aus derStandard.at, 12. Juli 2018, 07:00
Zufall bestimmt, wann
Künstler oder Wissenschafter "einen Lauf" haben
Forscher untersuchten die Biografien tausender Kreativer auf etwaige
Muster
Wien/Evanston – "Wer hat, dem wird gegeben": In diesem Sprichwort lässt
sich das aus der Soziologie kommende Konzept des "Matthäus-Effekts"
zusammenfassen. Diese These geht davon aus, dass Erfolge in der
Vergangenheit eine maßgebliche Rolle für weiteren Erfolg in der
Gegenwart spielen. Der Ablauf: Die ursprüngliche Leistung hat die
Aufmerksamkeit auf den Erfolgreichen steigen lassen, er erhält mehr
Ressourcen – und diese machen es ihm leichter, weitere Leistungen zu
erbringen.
Daraus können sich theoretisch ganze Erfolgssträhnen ergeben. Ein
Hitproduzent in der Musikbranche würde mit erhöhter Wahrscheinlichkeit
erneut die Charts stürmen. Und ein erfolgreicher Wissenschafter fände zu
steigender Anerkennung, die sich auch in Preis- und Fördergeldern
niederschlagen kann.
Das Sample
Ein Forscherteam, dem auch die italienische Komplexitätsforscherin
Roberta Sinatra angehörte, die unter anderem am Complexity Science Hub
(CSH) Vienna arbeitet, ging dem Phänomen nach und überprüfte es anhand
biografischer Daten über 3.480 Künstler, 6.233 Filmregisseure und 20.040
Wissenschafter. Als Anzeichen für einen Erfolgsstatus wurden bei
Künstlern die erzielten Preise für ihre Werke herangezogen, für
Regisseure die Bewertungen auf der International Movie Database und für
Wissenschafter die Zitierungen ihrer Publikationen zehn Jahre nach deren
Veröffentlichung.
Es zeigte sich, dass die Mehrzahl der Untersuchten tatsächlich einmal
einen Lauf hatte: 91 Prozent der Künstler, 82 Prozent der Filmemacher
und 90 Prozent der Wissenschafter. Das Phänomen scheint also weit
verbreitet zu sein – doch spricht ein genauerer Blick gegen den
Matthäus-Effekt.
Zufallsverteilung
Der Matthäus-Effekt müsste tendenziell dazu führen, dass sich das
Auftreten von Erfolgssträhnen in der Mitte der Karriere häuft, schreiben
die Wissenschafter um Dashun Wang von der Northwestern University (USA)
in ihrer Arbeit. Das konnte jedoch nicht festgestellt werden. Vielmehr
stießen die Forscher auf eine Zufallsverteilung.
Beim Blick auf die drei einflussreichsten Arbeiten im Gesamtwerk der
untersuchten Personen wurde klar, dass diese nach keinem fixen Schema in
der Biografie der Künstler, Regisseure oder Wissenschafter auftreten.
Das Ergebnis würde also eher zur Random-Impact-These passen, derzufolge
herausragende Werke zufällig im Laufe einer Karriere entstehen und ihr
Auftreten vor allem in Zeiten großer Produktivität wahrscheinlicher
wird.
Und Erfolg, der sich über die Zeit kontinuierlich anhäuft, konnte auch
nicht gefunden werden. Die Erfolgssträhnen, in denen die Arbeiten der
Untersuchten durchschnittlich besser bewertet werden, sind zeitlich
begrenzt: Der Analyse zufolge erstrecken sie sich bei Künstlern im
Schnitt über 5,7 Jahre, bei Regisseuren über 5,2 Jahre und bei
Wissenschaftern nur über 3,7 Jahre.
Eine erhöhte Produktivität während dieser Phasen konnte allerdings auch
nicht festgestellt werden. Die Forscher sprechen von einer "inneren
Verschiebung der individuellen Kreativität" während eines Laufs.
Kreativität lässt sich also weiterhin weder berechnen – noch dauerhaft
festhalten. (red, APA,)
Abstract
Nature: "Hot streaks in artistic, cultural, and scientific careers"
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen