geschleudert wird. Da möchte man lieber nicht im Weg stehen.


© Axel Springer SE.

Samstag, 21. Juli 2018

Der Sitz der Gestaltwahrnehmung.

Viking 1 fotografierte 1976 das Marshochland ­Cydonia Mensae
 aus derStandard.at, 21. 7. 2018

Neurowissenschafter finden Mechanismus der Gestalt- wahrnehmung 
Forscher identifizieren Hirnregion, deren Aktivität entscheidend ist

Graz/Tübingen – Die vielen visuellen Eindrücke, die täglich auf uns einströmen, zwingen unser Gehirn, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren: Es analysiert die optischen Informationen, ordnet sie und trifft eine Wahl – etwa ob bei Objekten nicht nur Details, sondern ihre Gesamtheit zu erfassen ist. Es gibt den Eindrücken erst einen "Sinn".

Auf welche Weise es das tut, bietet noch immer viel Platz für Forschungen. Nun hat ein Team des Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) in Tübingen und dem Institut für Psychologie der Uni Graz überprüft, was im Gehirn bei der Betrachtung von bestimmten Objekten passiert. Dabei zeichnete sich ab, dass bei der Gestaltwahrnehmung vor allem ein Areal im Seitenlappen der Großhirnrinde zuständig ist – der intra-parietale Sulcus (IPS). Ihre Erkenntnisse haben die Neurowissenschafter kürzlich im "Journal of Neuroscience" publiziert.

Versuchsreihe

Um herauszufinden, welche neuronalen Mechanismen bei der Gestaltwahrnehmung eine Rolle spielen, haben die Forscher den Probanden zweideutige visuelle Stimuli gezeigt. Dazu wurden insgesamt drei unterschiedliche bewegte grafische Darstellungen vorgelegt, die jeweils zwei- und dreidimensional gesehen bzw. interpretiert werden können. Parallel dazu wurde mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomo- grafie (fMRT) die Gehirnaktivität der Studienteilnehmer beobachtet.

"Bei allen drei Stimuli fanden wir eine gemeinsame Aktivität im IPS, wobei sie bei der komplexen, dreidimensionalen Interpretation in jedem Fall stärker als bei der einfachen war", berichtete Natalia Zaretskaya, vom Institut für Psychologie der Uni Graz. Die Probanden wurden auch gefragt, für welche Variante sie sich intensiver konzentrieren mussten, um sie zu erkennen. "Es zeigte sich, dass die Aktivität im IPS vom Grad der Konzentration unabhängig ist", hielt die Wissenschafterin fest.

"Da alle drei verschiedenen Stimuli dasselbe Ergebnis liefern, ist dies ein Hinweis darauf, dass das Aktivierungsmuster im IPS einen allgemeingültigen Mechanismus für die Gestaltwahrnehmung darstellen könnte", folgerte Pablo Grassi vom CIN in Tübingen. (APA, red,)

Abstract
Journal of Neuroscience: "A generic mechanism for perceptual organization in the parietal cortex"



Freitag, 20. Juli 2018

Der Fluch der Bibliometrie.


aus Tagesspiegel.de, 19. 7. 2018

Räuberische Fachverlage  
Veröffentlichen um jeden Preis
Tausende deutsche Forscher publizieren in Zeitschriften ohne wissenschaftliche Qualitätsstandards. Das ist vor allem ein Symptom für die zweifelhaften Anreize des Wissenschafts-Systems. Ein Gastbeitrag.
 
von Ulrich Dirnagl

Weltweit reichen Wissenschaftler namhafter Institutionen, auch der Charité, ihre Forschungsarbeiten bei Fachzeitschriften ein, die sich nicht an wissenschaftliche Standards halten. Diese "Raubverlage" lassen die Forschungsergebnisse nicht von Experten prüfen, sondern veröffentlichen – gegen Bezahlung – sogar frei erfundene Studien. Das ergab eine aktuelle Recherche. Sind Wissenschaftler, die in Raubjournalen veröffentlichen, also alle Schummler? Verschaffen sie sich berufliche Vorteile bei der Erteilung akademischer Würden?

Was sind Raubverlage?

Seriöse wissenschaftliche Verlage zeichnet aus, dass sie zur Veröffentlichung eingereichte Forschungsarbeiten durch andere Forscher begutachten lassen. Raubverlage sparen sich dieses aufwändige "Peer Review"-Verfahren und veröffentlichen die Arbeiten kurzfristig und ohne Änderungen auf ihren Websites. Dafür erheben sie eine Gebühr. Das tun allerdings auch einige der renommierten wissenschaftlichen Verlage.

Deshalb ist es für die Forscher nicht immer leicht zu erkennen, ob es sich um einen Raubverlag handelt. So wirken etwa die Emails, in denen sie bei Forschern um einen Aufsatz werben, durchaus seriös. Manche "Fake-Journals" haben eine lange Geschichte, waren einmal renommiert und haben erst später wissenschaftliche Standards über Bord geworfen.

Außerdem tragen die Scheinverlage oft wohlklingende Namen, die an die anerkannten Verlagshäuser erinnern. Die Täuschung geht mitunter sogar so weit, dass sich die Fake-Journals mit den Namen bekannter Forscher, auch von der Charité, schmücken, die als Herausgeber bezeichnet werden, obwohl diese gar nichts von ihrem zweifelhaften Glück wissen – in der Regel wurden sie nicht um Erlaubnis gefragt.

Publish or perish

Das zweifelhafte Geschäftsmodell der Raubverlage kann nur funktionieren, wenn sich für sie auch Kundschaft findet. Warum also lassen sich ordentliche Wissenschaftler auf so etwas ein? Die Erklärung dafür ist recht geradlinig. In der Wissenschaft gilt die Devise "Publish or perish": Wer nicht publiziert, fliegt raus.

Allein aus der Charité werden jährlich über 4000 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, mehr als 600 Promotionen und 50 Habilitationen abgeschlossen. Das liegt (auch) daran, dass die Qualität der Arbeit eines Forschers großteils an der Zahl seiner veröffentlichten Aufsätze gemessen wird. So werden etwa von Wissenschaftlern, die an der Charité die Lehrbefähigung (Habilitation) erlangen wollen, mindestens zehn begutachtete Originalarbeiten als Erst- oder Letztautor verlangt.

Ist das alles Scheinwissenschaft?

Wer sich die Artikel von Charité-Forschern in Raubjournalen im Detail anschaut, stellt fest: Das sind in den allermeisten Fällen korrekt durchgeführte und beschriebene Studien. Wie immer gibt es darunter bessere und schlechtere Arbeiten, wie das auch in der "normalen" biomedizinischen Literatur der Fall ist.

Etwa 70 Arbeiten aus der Charité, die das Rechercheteam gefunden hat, sind zu einer Zeit in einem Journal veröffentlicht worden, als dieses noch Gutachter konsultierte und einen ansehnlichen Ruf genoss.

Gespräche mit Kollegen, die in "räuberischen" Fachzeitschriften veröffentlichten, zeigen auch: Häufig handelt es sich um Studien, die sie zuvor bei verschiedenen, hochrangigen Journalen eingereicht haben, aber von den Gutachtern abgelehnt wurden. Das passiert häufig und muss nicht heißen, dass eine Arbeit nichts taugt – letztlich könnte man es sogar positiv werten, dass die öffentlich finanzierte Forschung überhaupt veröffentlicht wurde und so anderen Wissenschaftlern und der Allgemeinheit zur Verfügung steht.

Kein makelloses Begutachtungssystem

Außerdem muss man berücksichtigen, dass das "Peer Review" nicht die einzige und auch keine ideale Qualitätskontrolle ist. Oftmals ist es interessengeleitet oder einfach oberflächlich. Mitunter fordern die Gutachter auch zusätzliche Experimente, die von der Forschergruppe dann wegen Geld- oder Personalmangel nicht mehr durchgeführt werden können. Und nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die Redakteure oder Gutachter einer angesehenen Fachzeitschrift das Resultat einer Studie einfach nicht spektakulär genug oder gar „negativ“ einstufen und nur aus diesem Grund ablehnen.

Nicht auszuschließen ist allerdings, dass unter den Veröffentlichungen in Raubjournalen auch Betrügerisches zu finden ist. Dies muss nun überprüft und gegebenenfalls sanktioniert werden. Schwarze Schafe, die es in jedem System gibt, müssen gefunden werden. Das löst aber nicht das eigentliche Problem, das durch das Belohnungssystem der Wissenschaft entsteht.

Falsche Anreize: Masse statt Klasse

Raubverlage nutzen ein grundlegendes Problem des akademischen Karriere- und Anreizsystems aus. Wissenschaftler beurteilen sich häufig gegenseitig nach quantitativen, leicht messbaren Größen. Dazu gehört die Anzahl der Veröffentlichungen, das Renommee oder der Rang ("Impact factor") der Zeitschrift, in der sie erschienen sind. Auch die Höhe der eingeworbenen Forschungsgelder wird in der Bewertung berücksichtigt. Doch das sind alles nur indirekte Anhaltspunkte, die nur wenig mit der Qualität der Wissenschaft oder deren gesellschaftlicher Relevanz zu tun haben.

Die Folge des bestehenden Bewertungssystems ist: Es wird zu viel publiziert. Allein im Bereich der Medizin erschienenen im Jahr 2017 fast 1,3 Millionen Forschungsaufsätze. Untersuchungen belegen, dass mehr als 90 Prozent der gesamten Literatur gar nicht gelesen wird. Trotzdem werden etwa die Hälfte mindestens einmal zitiert, häufig also ungelesen.

Kommissionen, die etwa über die Habilitation von Forschern entscheiden sollen, können all diese vielen Publikationen gar nicht mehr überprüfen. Den Inhalt und die Qualität einer Forschungsarbeit zu bewerten, ob sie eine wichtige Frage untersuchte und methodisch gut durchgeführt wurde, dafür hat kaum noch jemand Zeit.

Nur positive Ergebnisse zählen

Studien werden im Wesentlichen danach beurteilt, ob sie ein positives Resultat haben, also nicht nur bereits Bekanntes bestätigen. Ob sie gut gemacht waren und ein verlässliches Ergebnis haben, spielt keine so große Rolle. Deshalb lesen wir auch jeden Tag in der Zeitung über die demnächst bevorstehende Heilung von Alzheimer, Krebs und so weiter, ohne dass diese Versprechen bisher eingelöst worden wären.

Forscher können Studien mit negativen oder unklarem Resultat nur schwer in den vielgelesenen und renommierten Fachblättern platzieren. Auch hierin liegt die Verlockung des Angebots der unseriösen Verlage, denn diese veröffentlichen schließlich alles.

Zudem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass mehr als 80 Prozent aller biomedizinischen Forschungsergebnisse schlicht falsch sind. Viele Resultate – durchaus auch jene, die in besonders renommierten Zeitschriften erschienen – konnten andere Wissenschaftler in unabhängigen Experimenten nicht wiederholen. 

Ein Weckruf, um die Ursachen anzugehen 

Das Problem ist nicht beschränkt auf Berlin, es ist kein Skandal um "Scheinwissenschaft" an deutschen Universitäten, sondern sollte ein globaler Weckruf für die Wissenschaftsgemeinschaft sein. Es geht im Grunde gar nicht um Raubverlage, denn diese nutzen nur einen Fehler im System. Auch eine Stigmatisierung derer, welche ordentliche Studien bei Raubverlagen veröffentlicht haben, bringt niemanden weiter.

Zwar ist es wichtig, Forscher aufzuklären, wie Raubverlage zu erkennen und zu meiden sind. Auch dürfen Artikel in dubiosen Journalen nicht auf Lebensläufen in akademischen Verfahren auftauchen. Entscheidend ist aber, die Ursachen des Problems zu bekämpfen.

Das Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) hat hierfür bereits vor über einem Jahr eigens das "QUEST-Center für die Transformation der Biomedizinischen Forschung" geschaffen. Es soll die Wissenschaftler an Charité und Max-Delbrück-Centrum dabei unterstützen, qualitativ hochwertig zu forschen. Der Nachwuchs lernt hier etwa, wie robuste und reproduzierbare Forschung funktioniert.

Anreize für eine bessere Wissenschaft

Auch das akademische Anreiz- und Karrieresystem muss sich ändern. An der Charité werden deshalb seit kurzem Bewerber auf Professuren nach qualitativen, qualitätsorientierten Indikatoren befragt. Für die Karriere zählt also nicht mehr nur, wie innovativ die Forschung ist. Auch die wissenschaftliche Sorgfalt oder Transparenz spielt eine Rolle und ob die erarbeiteten Daten aus einer Studie auch anderen Wissenschaftler zugänglich gemacht werden oder ob Patienten in die Planung klinischer Studien einbezogen werden.

Wissenschaftler des BIG bekommen etwa ein Preisgeld in Form eines kleinen Zuschusses zum Forschungsetat, wenn sie auch „negative“ Forschungsergebnisse publizieren – etwa dass eine Behandlung oder ein Diagnoseverfahren nicht funktioniert. Ähnliche Anreize gibt es für Forscher, die Studien anderer Arbeitsgruppen wiederholen und dadurch neue Erkenntnisse validieren.

Berlin hat eine lange Geschichte als Vorreiter in der Gesundheitsforschung. Die Stadt kann diese Rolle leicht verteidigen. Außerdem kann sie sich der weltweiten Bewegung, die biomedizinische Forschung besser und nützlicher machen will, anschließen und sie gestalten. Damit stärkt sie auch das Vertrauen in diesen wichtigen Wissenschaftsbereich.

Ulrich Dirnagl ist Neurologe, Direktor der Experimentellen Neurologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin und Gründer des Quest-Center am BIG


Nota. - Wissenschaft ist öffentliches Wissen. Wissenschaft entsteht dadurch, dass alle Wissenschaftler einander eifersüchtig belauern und nur das gelten lassen, was ihrer aller Kritik standgehalten hat. Wirklich alle waren es natürlich nie, doch dass Einsicht und Prüfung allen möglich ist, kann vorläufig reichen. Irrtümer, die durchgerutscht sind, werden mit der Zeit eliminiert.

So war es früher.

Die Klage über unseriöse und irreführende Wissenschaftsjournale wird von Jahr zu Jahr lauter, aber es ändert sich nichts. Der Zerfall der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wäre das Ende der Wissenschaften. Ist eine noch größere Gefahr denkbar?
JE





Samstag, 14. Juli 2018

Deine Sprache lenkt deine Wahrnehmung.

aus Die Presse, Wien, 13. 7. 18 -                                                                                                          Die Katze sitzt „auf“ dem Tisch und die Nüsse sind „im“ Korb. Oder? Die deutsche Sprache sensibilisiert auf ganz andere visuelle Informationen als etwa das Koreanische
.
Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!
Psycholinguistik. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universität Wien hat herausgefunden, wie sehr unterschiedliche Erstsprachen nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch unsere Erinnerung mitprägen können.

Es ist eine alte wissenschaftliche Streitfrage, ob die Sprache und ihre Grammatik auch Auswirkungen auf unseren Blick auf die Welt haben. Die Psycholinguistin Soonja Choi erforscht gemeinsam mit dem Kognitionspsychologen Ulrich Ansorge an der Uni Wien, inwiefern unsere Erstsprache unser Denken, unsere Wahrnehmung und unsere Erinnerung beeinflusst.

Dazu haben sie komplexe Experimente entwickelt und mit Probanden in Korea und Österreich durchgeführt. „Das Koreanische ist sehr unterschiedlich zu Sprachen wie Deutsch oder Englisch“, erklärt Choi. „Deshalb bietet es sich an, die Spezifika der Sprachen anhand ihrer grammatikalischen Unterschiede und Besonderheiten herauszuarbeiten.“

Deutsch trifft Koreanisch

Der Blick der Sprachforscher gilt dabei sprachspezifischen semantischen, also bedeutungsgebenden, Informationen. Beispiele dafür sind die Anordnung von Satzteilen oder die Möglichkeit, mit dem Verb verschiedene Zeitformen auszudrücken. Für ihre Versuche haben sie sich auf zwei markante Unterschiede der beiden Sprachen konzentriert: nämlich darauf, wie Vorfälle oder Geschichten erzählt und Relationen zwischen Objekten ausgedrückt werden. Die gebürtige Koreanerin Choi bringt auch ihre Expertise zum kindlichen Erstspracherwerb ein: „Wie wir Ereignisse nacherzählen und wie wir Objekte im Raum zueinander in Beziehung setzen, lernen Kinder in beiden Sprachen sehr früh, mit zwei, drei beziehungsweise mit drei, dreieinhalb Jahren.“

Sprache ist für sie untrennbar mit dem Menschsein verbunden: „Sie ist unser Hauptcharakteristikum. Daran erkennen wir, wer wir sind, was wir denken und wie wir uns Dingen annähern.“ Im Fall von Objekten passiert diese Annäherung nicht in jeder Sprache gleich: Während das Deutsche die Position von Objekten je nach Geometrie des Referenzobjektes ausdrückt, also ein Apfel liegt „in“ der Schale, „auf“ dem Tisch oder „unter“ dem Baum, gibt es im Koreanischen diese Möglichkeit nicht. Stattdessen lenkt die asiatische Sprache, die von mehr als 78 Millionen Menschen gesprochen wird, durch die grammatikalischen Möglichkeiten die Aufmerksamkeit darauf, ob zwei Objekte lose – wie ein Apfel in einer Schale – oder eng – wie ein Ring auf einem Finger – miteinander verbunden sind.

Mit ihren Versuchen haben Choi und Ansorge nun gezeigt, dass dies in Zusammenhang damit zu stehen scheint, für welche visuellen Informationen von Situationen wir sensibilisiert sind – oder eben nicht.

Grammatik prägt Erinnerung

Trotz aller Unterschiede, die sich in den Experimenten herauskristallisiert haben, will Choi ihre Arbeit jedoch nicht missverstanden wissen. „Alle menschlichen Sprecher haben dieselbe Grundlage, was unsere Wahrnehmung anbelangt“, betont die Linguistin. „Das heißt, die Sprachen sind nicht so verschieden, dass wir nicht miteinander kommunizieren können. Aber wir schauen offenbar doch unterschiedlich auf die Welt.“

Auch der zweite Test, der sich mit dem Nacherzählen und Erinnern von Ereignissen beschäftigte, zeigte deutliche Unterschiede zwischen den koreanischen und den österreichischen Versuchsteilnehmern. Ausgangspunkt waren die grammatikalischen Möglichkeiten, beim Erzählen von Sachverhalten auszudrücken, woher die Information stammt. Im Deutschen bleibt uns nichts anderes übrig, als dies über einen Umweg mit einem „Ich habe gehört, dass“ oder „Ich habe gesehen, dass“ zu formulieren. Das Koreanische kennt dafür, wie das Türkische übrigens auch, eine eigene Satzendung, die zwingend angehängt werden muss.

Choi und Ansorge wollten herausfinden, wie diese Tatsache sich auf die Erinnerung auswirkt. Dazu zeigten sie den Testpersonen 32 Youtube-Videos von verschiedenen Ereignissen oder Menschen wie Reportern, die davon berichteten. Die Probanden mussten das Gesehene und Gehörte nacherzählen und wurden einige Zeit später noch einmal zur Informationsquelle befragt – also dazu, ob sie ein Ereignis lediglich vom Hörensagen kennen oder selbst gesehen hatten.

Es zeigte sich, dass die Koreaner dies viel akkurater als die Österreicher angeben konnten. Choi: „Die Ergebnisse dieses Versuchs legen nahe, dass explizite linguistische Markierungen der Informationsquelle Auswirkungen darauf haben, wie genau wir uns daran erinnern.“

Zweierlei Zeugenaussagen

„Wir stehen noch am Anfang, aber, ja, unsere Tests zeigen, dass die Sprache, die wir sprechen, weitreichende Auswirkungen darauf haben kann, wie wir die Welt wahrnehmen und das Wahrgenommene kategorisieren, aber auch darauf, wie wir uns an unsere Erfahrungen erinnern“, so Choi. Welche Konsequenzen haben diese Erkenntnisse nun für die Praxis? Werfen sie nicht etwa ein anderes Licht auf Zeugenaussagen bei polizeilichen Einvernahmen? Mit Spekulationen, was ihre Forschungsergebnisse für Gerichtsprozesse bedeuten könnten, will sich Choi nicht aufhalten: „Um ernsthaft darüber nachdenken zu können, bräuchte es viel mehr Experimente und Wissen dazu“, sagt sie, räumt aber ein: „Aber natürlich drängen sich diese Gedanken auf.“ [Privat]

 

LEXIKON

Die Psycholinguistik ist ein relativ jungesTeilgebiet der Sprachwissenschaft (Linguistik) und integriert Aspekte der Psychologie. Im Mittelpunkt steht die Erforschung des menschlichen Spracherwerbs, die Repräsentation von Sprache im Gehirn sowie die kognitiven (mentalen) Mechanismen, die es uns ermöglichen, Sprache zu verwenden und zu verstehen.

Freitag, 13. Juli 2018

Die Glückssträhne der Kreativen.

 aus derStandard.at, 12. Juli 2018, 07:00

Zufall bestimmt, wann Künstler oder Wissenschafter "einen Lauf" haben
Forscher untersuchten die Biografien tausender Kreativer auf etwaige Muster

Wien/Evanston – "Wer hat, dem wird gegeben": In diesem Sprichwort lässt sich das aus der Soziologie kommende Konzept des "Matthäus-Effekts" zusammenfassen. Diese These geht davon aus, dass Erfolge in der Vergangenheit eine maßgebliche Rolle für weiteren Erfolg in der Gegenwart spielen. Der Ablauf: Die ursprüngliche Leistung hat die Aufmerksamkeit auf den Erfolgreichen steigen lassen, er erhält mehr Ressourcen – und diese machen es ihm leichter, weitere Leistungen zu erbringen.

Daraus können sich theoretisch ganze Erfolgssträhnen ergeben. Ein Hitproduzent in der Musikbranche würde mit erhöhter Wahrscheinlichkeit erneut die Charts stürmen. Und ein erfolgreicher Wissenschafter fände zu steigender Anerkennung, die sich auch in Preis- und Fördergeldern niederschlagen kann.

Das Sample

Ein Forscherteam, dem auch die italienische Komplexitätsforscherin Roberta Sinatra angehörte, die unter anderem am Complexity Science Hub (CSH) Vienna arbeitet, ging dem Phänomen nach und überprüfte es anhand biografischer Daten über 3.480 Künstler, 6.233 Filmregisseure und 20.040 Wissenschafter. Als Anzeichen für einen Erfolgsstatus wurden bei Künstlern die erzielten Preise für ihre Werke herangezogen, für Regisseure die Bewertungen auf der International Movie Database und für Wissenschafter die Zitierungen ihrer Publikationen zehn Jahre nach deren Veröffentlichung.

Es zeigte sich, dass die Mehrzahl der Untersuchten tatsächlich einmal einen Lauf hatte: 91 Prozent der Künstler, 82 Prozent der Filmemacher und 90 Prozent der Wissenschafter. Das Phänomen scheint also weit verbreitet zu sein – doch spricht ein genauerer Blick gegen den Matthäus-Effekt.

Zufallsverteilung

Der Matthäus-Effekt müsste tendenziell dazu führen, dass sich das Auftreten von Erfolgssträhnen in der Mitte der Karriere häuft, schreiben die Wissenschafter um Dashun Wang von der Northwestern University (USA) in ihrer Arbeit. Das konnte jedoch nicht festgestellt werden. Vielmehr stießen die Forscher auf eine Zufallsverteilung.

Beim Blick auf die drei einflussreichsten Arbeiten im Gesamtwerk der untersuchten Personen wurde klar, dass diese nach keinem fixen Schema in der Biografie der Künstler, Regisseure oder Wissenschafter auftreten. Das Ergebnis würde also eher zur Random-Impact-These passen, derzufolge herausragende Werke zufällig im Laufe einer Karriere entstehen und ihr Auftreten vor allem in Zeiten großer Produktivität wahrscheinlicher wird.

Und Erfolg, der sich über die Zeit kontinuierlich anhäuft, konnte auch nicht gefunden werden. Die Erfolgssträhnen, in denen die Arbeiten der Untersuchten durchschnittlich besser bewertet werden, sind zeitlich begrenzt: Der Analyse zufolge erstrecken sie sich bei Künstlern im Schnitt über 5,7 Jahre, bei Regisseuren über 5,2 Jahre und bei Wissenschaftern nur über 3,7 Jahre.

Eine erhöhte Produktivität während dieser Phasen konnte allerdings auch nicht festgestellt werden. Die Forscher sprechen von einer "inneren Verschiebung der individuellen Kreativität" während eines Laufs. Kreativität lässt sich also weiterhin weder berechnen – noch dauerhaft festhalten. (red, APA,) 

Abstract
Nature: "Hot streaks in artistic, cultural, and scientific careers"



Mittwoch, 11. Juli 2018

Jedes Gehirn ist einzigartig.

Schweizerischer Depeschendienst, 10.7.2018



Jedes Gehirn ist einzigartig – fast wie ein Fingerabdruck
Dass Erfahrungen im Gehirn Spuren hinterlassen, ist schon lange bekannt. So weisen Profimusiker oder Schachspielerinnen Besonderheiten in den Hirngebieten auf, die sie für ihre Tätigkeit besonders stark beanspruchen.

Doch auch kürzere Ereignisse können sich in der Hirnanatomie niederschlagen. Wird beispielsweise der rechte Arm für zwei Wochen ruhiggestellt, reduziert sich die Dicke der Hirnrinde in den Gebieten, die für die Kontrolle des immobilisierten Armes zuständig sind.


Die Forschungsgruppe um Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, ging nun der Frage nach, ob man anhand bestimmter anatomischer Merkmale des Gehirns auf die Person schliessen kann, der das Organ gehört. «Wir vermuteten, dass solche Erfahrungen, die sich aufs Hirn auswirken, mit genetischen Veranlagungen interagieren und sich so im Laufe der Jahre bei jeder Person eine ganz individuelle Hirnanatomie entwickelt», wird Jäncke in einer Mitteilung der Universität Zürich zitiert.

Um ihre Vermutung zu überprüfen, untersuchten die Forschenden die Gehirne von 191 gesunden älteren Personen. Dafür unterzogen sich diese dreimal während eines Zeitraums von zwei Jahren einer Magnetresonanztomografie. Berechnet wurden 450 neuroanatomische Merkmale, darunter auch sehr allgemeine wie das Gesamtvolumen des Gehirns, die Dicke der Hirnrinde oder das Volumen der grauen und weissen Substanz.

Für jede Person konnten die Wissenschafter schliesslich eine individuelle Kombination von neuroanatomischen Kennwerten ausmachen. Die Identifikationsgenauigkeit lag selbst bei den sehr allgemeinen neuroanatomischen Kennwerten bei über 90 Prozent, wie die Forscher im Wissenschaftsjournal «Scientific Reports» berichteten.

«Mit unserer Studie konnten wir bestätigen, dass das Gehirn des Menschen sehr individuell aufgebaut ist», sagte Jäncke. So beeinflusse die Kombination von genetischen und nichtgenetischen Einflüssen offenbar nicht nur die Funktionsweise des Gehirns, sondern auch dessen Anatomie.

In den Studienresultaten spiegelt sich für Jäncke nicht zuletzt die grosse Entwicklung in seinem Fachgebiet: «Noch vor dreissig Jahren ging man davon aus, dass das menschliche Gehirn bloss wenige oder gar keine individuellen Merkmale aufweist», erklärt der Neuropsychologe. Doch die Magnetresonanztomografie und die Software zur Auswertung digitalisierter Hirnscans haben sich inzwischen stark verbessert.


Nota. - Wird jemals ein Mensch (oder eine Maschine) eines Andern Gedanken lesen können? Es bedürfte einer Maschine, die die mit Bild-gebenden Verfahren gewonnenen Informationen aus dem analogen Modus in den digitalen übersetzen könnte - denn anders ist Bedeutung nicht darzustellen. Das setzte voraus, dass Bedeutungen Objektiva wären, denen irgendwann willkürliche Zeichen objektiv zugeordnet werden könn- ten. Das sind sie schlechterdins nicht.

Man könnte allenfalls - und das ist in Ansätzen geschehen - herausfinden, welche (vernommenen) Bedeu- tungen ein Individuum regelmäßig in welche Bilder umzusetzen pflegt. Dann ließen sich die Bilder in Be- deutungen rückübersetzen - für dieses Individuum und für jede Bedeutung extra. Gäbe es ein Standard- hirn, das wir im großen Ganzen alle miteinander teilen - wie eine Leber oder eine Niere -, ließe sich theo- retisch eine Standardliste erstellen - die allerdings nur ungefähr gelten könnte. Das bedeutet praktisch, dass sie nicht gelten würde; denn bei Bedeutungen kommt es auf Feinheiten an. Mehr als eine Feinheit ist aber, ob eine beobachtete Bild-Bedeutung im Frage- oder gar Verneinungsmodus gemeint ist - die schechtedings auf analoge Weise gar nicht wiedergegeben werden können.



Diese Überlegungen werden hinfällig, wenn das Gehirn eines jeden sich in seinem Aufbau von dem eines jeden andern unterscheidet. Dann ist eine Standardisierung von Bild-Bedeutungen ausgeschlossen. Man darf sich diese Horrorvision getrost aus dem Kopf schlagen.
JE


Dienstag, 10. Juli 2018

Bestimmen durch reduzieren.

18 Jahre her: Präsident Clinton und Genetiker Venter feiern „Buch des Lebens“.
aus DiePresse.com,

Wie viele Gene haben wir denn nun?
Eine neue Schätzung hat die so vage wie umstrittene Zahl nach oben korrigiert.

 

Im Frühjahr 2000 stieg unter Genetikern das Wettfieber an, die Sequenzierung des Humangenoms im Projekt „HUGO“ stand vor dem Abschluss, aber keiner wusste, wie viele Gene herauskommen würden. Deshalb ersann Ewan Birney (Hinxton) bei einer Tagung den „GeneSweep contest“, in dem die Zahl abgeschätzt werden konnte, er nahm am Abend in einer Bar die ersten Wetten an, spätere kamen via E-Mail, über tausend Forscher boten mit: Die Schätzungen reichten von 27.462 bis 312.000.

Dann kam der große Tag: Am 26. Juni versammelte US-Präsident Bill Clinton die Spitzen der Genetik um sich, kein Wort war ihm zu groß: „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben erschaffen hat. Dieses tief greifende Wissen wird der Menschheit ungeheure neue Heilkräfte bescheren und Diagnose und Therapie der meisten, wenn nicht aller Krankheiten revolutionieren.“

Über die Jahre wurden es weniger

Die Hoffnung trog, auch deshalb, weil man gar so viel von der Sprache des Lebens noch nicht gelernt hatte: Zum einen macht das, was wir Gene nennen, kaum mehr als ein Prozent des gesamten Genoms aus, und zum anderen war die offizielle Zahl der Gene reichlich vage: zwischen 20.000 und 30.000. Über die Jahre wurden es immer weniger, der letzte Stand – 18.894 – stammt vom März, er bezieht sich auf Gene, die Proteine „kodieren“, d. h. die Blaupause ihrer Information in RNA umschreiben (Transkription) und dann in die anderen Bausteine des Lebens umsetzen lassen (Translation), das ist die engste Definition. Lockerer kann man zu „Genen“ auch noch rechnen, was in RNA umgeschrieben, aber dann nicht übersetzt wird, das gibt es häufig, viele Gene regulieren so andere Gene, manche haben ihre Aktivität eingestellt, sind Pseudogene geworden.

Beide Gruppen hat nun Steven Salzberg (Johns Hopkins, Baltimore) gezählt, in höchst aufwendigen Analyseverfahren, gestützt auf Daten aus über dreißig Geweben von Hunderten Toten, die im Rahmen des Genotype-Tissue Expression (GTEx) project erhoben wurden: „Die neue Human-Gen-Datenbank umfasst 43.162 Gene, davon 21.306 kodierende und 21.856 nichtkodierende“ (BioRxiv 10.1101/332825).

Endgültig sind diese Zahlen nicht, Widerspruch kam rasch, etwa von Adam Frankish (Hinxton), er hat hundert der neuen kodierenden Gene durchgemustert (Nature, 556, S. 354): Nur eines kodierte wirklich.



aus derStandard.at, 22. Juni 2018, 18:38

Wie viele Gene hat der Mensch?
Bioinformatiker aus den USA liefern die neueste Schätzung: Es sind immer noch etwa 9.000 weniger als beim Wasserfloh

London/Wien – Es klingt erstaunlich und ist doch wahr: Die Genetik weiß rund 15 Jahre nach Ende des Humangenomprojekts immer noch nicht ganz genau, wie viele Gene ein Mensch besitzt. Klar ist nur, dass es weniger sind, als die führenden Experten noch um das Jahr 2000 herum vermuteten.
Damals legte der britische Genetiker Ewan Binney, heute Direktor des European Bioinformatics Institute, in einer Bar in Could Spring Harbour (US-Bundessstaat New York) ein Wettbuch auf, in dem Fachkollegen ihre Schätzungen der Zahl menschlicher Gene, die für Proteine codieren, eintragen konnten.
 
Wie sich Experten irren können

460 der führenden Genetiker trugen in den nächsten drei Jahren in dieses Buch ihre Schätzungen ein – und lagen zum Teil spektakulär falsch. Die Mutmaßungen, die in der Bar im US-Zentrum für Genomforschung abgegeben wurden, gingen von viel zu hohen Zahlen aus. Viele nannten Werte von über 100.000 Genen, Siegerin wurde die US-Genetikerin Lee Rowen, die mit 25.947 Genen auch deutlich darüber lag. Im Schnitt schätzten die Genetiker 40.000 codierende Gene.

In den letzten Jahren wurde immer klarer, dass diese Zahl nur bei der Hälfte, also bei etwa 20.000 liegt. Das ist einigermaßen ernüchternd, aber womöglich immer noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Kürzlich publizierte eine Gruppe um den Bioinformatiker Steven Salzberg (Johns Hopkins University) auf der Preprint-Plattform "BioRxiv" die neusten Zahlen.
 
Die neuen Zahlen aus Baltimore

Die Forscher fanden rund 5.000 weitere Gene, davon 1.200, die für Proteine codieren. Insgesamt kamen die Forscher damit auf 21.306 Protein-codierende Gene und 21,856 nichtcodierende Gene. Wie das Wissenschaftsmagazin "Nature" online berichtet, sind aber auch diese aktuellen Zahlen schon wieder umstritten. Einige der neuen Gene sind für Kollegen zumindest umstritten.
Eines steht allerdings fest: Die noch zu erwartenden Korrekturen werden aber gewiss nichts daran ändern, dass der Gemeine Wasserfloh mit rund 30.000 Genen fast 10.000 mehr hat als der Mensch. (tasch)


Originalpublikationen

 
Nota. -  Die nächstliegende Vorstellung von der Entwicklung eines einfachen Organismus zu einem komplexen ist das Bild vom Hinzufügen immer neuer Bestimmungen. Doch anscheinend muss man es sich - mindestens auch - als das Ausscheiden von Überflüssigem vorstellen.
JE



Montag, 9. Juli 2018

Zimbardo weiter in der Kritik.

Originalfoto
Das legendäre Stanford-Gefängnisexperiment des amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo steht dieser Tage wieder in der Kritik.

aus Süddeutsch.de, 9. 7. 2018

...Der Rummel um das Stanford-Prison-Experiment war von Beginn an groß. Zimbardo ließ die Presse teilhaben und veröffentlichte die ersten Ergebnisse nicht etwa in einem Fachjournal, sondern in The New York Times Magazine. Als es in US-Gefängnissen in San Quentin und Attica reale blutige Revolten gab, bei denen zahlreiche Häftlinge erschossen wurden, war Zimbardo ein gefragter Gast im Fernsehen, um die Tragödien zu deuten. Später wurden zahlreiche Filme über das Stanford-Prison-Experiment gedreht. Es diente als Blaupause, um die Folter von Häftlingen im irakischen Abu Ghraib Gefängnis durch US-Militärangehörige zu deuten oder gar den Holocaust zu analysieren. Bis heute findet sich das Stanford-Prison-Experiment in fast allen Psychologie-Lehrbüchern. 

Von Beginn an wurde Zimbardo aber auch für den Versuch und seine Schlussfolgerungen kritisiert. Der Psychologe Leon Festinger, der das Konzept der kognitiven Dissonanz entwickelt hat, meinte, es habe sich nicht um ein Experiment, sondern um ein "Happening" gehandelt. Die Psychologen Alexander Haslam und Stephen Reicher scheiterten 2001 mit einer Replikation des Versuches: In dieser Version waren die Wächter passiv und schüchtern, während sich die Häftlinge rasch Erleichterungen und Privilegien verschafften. Auch Personen, die an den Vorgängen 1971 in Stanford beteiligt gewesen waren, meldeten sich über die Jahre zu Wort und behaupteten sinngemäß, das Ganze sei eher eine Art zielgerichtetes Impro-Theater gewesen.

In diese Kerbe schlagen auch der französische Autor Thibault Le Texier, der gerade ein Buch mit dem Titel "Histoire d'un Mensonge" (Geschichte einer Lüge) veröffentlicht hat und der Journalist Ben Blum, der Anfang Juni im Digitalmagazin Medium einen ausführlichen Text über die vielen Fragen und Ungereimtheiten rund um das Gefängnis-Experiment publiziert hat. Der Kern der Vorwürfe ergibt sich aus Tonaufnahmen, die während des Experiments 1971 aufgenommen wurden und die auf der Homepage der Stanford University zugänglich sind. Darin ist einer der Experimentatoren zu hören, wie er offenbar einen der Wächter zu mehr Strenge und Härte gegen die Häftlinge ermahnt. Das widerspricht der offiziellen Lesart der Vorgänge, wonach die Demütigungen und sadistischen Exzesse sich von alleine sowie ohne Intervention der Psychologen entwickelt hätten. Offenbar stellte auch einer der Mitexperimentatoren drakonische Regeln auf, nach denen die Häftlinge im Keller von Stanford zu behandeln waren.

Einige der Teilnehmer erzählten Ben Blum und anderen Autoren zudem, sie hätten vor allem geschauspielert. Sein Nervenzusammenbruch sei ein einziger Fake gewesen, wird einer der Teilnehmer in dem Artikel im Medium zitiert. Einer der Ex-Wärter behauptet darin, er sei in eine Rolle geschlüpft. Dazu habe er sogar einen Südstaaten-Akzent aufgesetzt. Seine besondere Erbarmungslosigkeit gegenüber den Häftlingen habe er nur deshalb gezeigt, weil die Psychologen das offensichtlich von ihm erwartet hätten. Er habe so gehandelt, weil er der Wissenschaft helfen wollte, weil es um ein höheres Ziel gegangen sei.

Wollten die Teilnehmer die Erwartungen der Psychologen nicht enttäuschen?

Diese Lesart übernehmen auch Psychologen um Haslam und Reicher, die die Tonaufnahmen ausgewertet haben und ihre Ergebnisse in einer Vorabveröffentlichung zusammenfassen. Auch ihr Fazit ist: Das Verhalten der Teilnehmer sei vor allem davon angetrieben worden, dass die Probanden im Glauben an ein höheres Ziel handelten und die Erwartungen der Psychologen nicht enttäuschen wollten; und davon, dass die Experimentatoren klar die gewünschte Richtung vorgaben. Allerdings sagten die Forscher auch, dass es überzogen sei, ausschließlich damit die Brutalität der Wärter zu erklären. Dass es nur die Umstände und das Machtgefälle gewesen seien, wie Zimbardo reklamierte, scheint jedoch auch sehr, sehr gewagt zu sein.

Zimbardo verteidigt seine Arbeit im Netz mit dem Hinweis, das Experiment haben gezeigt, "was jedem von uns passieren könnte, wenn er die Macht sozialer Rollen und von externem Druck auf seine Handlungen unterschätzt". In einem offenen Brief plädieren nun 119 Wissenschaftler dafür, die vorliegende Evidenz nüchtern auszuwerten und zu analysieren - und dabei auf persönliche Angriffe gegen Kollegen zu verzichten. Sie warnen aber auch davor, allzu hemmende Ehrfurcht vor großen Namen zu haben, auf deren Konto ein gewichtiger Klassiker der Psychologie geht. Denn auch große Figuren können große Fehler machen.

Mittwoch, 4. Juli 2018

Hirnforschung: Spezialisieren und Verallgemeinern.


Der Berliner Tagesspiegel bringt heute ein Interwiew mit der Hirnforscherin Svenja Caspers vom 1000Brains-Projekt.

Daraus:

Frau Professor Caspers, was passiert im alternden Gehirn? 

Nervenzellen und ihre Verbindungen sterben. Dadurch nimmt die Hirnmasse ab. Das kann man im Mag- netresonanztomografen auch sehen. Manche Funktionen leiden im Alter aber mehr als andere. Zum Bei- spiel bleiben Sprachfähigkeit und Allgemeinwissen bis ins hohe Alter sehr stabil. Aufmerksamkeit, Ge- dächtnis, Sprachfähigkeiten [?] oder Orientierung bauen dagegen ab.
 
Weil bestimmte Regionen im Gehirn früher vom Altern betroffen sind?

Nicht ganz. Die höheren Funktionen des Gehirns entstehen nicht in einzelnen Arealen, sondern in verteilten Netzwerken. Diese erkennen wir im Scanner daran, dass die beteiligten Areale gleichzeitig aktiv werden. Wenn die Leistungsfähigkeit eines Netzwerks im Alter abnimmt, schaltet das Gehirn jedoch immer mehr Areale hinzu, die mit der Funktion vorher nichts zu tun hatten. So versucht es, den Verlust von Hirngewebe zu kompensieren. 

Leider beginnt dadurch die Aktivität der spezialisierten Netzwerke immer mehr zu überlappen. Die Netz- werke sind also weniger spezialisiert als vorher. So wird bei machen Aufgaben gleich das ganze Gehirn aktiviert. Das frisst Ressourcen und äußert sich darin, das ältere Menschen Aufgaben nicht mehr so zügig erledigen wie jüngere: die Einkaufsliste erstellen, entscheiden, wie man am schnellsten zum Supermarkt kommt, die Produkte dort finden, das alles kostet dann mehr Anstrengung.
 
Von den „1000Brains“-Daten haben Sie als Erstes die Hirnaktivität analysiert, die ihre Probanden hatten, während sie still im Scanner lagen. Warum?

Alle Netzwerke des Gehirns werden auch im Ruhezustand aktiv. Das Gehirn bereitet sich so stets auf eine mögliche nächste Handlung vor – wie ein Tennis-Spieler, der hüpfend auf den Aufschlag seines Gegners wartet. Liegt man mit geschlossenen Augen in einem Hirnscanner, dann leuchtet mal das Arbeitsgedächt- nis-, mal das Aufmerksamkeits-Netzwerk auf. In einer der ersten Analysen haben wir uns die Aktivierung eines besonderen Ruhenetzwerks angeschaut, des Default Mode Netzwerks. Es ist nur dann aktiv, wenn alle aufgabenbezogenen Netzwerke – also etwa die für Aufmerksamkeit oder für das Arbeitsgedächtnis – schweigen. 

Wir vermuten daher, dass es für innere Prozesse zuständig ist, etwa bei der Selbstreflexion, der Verarbei- tung von Erlebtem oder der Meditation. Im Ruhezustand ist das Default-Mode-Netzwerk also viel aktiver als die anderen. Wir haben beobachtet, dass das Netzwerk beim Altern seine Struktur verändert. Die hinte- ren Areale des Kortex verlieren mehr Hirnmasse als die weiter vorne. Das bestätigt eine Theorie, derzufol- ge die hinteren Hirnbereiche mit als Erstes altern. Eine Konsequenz davon scheint zu sein, dass das Netz- werk seine Aktivität nicht mehr so leicht einstellen kann. Für das Gehirn wird es dann schwieriger, auf Netzwerke für die aktive Lösung von Aufgaben umzuschalten.
 
Und was passiert in den aufgabenbezogenen Netzwerken?

Sie arbeiten umso stärker vernetzt, je älter die Probanden sind. Das bestätigt eine andere Theorie, derzufol- ge das Gehirn mit dem Alter nicht nur strukturell abbaut, sondern sich funktionell umorganisiert. Außer- dem sehen wir, dass die aufgabenbezogenen Netzwerke bei Probanden, die in neuropsychologischen Tests schlechter abschneiden, auch im Ruhezustand stärker aktiv sind. Das ergibt Sinn: Sind die Netzwerke immer überaktiv, hat man kaum noch Kapazitäten für aktive Aufgaben. Dieser Effekt war übrigens unabhängig vom Alter.


Nota. - Den 'Sitz des Ich' sollte man wohl vor alem im DEfault-Mode Netzwerk suchen. Ohne zu vergessen: Es ist nicht, sondern es ist aktiv; auch wenn du schläfst. 
JE